T. Großbölting u.a. (Hrsg.): Gedachte Stadt – Gebaute Stadt

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Titel
Gedachte Stadt – Gebaute Stadt. Urbanität in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz 1945–1990


Herausgeber
Großbölting, Thomas; Schmidt, Rüdiger
Reihe
Städteforschung. Reihe A: Darstellungen 94
Erschienen
Köln 2015: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
XXVI, 345 S., 65 SW-Abb.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Thießen, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Die „geteilte Geschichte“ hat in letzter Zeit wieder großes Interesse erregt. Nach früheren Debatten um Potentiale und Probleme des Vergleichs von Bundesrepublik und DDR stehen nun vermehrt deutsch-deutsche Verflechtungen und Wechselwirkungen im Fokus.1 Während zu dieser Perspektive auf nationaler Ebene mittlerweile mehrere Studien vorliegen, ist die regionale und städtische Dimension deutsch-deutscher Geschichte bislang eher selten in den Blick geraten. Der vorliegende Sammelband, herausgegeben von Thomas Großbölting und Rüdiger Schmidt, möchte das ändern. 13 Autorinnen und Autoren spüren dem Verhältnis beider deutscher Staaten anhand von städtischen Fallstudien nach und eröffnen damit neue Sichtweisen nicht nur auf die Stadtgeschichte im Speziellen, sondern ebenso auf die zeithistorische Forschung im Allgemeinen, wie es etwa Christoph Lorke in seinem Aufsatz formuliert: Stadtgeschichtliche Arbeiten können über ihren Untersuchungsgegenstand hinaus demnach Impulse geben, die „Raumgebundenheit sozialer und symbolischer Prozesse im geteilten Deutschland zu verorten“ (S. 297) – und zwar auch im eigentlichen Wortsinn.

Die vielen Stärken des Bandes hängen zum einen damit zusammen, dass Großbölting und Schmidt ihren Band eben nicht nur als Geschichte der „Systemkonkurrenz“ anlegen, wie der Untertitel es zunächst vermuten lässt. Vielmehr stellen die Herausgeber in ihrer Einleitung klar, dass das deutsch-deutsche Wechselspiel zwischen Konkurrenz und Abgrenzung, Kooperationen, Beobachtungs- und Aneignungsprozessen ein sehr viel komplexeres Beziehungsgeflecht hervorbrachte. Anregend ist auch ein ganz anderes Wechselspiel: die von Großbölting und Schmidt zum Leitmotiv erhobene „Wechselbeziehung zwischen ‚gebauter‘ und ‚gedachter‘ Stadt“ (S. XVII). Schließlich geht es auf diesem Spannungsfeld nicht „nur“ um Stadtplanung und deren Realisierung, sondern zugleich um die grundsätzliche Frage, wie Diskurse, Denkfiguren und Konzepte mit Materialitäten und alltäglichen Aneignungen im städtischen Raum zusammengedacht und von Historikern untersucht werden können (S. XIX). Auch in dieser Hinsicht gibt der Band über seinen stadtgeschichtlichen Fokus hinaus wichtige Impulse für die zeithistorische Forschung, die sich in den letzten Jahren einer Historisierung der Stadtsoziologie zugewandt und nach der Produktion und Rezeption wissenschaftlichen Wissens über die Stadt gefragt hat.2

Zum anderen bietet der Band in zeitlicher Hinsicht sehr viel mehr, als es der bescheidene Untertitel suggeriert. Erstens verfolgen mehrere Autoren die langen Wurzeln der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte bis zu den Anfängen des 20. Jahrhunderts zurück. „Autogerechte“ oder „aufgelockerte“ Städte waren ja nicht erst ein Produkt der planungsverliebten 1960er-Jahre. Vielmehr lenken die Autoren den Blick auf Kontinuitätslinien bis ins „Dritte Reich“, in die Weimarer Republik oder ins Kaiserreich. Zweitens ist für mehrere Autoren im Jahr 1990 noch lange nicht Schluss – im Gegenteil. Der Aufsatz von Harald Bodenschatz zum Thema „Berlin und die Überwindung der städtebaulichen Teilung“, Dominik Gepperts Studie zu Bonn und Berlin und zur Hauptstadtdiskussion, Beate Binders Beitrag zur „Refiguration Berlins nach 1990“ sowie Thomas S. Carharts Bestandsaufnahme über städtische Eigentumsverhältnisse in den neuen Bundesländern im 21. Jahrhundert ziehen den Untersuchungszeitraum bis in die unmittelbare Gegenwart. Insofern gibt der Band ebenso Anregungen für eine Historisierung der 1990er-Jahre bzw. für eine deutsch-deutsche Problemgeschichte, die keineswegs vergangen ist. Mit den Nachwirkungen west- und ostdeutscher Stadtplanungen werden wir schließlich auch in Zukunft noch viel zu tun haben.

Da an dieser Stelle nicht sämtliche Beiträge bedacht werden können, konzentriere ich mich auf einzelne Texte, mit denen die Schwerpunkt- und Zielsetzung des Bandes weitere Konturen gewinnt. Den gegenseitigen Bezugnahmen und Ähnlichkeiten zwischen Ost und West widmen sich unter anderem die Aufsätze von Thomas Großbölting und Rüdiger Schmidt sowie Christoph Lorkes vergleichender Beitrag zur Wahrnehmung von „Problemvierteln“ in Bundesrepublik und DDR. Dass beide deutsche Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg unter ähnlichen Altlasten litten oder – positiv gewendet – gemeinsame Startbedingungen vorfanden, ist zwar eine gängige Erklärung für deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten besonders in den 1950er- und 1960er-Jahren. Großbölting, Schmidt und Lorke gehen jedoch weit über diesen Befund hinaus und zeigen Parallelen auch für die späteren Jahrzehnte. Wohnprobleme waren nach der „Wirtschaftswunder“-Euphorie ja keineswegs gelöst, sodass beide Staaten für „prekäre Viertel“ (Lorke) oder „Großwohnsiedlungen“ auch später zu erstaunlich ähnlichen Lösungen fanden. Angesichts deutsch-deutscher Betonburgen beobachtet Rüdiger Schmidt daher zu Recht, dass die „Platte“ keineswegs eine ostdeutsche Spezialität war oder ist: „Wer aus Braunschweig, wer aus Hannover an die Mittelelbe kam, konnte sich seiner Überlegenheitsattitüde keineswegs sicher sein. So groß waren hier wie dort die Distanzen zum städtebaulich disparaten Magdeburg jedenfalls nicht, als dass der Besucher auf die Visualität der Stadt nicht mit der Sensibilität heimatlicher Gefühle hätte reagieren können.“ (S. 61)

Dass allen Gemeinsamkeiten zum Trotz die Wohnungspolitik und Stadtplanung zugleich eine Arena der Systemkonkurrenz eröffnete, in der um die bessere Gesellschaftsordnung gerungen wurde, machen Thomas Großböltings und Thomas Tippachs Analysen von Eigenheim-Konzepten in der Bundesrepublik deutlich. „Nur breite Streuung des Eigentums“, so war es in der Bundesrepublik seit den 1950er-Jahren zu lesen und zu hören, stärke „unsere innere Abwehrbereitschaft gegenüber der politischen Bedrohung durch die kollektiven Mächte des Ostens“ (Wohnungsbau-Minister Paul Lücke, CDU, 1960; zit. auf S. 38). Ebenso anregend sind Beiträge zur DDR wie der Aufsatz von Christoph Bernhardt, der Planung, Umsetzung und Aneignungen sozialistischen Städtebaus und damit zugleich die Aushandlung ostdeutscher Gesellschaftsmodelle untersucht. Nicht nur wegen des chronischen Ressourcenmangels, auch angesichts regional spezifischer Verteilungswege und „privater Aneignung gesellschaftlicher Ressourcen“ (S. 266) seien ostdeutsche Städte vielschichtiger und „eigensinniger“ gewesen, als die nationalen Planvorgaben es vermuten lassen. Für die DDR spricht Bernhardt daher in Bezug auf die Wohnungspolitik und in Anlehnung an den Soziologen und Historiker Jay Rowell gar „von einem – in begrenztem Umfang – ‚plural‘ organisierten Staat“ (ebd.). Gerade dieser Pluralismus in den Städten habe „letztlich die inneren Bindekräfte des Systems zeitweise“ noch gestärkt (ebd.).

Eine einzige kritische Anmerkung ergibt sich weniger aus dem Buch an sich, sondern aus dem Publikationsformat Sammelband: Angesichts vieler Berührungspunkte hätte man sich noch explizitere Bezüge zwischen einigen Aufsätzen gewünscht. Da die Einleitung neben ihrer hervorragenden konzeptuellen Hinführung auch einen konzisen Überblick zu allen Beiträgen liefert und hier entsprechende Einordnungen vornimmt, ist dieser Punkt allerdings eine Petitesse, die den Gesamteindruck nicht trübt. Für künftige Forschungen wirft der Band zudem Fragen zur Eingrenzung des Stadt-Begriffs bzw. zur Erweiterung des Untersuchungsfokus auf. „Stadt“ und „Urbanität“, auch das zeigt der Band eindrucksvoll, sind zum einen dynamische Begriffe, deren Deutung und Rezeption sich nach 1945 wandelten. Zum anderen sind „Städte“ relationale Konzepte, die sich auch im jeweiligen regionalen Umfeld erschließen. Umso interessanter wären daher weitere Forschungen über die Stadt-Land-Beziehungen3, in die das Denken, Planen und Bauen von Städten eingebettet war. Kurz gesagt ist der Band „Gedachte Stadt – Gebaute Stadt“ ein dreifach gelungenes Werk: erstens wegen der Perspektivenerweiterung für eine deutsch-deutsche Stadtgeschichte, zweitens wegen der konzeptuellen Impulse für eine Vermittlung von Diskursen und Materialitäten, drittens wegen der empirischen Einlösung dieser ambitionierten Ansätze in durchweg überzeugenden Einzelstudien.

Anmerkungen:
1 Vgl. zuletzt die konzeptuellen Überlegungen mit weiterführenden Literaturhinweisen und zahlreichen Fallstudien zu Konflikten und Verflechtungen auf nationaler Ebene bei Frank Bösch (Hrsg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015.
2 Vgl. u.a. Christiane Reinecke, Am Rande der Gesellschaft? Das Märkische Viertel – eine West-Berliner Großsiedlung und ihre Darstellung als urbane Problemzone, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 11 (2014), S. 212–234, <http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2014/id=5095> (02.11.2016); Ulrike Kändler, Entdeckung des Urbanen. Die Sozialforschungsstelle Dortmund und die soziologische Stadtforschung in Deutschland, 1930 bis 1960, Bielefeld 2016; rezensiert von Clemens Zimmermann, in: H-Soz-Kult, 15.04.2016, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22021> (02.11.2016).
3 Franz-Werner Kersting / Clemens Zimmermann (Hrsg.), Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert. Geschichts- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Paderborn 2015; rezensiert von Ralph Richter, in: H-Soz-Kult, 06.10.2015, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-23943> (02.11.2016).