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Titel
Deutsche Raumplanung. Das Modell der "Zentralen Orte" zwischen NS-Staat und Bundesrepublik


Autor(en)
Kegler, Karl R.
Erschienen
Paderborn 2015: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
644 S., 69 SW- und 12 Farb-Abb., 5 Tabellen
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Koenig, Limburg an der Lahn

„Diese Studie beschreibt die Geschichte eines wissenschaftlichen Modells, das über Jahrzehnte mit dem Anspruch auf strenge theoretische Gültigkeit aufgetreten ist, ohne diesen Status jemals zu besitzen.“ (S. 11) Karl R. Keglers erster Satz zeigt bereits klar, wohin die Reise in seinem über 600 Seiten starken Werk geht. Explizit stellt der Autor noch auf derselben Seite fest, dass der Begründer des Modells der „Zentralen Orte“, der deutsche Geograph Walter Christaller (1893–1969), die falschen Schlüsse aus seinen Untersuchungen gezogen habe. „Christallers Modell der zentralen Orte ist weder eine in sich geschlossene wissenschaftliche Theorie noch eine empirisch saubere Interpretation der süddeutschen Siedlungsstruktur um 1930.“ (S. 81)1 Einzelne Bestandteile seines Modells – das den Anspruch hatte, für eine optimale Verteilung von Orten unterschiedlicher Größe und damit auch von Menschen im Siedlungsraum zu sorgen – seien zwar plausibel, doch würden sie kein einheitliches Gesamtbild abgeben. Diese Aussage sei für seine Untersuchung von Christallers Modell grundlegend, betont Kegler, um zugleich die wissenschaftshistorische und nach dem Gesagten auch wesentlich spannendere Frage zu stellen, wie es denn zu erklären sei, dass das Modell, trotz seiner gravierenden Defizite, in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen zu einem weithin akzeptierten Instrument in Wissenschaft und Planungspraxis werden konnte. Ein Grund des Erfolgs sei darin zu sehen, dass das Modell mit dem Versprechen verbunden war, „die Herausforderungen einer krisenhaft erlebten Moderne durch rationale Planung […] in überlegener Weise bewältigen zu können“ (S. 477) – der Erfolg beruhte also streng genommen auf außerwissenschaftlichen, offenbar auch psychologischen Faktoren.

Keglers Werk basiert auf seiner 2011 an der Technischen Hochschule Aachen abgeschlossenen Dissertation. Als Quellengrundlage seiner Arbeit nennt der Autor „wissenschaftliche und programmatische Dokumente aus Raumplanung und Raumforschung zwischen 1930 und 1970“ (S. 46). Dazu zählen unter anderem Zeitschriftenveröffentlichungen, Monographien, Überlieferungen von Planungs- und Forschungsinstitutionen sowie Nachlässe einzelner Raumforscher. Neben Textquellen wurden auch Visualisierungen, Pläne, Karten und Schaubilder ausgewertet. Die Bestimmung von Zielen sei ein unerlässlicher Bestandteil von Planungsprozessen, deshalb machten auch programmatische Positionen, Gutachten und Empfehlungen ein Großteil der untersuchten Dokumente aus, betont Kegler. Diese hätten allerdings verschiedene Funktionen gehabt – nicht zuletzt, „politische Entscheidungsträger für bestimmte Ziele […] und Verfahren zu gewinnen“ (S. 46).

Neben der Untersuchung des Modells anhand einer kritischen Textanalyse achtet der Autor daher sehr stark auf die Einordnung in den zeithistorischen Kontext vor und nach 1945. Aus dem historischen Kontext heraus erklärt sich auch der Einfluss, welchen das Zentrale-Orte-Modell im Laufe der Zeit entwickeln konnte – besonders bei der Gebietsreform der 1960er- und 1970er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Allerdings lässt Kegler diesen Zeitraum in seiner Untersuchung weitgehend außen vor.2 Immerhin offeriert er für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg folgenden Erklärungsansatz: „Das Zentrale-Orte-Modell erwies sich als strategischer Baustein im Bemühen von Planungsexperten, Raumplanung im Wettbewerb mit anderen wissenschaftlichen Institutionen […] auf föderaler und bundesstaatlicher Ebene erfolgreich zu verankern.“ (S. 29) Die von Verwaltung und Gesetzgebung noch heute praktizierte Einteilung von Kommunen in Unter-, Mittel- und Oberzentren basiert auf dieser Theorie – schon deshalb erscheint eine historiographische Herleitung und Einordnung geboten.

Viel Platz – mehr als 150 Seiten – räumt Kegler den Kapiteln über die Rezeption von Christallers Leitbildern und über die darauf gestützte Raumplanungspraxis im NS-Staat ein. Mehrfach passte Christaller seine Konzeption aktuellen (politischen) Vorgaben an: „Die Geschichte des Christaller-Modells in der NS-Zeit ist […] sehr viel eher Beispiel für eine opportunistische als für eine objektive Wissenschaftlichkeit“ (S. 37), so ein Fazit. Für Leser, die das Zentrale-Orte-Modell im Wesentlichen nur aus den Fachabhandlungen der bundesrepublikanischen Verwaltungsreform kennen, wo es technokratisch und eher unideologisch erscheint, stellt dieser Teil Neuland dar. Denn in der Rezeption der 1960er- und 1970er-Jahre spielte die NS-Vergangenheit von Christallers Modell keine wahrnehmbare Rolle. Eingangs stellt Kegler in diesem Abschnitt fest, dass es eine „genuin nationalsozialistische Raumwissenschaft“ (S. 139) nicht gab. Vielmehr wurden bestimmende Schlagworte – wie Dezentralisierung, Selbstversorgung und Rationalisierung – bereits in der Spätphase der Weimarer Republik diskutiert. Eine „wesentliche Bedeutung für die Raumplanung in den besetzten Gebieten“ (S. 297) gewann das Zentrale-Orte-Modell nach dem deutschen Einmarsch in Polen. Dabei blieb es nicht als abstraktes Leitbild im Hintergrund, sondern fand seinen Weg in allgemeine Anordnungen Himmlers für den Siedlungsaufbau im Osten (etwa im Generalgouvernement), in Raumordnungspläne und Musterplanungen für Dörfer. Kegler widerspricht ausdrücklich der Annahme, dass die zentralörtlichen Leitbilder der NS-Raumplanung nur deduktive Ableitungen eines an sich wertfreien Theoriemodells dargestellt hätten. Vielmehr sei die von den NS-Planern angewendete Weiterentwicklung von Christallers Ideen ein „vollkommen anderes Modell“ gewesen (S. 304), welches in „NS-spezifischen Wunschbildern“ begründet sei. Christaller selbst habe schon kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme sein Modell als „Grundlage einer Reichs- und Verwaltungsreform“ (S. 307) propagiert und der herrschenden Ideologie angepasst. Kegler sieht Christaller daher keineswegs als oppositionellen Experten, der in der SS-Bürokratie Unterschlupf gefunden hatte, wie es in der Nachkriegszeit dargestellt wurde.

„Die deutsche Niederlage [von 1945] bedeutete für die akademischen Eliten in Raumforschung und Geographie keinen Anlass, das eigene Handeln und die bereitwillige Mobilisierung für den nationalsozialistischen Staat in Frage zu stellen.“ (S. 311) So fasst der Autor die Reaktion der Zunft auf das Kriegsende zusammen und leitet damit zur bundesdeutschen Rezeption über. Allerdings bedeutete der Zusammenbruch des NS-Staates zunächst das „Ende der überregionalen Raumplanung in Deutschland“ (S. 318). Grundvoraussetzung für eine Wiederbelebung des Zentrale-Orte-Modells war – nach „Freispruch und Selbstreinigung in Nürnberg“ (S. 325) – daher die Wiedereinführung einer institutionalisierten Raumforschung. Kegler charakterisiert diese so: „Wie in der Zeitstufe um 1930 ist Raumforschung nach 1945 keine einheitliche Wissenschaft, sondern durch verschiedene disziplinäre Traditionen und Interessen bestimmt.“ (S. 329) Die erneuerte Verankerung des Modells dauerte bis zum Ende der 1960er-Jahre, also dem Beginn der großen westdeutschen Gebietsreformen. Einen Schritt in diese Richtung bildete die zwischenzeitlich einsetzende internationale Rezeption. Sie war mit einer „Immunisierung […] gegen verschiedene Formen der Kritik verbunden“ (S. 381). Es lag offenbar auch an dieser „normalisierenden“ Rezeption, dass das Modell im Zeitabschnitt von 1949 bis 1969 „zum unbestrittenen Inventar der Stadt- und Regionalforschung“ (S. 390) aufsteigen konnte. Dieser Phase widmet der Autor einen Hauptteil, der fast so ausführlich ist wie die Kapitel zu den Jahren 1933 bis 1945. Statt „Ordnung“ sei das vorherrschende Paradigma der Raumplanung nach 1945/49 nun „Ausgleich“ gewesen – freilich mit diversen Kontinuitäten.

Karl Kegler hat sein Werk mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat (knapp 100 Seiten) sowie einem breiten Literaturverzeichnis versehen. Dank des für den ersten Hauptteil des Buches gewählten Ansatzes, der Textexegese mit den im Veröffentlichungsjahr des Buches „Die zentralen Orte in Süddeutschland“ (1933) bereits verfügbaren Mitteln, stehen und fallen die Aussagen mit der Stichhaltigkeit seiner Textkritik an Christallers Modell. Dabei verdeutlicht Kegler nachvollziehbar, dass Christaller aus seinen Beobachtungen zum Phänomen der Zentralität schlicht falsche Schlussfolgerungen gezogen hat. So bestehe seine Theorie „aus einem Konglomerat einzelner Plausibilitätsüberlegungen, die aber nicht zu einer Einheit zusammentreten“ (S. 486; dort auch die folgenden Zitate). Sie enthalte außerdem verschiedene Denkfehler und Widersprüche. So könne sich das Zentrale-Orte-Modell nicht auf eine „fundierte theoretische Basis“ berufen. „Der Erfolg des Zentrale-Orte-Modells ist mit einem Denken verbunden, das durch Klassifikation und Typisierung Normalität, und aus Normalität Normativität zu erzeugen suchte.“ Dies erklärt auch, warum das Modell vor und nach 1945 relevant blieb. Hinzu kam, dass Christaller sein Modell offenbar immer wieder an die politische Großwetterlage anpasste.

Anmerkungen:
1 Dies bezieht sich auf Christallers Hauptwerk: Die zentralen Orte in Süddeutschland. Eine ökonomisch-geographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischen Funktionen, Diss. Erlangen-Nürnberg 1932; Buchausgabe: Jena 1933; unverändert nachgedruckt: Darmstadt 1968 / 1980 / 2006.
2 Es empfiehlt sich, folgenden ungefähr gleichzeitig erschienenen Sammelband, der zeitlich etwas weiter reicht, parallel zu Keglers Buch zu lesen: Wendelin Strubelt / Detlef Briesen (Hrsg.), Raumplanung nach 1945. Kontinuitäten und Neuanfänge in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 2015; rezensiert von Harald Engler, in: H-Soz-Kult, 09.06.2016, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-24223> (26.07.2016).