Cover
Titel
Jenseits des Alltags. Die Schriftsteller der DDR und die Revolution von 1989/90


Autor(en)
Grünbaum, Robert
Reihe
Extremismus und Demokratie 5
Erschienen
Baden-Baden 2002: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Angela Borgwardt, Berlin

Robert Grünbaum hat sich in seiner Studie einem wichtigen Thema gewidmet: der Rolle der DDR-Schriftsteller im Umbruchprozess 1989/90, insbesondere ihrem Einfluss auf die politische Entwicklung. Entstanden ist diese Arbeit als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Technische Universität Chemnitz (1999), betreut von Eckhard Jesse, der auch als Mitherausgeber des Buches in der Nomos-Reihe fungiert.

Grünbaums Interesse richtet sich auf die Zeit um 1989/90, das Schwergewicht seiner Studie legt er jedoch auf die ausführliche Darstellung der DDR als „über vierzig Jahren totalitärem Sozialismus“ (S. 11). Damit wird seine Orientierung an der totalitarismustheoretischen Forschungsrichtung deutlich, die nach der Herstellung der deutschen Einheit in der DDR-Forschung eine „Renaissance“ erlebte. Die Kriterien seiner Zuordnung bleiben allerdings ungeklärt, ebenso die für die Bewertung des konkreten Falls ausschlaggebenden Kennzeichen eines totalitären Systems. Angesichts der Vielzahl divergierender (totalitarismus-)theoretischer Ansätze folgen aus dem Fehlen einer stringenten Begriffsbestimmung unweigerlich inhaltliche Fehldeutungen und Unschärfen: Die DDR wird nicht mit klar definierten Kategorien als politisches System analysiert, sondern mit benennenden Setzungen wie „stalinistische Diktatur“ (S. 153) etikettiert. Zudem differenziert Grünbaum nicht zwischen den historischen Phasen, sondern beschreibt die DDR als statisches politisches System ohne Entwicklung, in dem die SED-Führung ihren Herrschaftsanspruch „weitgehend“ durchgesetzt habe (S. 46, 103).

Ähnlich simplifizierend erklärt Grünbaum den Zusammenbruch der SED-Herrschaft, die in einer „friedlichen Revolution“ (S. 13) vom Volk gestürzt worden sei. Gescheitert sei die Staatsmacht letztlich an ihrem absoluten Herrschaftsanspruch, das politische System an seiner Wandlungs- und Reformunfähigkeit (S. 80). „Zusammen mit anderen Faktoren“ wäre dies schließlich „zum Sprengsatz für das Regime“ (ebd.) geworden. Die weithin bekannten Einflüsse insbesondere der sowjetischen Politik, aber auch die Bedeutung von Medien und Öffentlichkeit, die Legitimationsverluste der SED-Herrschaft oder der wirtschaftliche Ruin der DDR werden noch nicht einmal erwähnt.

Diese extrem verkürzte Zugangsweise wird weder der Herrschaftswirklichkeit der DDR-Diktatur noch dem hochkomplexen Umbruchprozess gerecht – was auch für das dargestellte Verhältnis zwischen Politik und Literatur gilt. Grünbaum zeichnet breit die staatliche Literaturpolitik nach, vernachlässigt aber auch hier die beträchtlichen Diskrepanzen zwischen ideologischem Anspruch, praktischer Politik und tatsächlicher Durchsetzung: Die detaillierten Studien zur Wechselwirkung zwischen literarischer Produktion und SED-Literaturpolitik, über die Handlungsräume kritischer Schriftsteller oder die komplizierten Interaktionen zwischen Autoren, Bürokratie und offizieller Literaturideologie bleiben unberücksichtigt. Stattdessen behauptet Grünbaum pauschal, der SED-Führung sei „im Wesentlichen die umfassende Planung, Lenkung und Kontrolle des gesamten Literaturprozesses“ (S. 44) gelungen. Zu Recht weist er auf die kritischen Funktionen der Literatur als „Ersatzöffentlichkeit“ hin und charakterisiert die Reaktion der Staatsmacht auf die literarischen Autonomiebestrebungen in den 80er-Jahren als „Mischung aus begrenzter Toleranz und Repression“ (S. 174) – begibt sich damit aber permanent in offenen Widerspruch zu seiner These eines totalitären Systems mit „stalinistischen Herrschaftsprinzipen“ (S. 80), in dem die SED-Führung bis Ende der 1980er-Jahre „noch sicher im Sattel saß“ und „uneingeschränkt über all ihre Machtmittel verfügte“ (S. 71).

Grünbaum arbeitet ohne theoretisches Konzept und ohne nachvollziehbares methodisches Instrumentarium, operiert mit ungeklärten Begriffen und bezieht die Ergebnisse der politologischen und zeithistorischen Fachliteratur nur äußerst rudimentär in seine Interpretation ein (selbst jene, die er im Forschungsstand referiert oder in der Bibliografie anführt). Statt z.B. die Studien zur Diktaturforschung oder zur Begriffsproblematik Opposition und Widerstand zu rezipieren, arbeitet er mit untauglichen Bezeichnungen wie „Gegner von Grund auf“ (S. 157), „Dissidenten im Sinne von Abtrünnigen eines Glaubens“ (S. 156) oder pauschal mit „SED“ (S. 77), statt zwischen SED-Führung, Bürokratieapparat und einzelnen Akteuren zu differenzieren.

In der Analyse der Umbruchphase richtet Grünbaum seinen Fokus überwiegend auf die Kritiker und Reformer des Sozialismus (z.B. Christoph Hein, Stefan Heym, Christa Wolf), die das DDR-System nie grundsätzlich in Frage gestellt, 1989/90 für eine demokratisierte DDR plädiert und die deutsche Vereinigung abgelehnt hätten. Ihre öffentlichen Erklärungen 1989/90 beschreibt er als Prozess einer „politischen Selbstmarginalisierung“ (S. 189): Ohne realisierbare Politikkonzepte als „leistungsfähige und zukunftsträchtige Alternativen“ (S. 117) bieten zu können, hätten sie mit ihrem Ziel eines reformierten Sozialismus („dritter Weg“) die „Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen der Bevölkerung“ (S. 188) verkannt – das Volk hingegen habe Freiheit, Demokratie und zunehmend auch die deutsche Einheit gefordert.

Grünbaums „Erklärungsmuster“ für dieses – in seinem Sinne wirklichkeitsfremde und volksferne – Verhalten beruhen im Wesentlichen auf bekannten Thesen anderer Studien 1: die Angst vor Bedeutungs-, Funktions- und Privilegienverlust, starke Bindungen an den DDR-Gründungsmythos, Antifaschismus und die sozialistische Utopie, die zur „Bewahrung einer Illusion“ geführt habe (S. 168). Diese Erklärungen sind nicht falsch, aber bei weitem nicht ausreichend: Grünbaum konstruiert ein Zerrbild „der renommierten“ (S. 175) reformsozialistischen Schriftsteller, die den Untergang der von ihnen stabilisierten Staatsmacht vor allem als Bedrohung ihrer sozialen Stellung, ihrer Privilegien und persönlichen Identität empfanden. Die zum Teil massiven Repressionen, Zensur und MfS-Bespitzelung, denen diese Schriftstellergruppe auch ausgesetzt war, werden verharmlosend auf die Formel „häufige Konflikte mit der Kulturbürokratie“ (S. 34) verkürzt oder – wie im Fall der jahrelangen Repressionen gegen Wolf Biermann – ausgeblendet. Ebenso unberücksichtigt bleibt die ambivalente Wirkung der SED-kritischen, aber sozialismusbejahenden Schriftsteller auf die Legitimität der Staatsmacht – z.B. über die Funktionen der (West-)Öffentlichkeit. Dabei hätte gerade die Analyse ihrer herrschaftsstabilisierenden, -beeinflussenden und -untergrabenden Wirkungen auf den Umbruchprozess interessante Erkenntnisse bringen können.

Als positives Gegenbeispiel führt Grünbaum die Sozialismusgegner an, denen er aufgrund ihrer fundamentalen Ablehnung des DDR-Systems eine „andere, realistische Sicht“ (S. 188) auf die politische Entwicklung zuspricht, indem sie weitere „sozialistische Experimente“ ablehnten und für die deutsche Einheit plädierten. Dazu zählt er z.B. Günter de Bruyn, die im Exil lebenden Schriftsteller Uwe Kolbe und Monika Maron, vor allem aber die junge alternative Literaturszene der 1980er-Jahre, von der Grünbaum ein geradezu emphatisches Bild der Autonomie und oppositionellen Leistung durch Verweigerung „jeder staatlichen Einflussnahme“ (S. 174) zeichnet. Groteskerweise wird selbst der Prenzlauer-Berg-Autor Sascha Anderson als Beispiel für diese unabhängigen Schriftsteller genannt, die „in immer schärfere Konflikte mit den staatlichen Instanzen“ (S. 175) gerieten – ohne jedoch zu erwähnen, dass dieser als inoffizieller Mitarbeiter für das MfS die „autonome Szene“ ausspionierte. 2

Es ist offensichtlich, dass nicht wissenschaftliche Analyse, sondern die politische Gesinnung zur zentralen Grundlage für Grünbaums normative Urteile wird: Sozialismusbejahung versus Sozialismusablehnung entscheiden über die zugesprochene moralische und politische Integrität. Entgegen aller Differenzierung und neuerer Forschungsergebnisse entwirft er damit genau das, was er den Sozialismusreformern vorhält, nämlich ein „schematisches Freund-Feind-Bild“ (S. 116). Zu den bereits genannten gravierenden Mängeln (hinsichtlich Methodik, Begriffsklärung und Analysetiefe) kommen eklatante Verstöße gegen wissenschaftliche Grundregeln wie z.B. die Übernahme markanter Thesen aus der Forschungsliteratur ohne Kennzeichnung der Quelle 3 oder die grobe Missachtung des Kontextes bei der Interpretation von Zitaten.4 Wissenschaftliche Seriosität beruht aber unbedingt auf präziser Quellenangabe und gründlicher Quellenkritik. Derartige Verstöße gegen die wissenschaftliche Sorgfaltspflicht weisen auch auf eine interessegeleitete Voreingenommenheit des Interpreten und damit auf eine mangelnde Offenheit des Forschungsprozesses hin.

Am Schluss appelliert Grünbaum nicht ohne Pathos an die Vertreter der ost- und westdeutschen künstlerischen Intelligenz, sie sollten sich künftig „aus der Starre eines geschlossenen weltanschaulichen Systems lösen und der Komplexität politischer Prozesse mit einer entsprechenden Komplexität ihres Denkens Paroli bieten“(S. 192). Dies allerdings ist nicht vorrangig Aufgabe der Schriftsteller, sondern unverzichtbarer Kern einer ernst zu nehmenden zeithistorischen und politischen Wissenschaft.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Emmerich, Wolfgang, Kleine Literaturgeschichte der DDR, Neuauflage Frankfurt am Main 1996.
2 Vgl. Walther, Joachim, Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1996, S. 638-645.
3 Exemplarisch: „Konflikte mit der SED entstanden [...] in erster Linie aus Beeinträchtigungen ihrer künstlerischen Freiheit und nicht aus der Forderung nach grundsätzlichen politischen Veränderungen“ (S. 156). Vgl. Knabe, Hubertus, Widerstand und Opposition in den sechziger und siebziger Jahren, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. VII/1, hrsg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995, S. 82f.; Sowie: „ [...] bereiteten DDR-Schriftsteller die politisch-gesellschaftlichen Veränderungen in ihrem Land mit vor und begleiteten sie“(S. 183). Vgl. Rossade, Werner, Literatur im Systemwandel, Frankfurt am Main 1982, S. 832f.
4 Dies zeigt sich z.B. bei der Interpretation eines Zitats von Stefan Heym, das in sinnentstellender Weise aus dem Kontext gelöst (S. 121) und zwei weitere Male angeführt wird (S. 126, S. 141). Vgl. Heym, Stefan, Aschermittwoch. Essay (1989), in: Einmischung, hrsg. von Heym, Inge, Heinfried Henniger, München 1990, S. 243f.

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