Y. Kouli: Wissen und nach-industrielle Produktion

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Titel
Wissen und nach-industrielle Produktion. Das Beispiel der gescheiterten Rekonstruktion Niederschlesiens 1936–1956


Autor(en)
Kouli, Yaman
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Beihefte 226
Erschienen
Stuttgart 2014: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
319 S., 11 Abb.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jaromír Balcar, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin

Was geschieht in einer Industrieregion, wenn man flächendeckend Anlagekapital von Humankapital trennt? Mit anderen Worten: Wie wichtig ist das in der Belegschaft gespeicherte (wissenschaftliche) Wissen, das durch die Interaktion der einzelnen Arbeitskräfte ein Wissensnetzwerk bildet, für die industrielle Produktion? Diese Frage, die Ökonomen vor schwierige theoretische Probleme stellt, beantwortet Yaman Kouli in seiner Chemnitzer Dissertation mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft, und zwar am Beispiel Niederschlesiens.

Hier führte die Entwicklung in der Kriegs- und Nachkriegszeit einen fast einzigartigen Zustand herbei, der wie eine experimentelle Versuchsanordnung wirkt: Angesichts der Vertreibung der deutschen Bevölkerung, die eben auch den Großteil der deutschen Werktätigen in der Industrie betraf, kam es nämlich tatsächlich zu einer fast vollständigen Trennung der Produktionsstätten von ihren angestammten Belegschaften. Damit kann Kouli ein ökonomisch-theoretisches Problem einer historiographisch-empirischen Analyse unterziehen.

Einen theoretischen Ansatzpunkt der Untersuchung stellen die Rekonstruktions- und die Catch-up-Hypothese dar, einen anderen gewinnt Kouli aus der Differenzierung zwischen "Ausbildungswissen", "Erfahrungswissen" und "Wissensnetzwerken" (S. 29), wobei ihn vor allem die letztgenannten interessieren. Er stützt sich dabei auf ein Modell des Informatikers Ole Hanseth, demzufolge "einzelne Wissensfragmente zunächst nur einen geringen Wert haben. Wenn jedoch eine Gruppe von Menschen komplementäres Wissen besitze, so steigere sich der Wert jedes einzelnen Wissensfragmentes bedeutend" (S. 33). Dann erst bilden sie nämlich ein Wissensnetzwerk.

Nach einem ersten Kapitel, das das Verhältnis von wissenschaftlich produziertem Wissen und industrieller Produktion theoretisch absteckt, befasst sich die Studie zunächst ausführlich mit der Entwicklung der niederschlesischen Industrie von 1936 bis 1945, um dann ebenso ausführlich auf deren Nachkriegsentwicklung einzugehen. Wie Kouli überzeugend herausarbeitet, waren die materiellen Bedingungen für eine rasche und erfolgreiche Wiederaufnahme der Produktion in den neuen Westgebieten Polens keineswegs schlecht. Dass Niederschlesien dennoch nicht am europäischen "Wirtschaftswunder" der 1950er-Jahre partizipierte, sondern viele Produktionsstätten noch lange nach Kriegsende brach lagen, führt er im Wesentlichen auf die langfristig negativen Auswirkungen der Vertreibung zurück: Diese "Erblast" (S. 193 und S. 270) habe nämlich zur fast völligen Vernichtung der vormals vorhandenen Wissensnetzwerke im Industriebereich geführt. Weder sei es gelungen, polnische Arbeitskräfte schnell von ihren deutschen Vorgängern anlernen zu lassen, noch ein Ausbildungssystem aufzubauen, das später entsprechend qualifizierte Facharbeiter in ausreichender Zahl bereitgestellt hätte. Aus alldem schließt Kouli, "dass das Wissen von Beschäftigten selbst dann, wenn es sich ‚nur‘ um Angelernte handelt, entscheidende Grundlage für die Aufrechterhaltung der industriellen Produktion ist" (S. 270). Einen weiteren Beleg dafür sieht er im veränderten Umgang der polnischen Behörden mit den noch im Land verbliebenen Deutschen, die ab 1950 nicht mehr ausgewiesen, sondern im Gegenteil an der Ausreise gehindert wurden. Diese "Zäsur des Jahres 1950", die "bisher meist allgemein durch völkerrechtliche Verträge begründet" wurde, habe "vielmehr ökonomische Gründe" gehabt (S. 267).

In Koulis Studie, der ein gründliches Lektorat gutgetan hätte, wechseln Licht und Schatten. Positiv schlägt zu Buche, dass sie auf einer beachtlichen Materialbasis beruht. Sie verarbeitet nicht nur zahlreiche Quellen aus der Zeit vor wie nach 1945, sondern rezipiert auf breiter Front auch die deutsche wie vor allem die (ältere und neuere) polnische Forschung. Ein weiteres Plus ist der Fokus auf immaterielle (Produktions-) Faktoren. Da sich die Forschung bislang fast ausschließlich auf die materiellen Faktoren konzentriert hat, stellt dieser Aspekt nach wie vor ein Desiderat dar.

Neuland betritt Kouli auch, indem er detailliert auf die Folgen der massiven Verlagerung von Rüstungsbetrieben – und die damit einhergehenden Stilllegungen von Betrieben der Leicht- und Konsumgüterindustrie – während des Zweiten Weltkriegs eingeht. Niederschlesien profitierte massiv von der forcierten Verlegung von kriegswichtigen Produktionsstätten, die primär das Ziel verfolgte, sie außerhalb des Radius der alliierten Bomberflotten zu bringen. Die Studie liefert eine überzeugende Analyse einer "Aufnahmeregion", die in dieser empirischen Dichte bislang noch nicht vorlag. Die dabei auftretenden Quellenprobleme löst Kouli teils sehr originell, etwa indem er den gestiegenen Stromverbrauch als Indikator heranzieht, um das Wachstum der niederschlesischen Industrie im Krieg zu quantifizieren. Auf diese Weise gelingt ihm der Nachweis, dass das Industriepotential Niederschlesiens bis 1945 um rund 50 Prozent anwuchs.

In ähnlich überzeugender Manier widerlegt Kouli auch die vor allem in der polnischen Forschung bis heute weit verbreitete Auffassung von den angeblich gravierenden Auswirkungen, die Kriegszerstörungen und Demontagen nach Kriegsende auf das Industriepotential Polens hatten. Wie Kouli nachweist, ist diese These in ihrer Überbetonung nicht haltbar, vielmehr waren die "materiellen Ausgangsbedingungen Niederschlesiens nach dem Zweiten Weltkrieg […] auch nach den Zerstörungen und Demontagen gut" (S. 136).

Mein Haupteinwand richtet sich gegen die ausschließlich makroökonomische Anlage der Studie, die die Betriebsebene vollständig ausklammert. Das daraus resultierende Grundproblem, Produktionsschwierigkeiten ohne unmittelbaren Blick auf den Produktionsprozess zu analysieren, ist Kouli durchaus bewusst. Das ändert allerdings nichts an der Schwäche an sich, zumal die von Kouli ins Feld geführten Argumente, auf die Mikroperspektive zu verzichten – das Problem der Relevanz einzelner Unternehmen oder Betriebe und die Schwierigkeiten beim Quellenzugang –, nicht recht überzeugen.

Ein auch nur flüchtiger Blick in die Fabriken würde wahrscheinlich zeigen, dass die betrieblichen "Wissensnetzwerke" schon deutlich vor Kriegsende Risse bekamen, und zwar durch die vermehrte Einberufung deutscher Arbeiter im Zuge des "totalen Krieges"; daraus resultierte auch in Niederschlesien ein immer größerer Anteil von Zwangsarbeitern an der Belegschaft der Industriebetriebe, die man wohl kaum zu dem etablierten "Wissensnetzwerk" rechnen kann – ohne dass es damals schon zu Produktionseinbrüchen gekommen wäre.

Betriebsstudien würden zudem eine Reihe weiterer Faktoren zutage fördern, die die Rekonstruktion der Industrie auch in Niederschlesien dauerhaft behinderten: Zu nennen sind etwa die Folgen der Trennung von traditionellen Absatzmärkten, aber auch von Zulieferern und Kooperationspartnern, und mehr noch: die vollständige Abkoppelung von der technologischen Entwicklung im Westen, die bereits in der NS-Zeit einsetzte; hierin liegt ein kaum zu überschätzender Faktor für ausbleibende Innovationen und industriellen Wandel – gerade wenn man, wie Kouli, den Weg in die "nach-industrielle Produktion" verfolgt. Hinzu kam mit der Verstaatlichung und Zentralisierung der Wirtschaft im Zuge der Transformation der Wirtschaftsordnung die Einführung völlig neuer Lenkungsstrukturen im Industriebereich, was – wie in der Tschechoslowakei – die Transaktionskosten für die Unternehmen erhöht haben und somit ebenfalls ein Faktor gewesen sein dürfte, der einen raschen wirtschaftlichen Wiederaufbau verhinderte.

Das heißt nun nicht etwa, dass die Vertreibung der Deutschen aus Niederschlesien keine gewachsenen Wissensnetzwerke im Industriebereich zerschnitten hätte. Dass dem so war, weist Kouli überzeugend nach, doch wie genau sich dies auf die niederschlesische Industrie auswirkte, hätte sich nur mit einem – flankierenden – unternehmensgeschichtlichen Zugriff herausarbeiten lassen. Zudem verabsolutiert Kouli seine These von der zentralen Bedeutung der Wissensnetzwerke für die Produktion, denn die zunehmenden ökonomischen Probleme, mit denen sich Politik und Verwaltung in Polen schon bald konfrontiert sahen, resultierten nicht alleine aus dem erzwungenen Verzicht auf die deutschen Kernbelegschaften.

Fällt somit der Gesamteindruck ambivalent aus, kommt Koulis Buch dennoch ein großes Verdienst zu: Es veranschaulicht schlaglichtartig, wie sehr die Ökonomie profitieren kann, wenn sie die Dimension der Vergangenheit wieder stärker in den Blick nimmt.

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