R. Rürup: Der lange Schatten des Nationalsozialismus

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Titel
Der lange Schatten des Nationalsozialismus. Geschichte, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur


Autor(en)
Rürup, Reinhard
Erschienen
Göttingen 2014: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
René Schlott, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Auch wenn der 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges gegenwärtig viel stärker im Fokus der Öffentlichkeit steht als der 75. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges, so bleibt der Nationalsozialismus der zentrale Referenzpunkt bundesrepublikanischer Identität und historischer Selbstvergewisserung. Einen großen Anteil an der Entwicklung dieser spezifischen Gedenk- und Erinnerungskultur hat Reinhard Rürup, zu dessen 80. Geburtstag im Mai 2014 ein Sammelband mit einer Auswahl seiner Aufsätze und Vorträge erschienen ist. Rürup stellt darin nicht nur den langen deutschen Weg hin zur offenen Auseinandersetzung mit den Verbrechen im Nationalsozialismus präzise und anschaulich dar, sondern historisiert auch seine eigene Rolle als engagierter Protagonist in diesem Prozess.

Der Band gliedert die fünfzehn Beiträge, von denen neun hier zum ersten Mal veröffentlicht sind, einer zum ersten Mal in deutscher Sprache, cum grano salis in einen ereignis- und einen erinnerungsgeschichtlichen Teil. Stefanie Schüler-Springorum steuert ein Geleitwort bei, in dem sie Rürups wichtige Rolle bei der Gründung des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin erläutert, dem er selbst jedoch nie angehörte. Andreas Nachama beschließt den Band mit einem angesichts der Bedeutung Rürups für die Stiftung „Topographie des Terrors“ zu kurzen, aber sehr persönlichen Nachwort.

Eingangs liefert Rürup ein Modell der europäischen Diktaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, in dessen Verlauf er sieben Entwicklungsschübe ausmacht: Ausgehend vom noch monarchisch geprägten Staatenmodell im Europa der Jahrhundertwende wirkte der Erste Weltkrieg als Katalysator republikanischer Staatenbildung; allerdings funktionierten die neuen Staaten der Zwischenkriegszeit nur im Ausnahmefall als Demokratien. Erst nach 1945 setzte sich das Modell der repräsentativen Demokratie in Westeuropa durch, wobei Rürup auf retardierende Momente wie die Errichtung der Militärdiktatur in Griechenland 1967 sowie auf Portugal und Spanien als späte Demokratien verweist. In Ost- und Südosteuropa entstanden von der Sowjetunion dominierte „Volksdemokratien“, die schließlich 1989/90 überwiegend das westliche Modell übernahmen. Dieser 2006 gehaltene Vortrag endet mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 und der Hoffnung Rürups, Diktaturen seien in Europa Geschichte. Angesichts aktueller Entwicklungen in mehreren Ländern Osteuropas hätte Rürup sein Modell vielleicht um einen achten Entwicklungsschub ergänzen und das Wiederaufleben autoritärer Staatsformen am Beginn des 21. Jahrhunderts einbeziehen müssen.

In einem Vortrag aus Anlass des 60. Jahrestages des Novemberpogroms 1938 widmet sich Rürup einem Lebensthema: der Frage nach den Voraussetzungen und Ursachen des Judenmordes. Im Deutschen Reich sei dieser Zerstörungsprozess so abrupt und vollständig verlaufen, dass man heute mehr über die Verbrechen an den jüdischen Deutschen während der NS-Zeit wisse als über die jahrhundertealte Geschichte und Kultur der Juden in Deutschland. Dennoch sei jeder umfassende Erklärungsversuch für das Geschehen von 1933 bis 1945 bislang gescheitert. Für die Verfolgung der von den Nationalsozialisten als „Juden“ deklarierten Deutschen entwickelt Rürup ein sich teilweise überlagerndes, stark an Raul Hilberg erinnerndes Phasenmodell, wonach sich erstens von 1933 bis 1939 deren soziale Ausgrenzung und Entrechtung vollzogen habe, die zweitens von einer wirtschaftlichen Verdrängung begleitet und von der forcierten Auswanderung in den Jahren 1935 bis 1939 abgelöst worden sei, bevor drittens die physische Vernichtung mit den Kriegsjahren 1939 bzw. 1941 begonnen habe.

Rürup zufolge liegen die Erklärungsfaktoren des Völkermords an den Juden weder allein im Verlauf der deutsch-jüdischen Geschichte hin zu Emanzipation und Assimilation noch in den deutschen Besonderheiten oder Traditionen des Antisemitismus. Denn dieser war ein europäisches Phänomen, das zur Erklärung der deutschen Verbrechen nicht ausreicht. Erst als der Antisemitismus nach dem 30. Januar 1933 vom politischen Programm einer Oppositionspartei zur Herrschaftsideologie wurde, bekam er eine bis dato in Deutschland nicht für möglich gehaltene Durchschlagskraft, die mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges ihr mörderisches Potenzial entfalten konnte: „Es bedurfte des Zusammentreffens von antisemitischer Ideologie, uneingeschränkter Macht, effizienter Organisation und moderner Technologie sowie der vollständigen Abwesenheit moralischer Skrupel, um das Verbrechen des Völkermords an den Juden Wirklichkeit werden zu lassen.“ (S. 93)

Hellsichtig beklagt Rürup in einem Vortrag 1991 in Moskau, für die Wissenschaft bestehe kein Zweifel mehr darüber, dass die Wehrmacht als Ganzes ein wichtiger Teil des verbrecherischen Gesamtgeschehens in der Sowjetunion von 1941 bis 1945 gewesen sei, wenngleich diese Erkenntnis sich in der deutschen Öffentlichkeit noch nicht durchgesetzt habe (S. 101). Sechs Jahre später erlebt eben diese Öffentlichkeit die kathartische Debattenwirkung der ersten „Wehrmachtsausstellung“.

Rürup konstatiert als „Wendepunkt“ (S. 133) der bundesdeutschen Erinnerungskultur das Gedenken an den 50. Jahrestag der Reichspogromnacht 1988. Während andere Historiker die Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 als Zäsur betonen, schreibt Rürup der öffentlichen Diskussion um ein anderes gedenkpolitisches Ereignis dieses Jubiläumsjahres eine stärkere Wirkung zu: dem umstrittenen gemeinsamen Besuch Helmut Kohls und Ronald Reagans auf dem Soldatenfriedhof Bitburg. Mit wachsendem zeitlichem Abstand zum Nationalsozialismus stiegen das Interesse an seiner Geschichte und die Bereitschaft, sich an deren „Aufarbeitung“ zu beteiligen. Die Wiedervereinigung unterbrach diesen Trend nicht etwa, sondern wirkte als Katalysator eines Prozesses, der (1) durch die „lebendige Vielfalt der Formen des Erinnerns“ (S. 139), (2) durch bürgerschaftliches Engagement und (3) durch eine neue Aufmerksamkeit für historische Orte charakterisiert werden kann. Gehalten wurde dieser Vortrag im März 2008 an der Universität Tokio, in der Hauptstadt eines Landes also, das sein historisches Erbe aus dem Zweiten Weltkrieg nach wie vor eher zögerlich diskutiert. Allerdings macht Rürup deutlich, dass diese Entwicklung auch in der Bundesrepublik einen langen Vorlauf hatte, was sich etwa in der Tatsache manifestiert, dass die erste Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages zum 8. Mai 1945 erst 1970 stattfand.

In zwei kürzeren Beiträgen widmet sich Rürup der Geschichte und Genese der „Topographie des Terrors“, die er selbst als wissenschaftlicher Leiter von 1985 bis 2004 maßgeblich mitgestaltete. Er deutet die Entstehung der „Topographie“ als Teil des „allgemeinen erinnerungspolitischen Aufbruchs in der alten Bundesrepublik“ (S. 169) am Ende der 1980er-Jahre. Engagierte Bürgerinnen und Bürger riefen das bis dato teils von einer Bauschuttfirma genutzte, direkt an der Berliner Mauer gelegene historische Gelände – ehemals Sitz der Gestapo, des Reichssicherheitshauptamtes, des Sicherheitsdienstes und des Reichsführers SS –, in die Erinnerung von Politik und Öffentlichkeit.

In seinem abgedruckten Eröffnungsvortrag „Das ‚Hausgefängnis‘ der Gestapo-Zentrale in Berlin. Terror und Widerstand 1933–1945“ aus dem Jahr 2005 greift Rürup die bis heute virulente Forschungsdebatte um den Widerstand im NS-Staat auf. Unklar bleibt allerdings, welcher Erkenntnisgewinn mit der Ausweitung des Widerstandsbegriffs selbst auf ein rein passives Verhalten erreicht werden kann. En passant erwähnt Rürup ein gemeinsames Ausstellungsprojekt mit der DDR zum antifaschistischen Widerstand. Gern würde man mehr über den Vorbereitungsstand und das Konzept dieser Kooperation erfahren, zu der selbst Honecker seine Zustimmung gegeben hatte und die schließlich von den Ereignissen im Herbst 1989 hinweggefegt wurde.

Wie das Eingangskapitel zeichnet sich auch der Schlussbeitrag durch eine besondere Überblicksqualität aus. Für sechs europäische und außereuropäische Länder skizziert Rürup deren Entwicklung einer spezifischen Erinnerungskultur an Krieg und Holocaust. Als ein länderübergreifendes Charakteristikum konstatiert er, dass sich die Erinnerung an den Judenmord erst in den 1960er- und 1970er-Jahren von der allgemeinen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg löste und sich auch außerhalb der jüdischen Gemeinschaft als ein eigener Gedenkkomplex konstituierte.

Es ist wohlfeil, in Rezensionen zu Festschriften mehr Beiträge zu fordern und inhaltliche Lücken zu monieren, doch sei der Hinweis erlaubt, dass Rürups Laudatio auf Raul Hilberg anlässlich der Verleihung des Marion-Samuel-Preises an den Nestor der Holocaust-Forschung (1999) den Band durchaus bereichert hätte, weil sie eine wichtige Teilgeschichte des spät erwachten Interesses am Judenmord in Deutschland erzählt.1 Es fehlt zudem ein für seine Biographie aufschlussreiches Gespräch mit Rürup, das im Rahmen eines Interviewprojekts der Humboldt-Universität entstanden ist und über die Berührungspunkte des jungen Rürup mit dem Nationalsozialismus Auskunft gibt.2 Wünschenswert wäre auch ein eigens für diesen Band verfasster Beitrag gewesen, der den Status quo, die Chancen und Risiken einer sich immer mehr diversifizierenden Berliner Gedenklandschaft 2014 kritisch betrachtet und die neueren Entwicklungen eingeschlossen hätte.

Der vorliegende Band ist sicher kein Buch, das der Leser in einem Stück von vorn nach hinten durchlesen kann; dafür sind die Inhalte dann doch zu disparat und die einzelnen Beiträge in sich zu geschlossen. Sie sind aber geprägt von einer guten Lesbarkeit, von einer hohen, jedoch nie verwirrenden Detaildichte und profunder Sachkenntnis. Und sie werden zusammengehalten von der Feder eines Autors, der sich große Verdienste um die Geschichts- und Gedenkkultur der deutschen Hauptstadt erworben hat. Einen falschen Eindruck allerdings weckt der schlagwortartige Buchtitel, suggeriert der Begriff „Schatten“ doch, dass etwas im Dunkeln bleibt, auf das der Nationalsozialismus seinen „Schatten wirft“.3 Reinhard Rürup kommt gerade das Verdienst zu, solche opaken Stellen intensiv ausgeleuchtet und ins Licht der Öffentlichkeit gerückt zu haben.

Anmerkungen:
1 Abgedruckt unter dem Titel „Das Ende eines langen Hindernislaufes“ in der Frankfurter Rundschau, 24.04.1999, S. 11.
2 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/beitrag/intervie/ruerup.htm> (12.07.2014); gedruckt in: Rüdiger Hohls / Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, Stuttgart 2000, S. 267–280.
3 Siehe bereits den kritischen Essay von Helmut König, Im Schatten. Über die deutsche Vergangenheitsmetapher, in: Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 40 (1993), S. 552–557.