A. Hoffmann: Arzneimittelkonsum und Geschlecht

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Titel
Arzneimittelkonsum und Geschlecht. Eine historische Analyse zum 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Hoffmann, Annika
Reihe
Medizin, Gesellschaft und Geschichte MedGG Beiheft 48
Erschienen
Stuttgart 2014: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
XVI, 217 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Gnausch, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité, Berlin

Die wissenschaftliche Forschung konstatiert heutzutage einen höheren Arzneimittelkonsum von Frauen gegenüber Männern. Aus dem Arzneimittelreport 2012 der Barmer GEK geht beispielsweise hervor, dass Frauen im Jahr 2011 gut 22 Prozent mehr Arzneimittel verordnet bekamen als Männer.1 Auch in der Öffentlichkeit existiert die Vorstellung, Frauen hätten „schon immer“ mehr Medikamente als Männer verschrieben bekommen. So entsteht der Eindruck, bei diesem Phänomen handele es sich um eine historische Konstante. Wie es um den geschlechterspezifischen Arzneimittelkonsum in den letzten Jahrhunderten tatsächlich bestellt war, ist jedoch weitgehend unerforscht. Dieser Frage widmet sich nun die Medizinhistorikerin Annika Hoffmann in ihrer Habilitationsschrift. In ihrer Studie untersucht sie, „wie sich die Geschlechterverteilung im Arzneimittelkonsum in früheren Jahrhunderten darstellte“ (S. 13). Im Anschluss an aktuelle historische Forschungsarbeiten zu Gesundheit und Geschlecht im Allgemeinen sowie zur geschlechterspezifischen Nutzung des medizinischen Marktes fragt die Autorin danach, ob nicht nur die Inanspruchnahme des ärztlichen Angebots, sondern auch die Einnahme von Medikamenten, historisch betrachtet, weniger konstant war als heute gemeinhin angenommen.2 Zum Beispiel gingen bis ca. 1800 Männer wohl häufiger zum Arzt als Frauen und erst um 1860 etablierte sich das bis heute anhaltende Muster, dass die Mehrheit der Patienten weiblich ist. Des Weiteren analysiert Hoffmann in ihrer Studie, ob weibliche und männliche Personen unterschiedliche Arzneimittel erhielten, und „wie sich der um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende medizinische Mehrbedarf der Frauen ausgestaltete“ (S. 13).

Der Untersuchungszeitraum der Studie reicht von 1800 bis ca. 1950, wobei der Fokus der Untersuchung auf der Mitte des 19. Jahrhunderts liegt. Diese Fokussierung begründet Hoffmann einerseits mit der „Um- bzw. Neuprägung eines älteren genderspezifischen Habitus“ (S. 11), also dem mal männlichen, mal weiblichen Überwiegen der Inanspruchnahme von Ärzten, der sich für die Zeit von ca. 1800 bis 1860 beobachten lasse, sowie andererseits mit der Quellenlage. Den Quellenkorpus ihrer Untersuchung bilden Rezeptkopierbücher und Rezeptsammlungen verschiedener Apotheken aus dem Zeitraum 1470–1970. Einige der Rezeptkopierbücher haben eine Laufzeit von bis zu 100 Jahren und machen so „die Entwicklung des geschlechterspezifischen Arzneimittelkonsums nachvollziehbar“ (S. 20). Annika Hoffmann hat rund 60.000 Rezepte ausgewertet, sodass das Ergebnis ihrer Studie auf einer beeindruckenden und soliden Quellengrundlage steht. Den Kern der Arbeit bilden Rezeptkopierbücher aus der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Kellinghusen (Laufzeit 1847–1918), der Hansestadt Lübeck (Laufzeit 1847–1900) und dem Lübeck benachbarten Bad Schwartau (Laufzeit 1898–1959), also vor allem aus dem ländlich geprägten, norddeutschen Raum. Weitere Stichproben aus den bayerischen Städten Nördlingen und Amberg (um 1470), dem nordrheinwestfälischen Bad Salzuflen (um 1800), dem schweizerischen Bischofszell (1852–1951), dem polnischen Znin (1843–1848) und dem bayrischen Landshut (1910–1960) dienen als „Schlaglichter“ und „Momentaufnahmen“ (S. 160) und ergänzen die Studie. Der Auswertung der Quellenbestände aus Kellinghusen und Lübeck sind die beiden Hauptkapitel der Arbeit gewidmet. Gerahmt werden sie von einem einführenden Kapitel zu den rechtlichen Regelungen zur Führung von Rezeptkopierbüchern sowie dem Kapitel mit der Analyse der Apothekenbücher aus dem 15., 19. und 20. Jahrhundert aus Deutschland, der Schweiz und Polen. 63 Grafiken und 32 Tabellen illustrieren die Arbeit Hoffmanns. Gemessen an den gut 200 Buchseiten, erscheinen diese jedoch etwas zu zahlreich, weniger Illustrationen hätten dem Lesefluss gut getan und den Informationsgehalt der Studie nicht geschmälert.

Die Studie muss sich auf die „grundlegende Dimension ärztlich vermittelten geschlechterspezifischen Arzneimittelkonsums“ (S. 28) beschränken und klammert interessante Aspekte, wie etwa die Selbstmedikation oder Homöopathie aus, da die Rezeptkopierbücher nur Verschreibungen von Ärztinnen und Ärzten erfassen. Empfehlungen anderer Heilergruppen oder gar der ohne professionelle Beratung erfolgte „Handverkauf“, sind in dieser Quellengattung nicht enthalten.

Auf Grundlage einer breiten Quellenbasis kommt die Autorin zu dem Schluss, dass „[d]er heute diskutierte weibliche Mehrkonsum von Arzneimitteln [...] keine historische Konstante war“ (S. 196f.). Sie betont zwar, dass ihre Ergebnisse nicht ohne Weiteres verallgemeinerbar sind, die Studie zeige jedoch, dass Männer in verschiedenen Regionen und in unterschiedlich großen Städten zu verschiedenen Zeiten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich mehr Medikamente verordnet bekamen als Frauen. So erhielten Männer beispielsweise in Lübeck 1850 noch 57 Prozent der verordneten Rezepte, 1900 waren es nur noch 40 Prozent: Innerhalb eines halben Jahrhunderts hatte sich das Geschlechterverhältnis in der Arzneimittelabgabe also nahezu umgekehrt. Hoffmann konstatiert, dass eine Sattelzeit, in der sich der geschlechterspezifische Arzneimittelkonsum von einem zunächst starken und dann geringer werdenden Überwiegen der an Männer abgegebenen Medikamente zu einem deutlicher werdenden Frauenüberhang veränderte, die Zeit um 1850 war.3 Die Ursachen für diesen Wandel sind auf Grundlage der Rezeptkopierbücher – aufgrund des fehlenden Diagnosebezugs – nur schwer zu erfassen. Hoffmanns Untersuchung der Rezepturen ergibt weder eine Medikamentengruppe noch ein Behandlungsspektrum, das den höheren Konsum der Frauen ab Mitte des 19. Jahrhunderts allein erklären könnte. Vielmehr zeigt die Analyse, dass sich die an weibliche und männliche Patienten abgegebenen Arzneimittel stark ähnelten, obwohl sich auch geschlechtsspezifische Differenzen, wie etwa die vermehrte Abgabe von Eisenpräparaten an Frauen andeuten. Diese wären es wert, auf eine breitere Datenbasis gestellt und noch genauer untersucht zu werden. Annika Hoffmanns Studie bietet mithin Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen zur Geschlechtergeschichte von Gesundheit und Krankheit.

Die Grenzen ihrer Untersuchung sind Annika Hoffmann durchaus bewusst, wenn sie betont, dass über den Arzneimittelkonsum selbst letztlich keine genauen Aussagen getroffen werden können, weil sich nicht nachvollziehen lässt, ob die erworbenen Medikamente auch tatsächlich eingenommen wurden. „Das hier untersuchte Phänomen“, so resümiert die Historikerin, „wäre letztlich also etwas präziser mit dem Terminus Arzneimittelabgabe beschrieben“ (S. 31). Das Ziel der Untersuchung ist jedoch die Dimension des Konsums, dies rechtfertigt den Titel des Buches.

Annika Hoffmann hat eine gut recherchierte und lesenswerte Studie geschrieben, die den geschlechterspezifischen Arzneimittelkonsum erstmals systematisch und auf Grundlage eines umfassenden Quellenkorpus in historischer Perspektive analysiert und zeigt, „dass ein Gesundheitshabitus auch binnen vergleichsweise kurzer Zeiträume neu geprägt werden kann“ (S. 201). Dies verweist auf die Handlungsspielräume sowie die große Bedeutung geschlechtssensibler Gesundheitspolitik und verdeutlicht zugleich den Gegenwartsbezug von Hoffmanns Untersuchung.

Anmerkungen:
1 Gerd Glaeske / Christel Schicktanz, BARMER GEK Arzneimittelreport 2012, Siegburg 2012, S. 13.
2 Vgl. etwa: Martin Dinges / Andreas Weigl (Hrsg.), Gesundheit und Geschlecht. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 22 (2011), 2.
3 Zum Begriff der Sattelzeit vgl. Reinhart Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: Werner Conze (Hrsg.), Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1972, S. 10–28, hier S. 14f.

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