A. Gehrig: Im Dienste der nationalsozialistischen Volkstumspolitik

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Titel
Im Dienste der nationalsozialistischen Volkstumspolitik in Lothringen. Auf den Spuren meines Großvaters


Autor(en)
Gehrig, Astrid
Erschienen
Anzahl Seiten
342 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Westemeier, Historisches Institut, Universität Potsdam

Astrid Gehrig legt mit ihrer akribischen Studie „Im Dienste der nationalsozialistischen Volkstumspolitik in Lothringen“ eine politische Biografie des subalternen SS-Führers und Beamten der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) Otmar Welck vor.

Welck, 1913 in der Südpfalz geboren, wuchs als Waisenkind in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf. Früh legte sich der gelernte Werkzeugschlosser auf den Nationalsozialismus fest; als 15-Jähriger trat er „voller Überzeugung“ (S. 29) in die Hitlerjugend, 1931 mit 18 Jahren in die SA und 1932 in die NSDAP ein. Nach einer hauptamtlichen Anstellung in der SA und einer kurzen Episode in der Wehrmacht gelang ihm in der Gestapo der berufliche und damit verbundene soziale Aufstieg vom „kleinen Beamten“ zum SS-Obersturmführer im Sicherheitsdienst (SD). Über eine Bekanntschaft zu Anton Dunckern, dem ersten Gestapochef des Saarlandes und späteren Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) und des SD in Lothringen-Saarpfalz, hatte Welck den Weg zur Gestapo gefunden. Die Gestapo durchlief ab 1936 einen Radikalisierungsschub von ihrer ursprünglichen Aufgabe der Gegnerbekämpfung zum „wichtigsten Organ der Durchsetzung eines rassistischen Gesellschaftsmodels“.1 Als Angehöriger der subalternen NS-Funktionselite der Gestapo und des SD wurde Welck zum Akteur der verbrecherischen NS-„Volkstumspolitik“ im nach 1940 de facto annektierten Lothringen.

Zuständig für die Belange der Sicherheitspolizei und des SD trat Welck 1940 seinen Dienst als Adjutant beim Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) Josef Berkelmann in Metz an. Damit saß er gleichsam an der Schnittstelle zwischen dem HSSPF und dem BdS. Beim HSSPF war ein regionaler Ableger der Dienststelle Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) eingerichtet; der RKF koordinierte die gesamte Bevölkerungspolitik der SS in Europa, ihm unterstanden alle Umsiedlungsaktivitäten. Die Vertreibungsmaßnahmen in Lothringen wurden über den HSSPF koordiniert, wobei Welck als dessen Adjutant bereits im November 1940 mit ersten Massendeportationen konfrontiert wurde; später übernahm er die Leitung der RKF-Dienststelle in Metz. Im Zusammenhang mit sexuellen Kontakten zwischen „fremdvölkischen“ Arbeitern und deutschen Frauen gab Welck nach Aktenlage am Schreibtisch nunmehr auch Urteilsempfehlungen für „Sonderbehandlungen“ von meist polnischen Männern – im Grunde eine administrativ angeordnete Tötung zur Durchsetzung „rassischer“ Prinzipien.

Am Beispiel der NS-„Volkstumspolitik“ zeigt Astrid Gehrig kenntnisreich die bekannte polykratische Struktur des NS-Staates auf; sie verweist dabei u. a. auf permanente Kompetenzstreitigkeiten bei den Ansiedlungsmaßnahmen und Vertreibungsaktionen zwischen dem von Hitler eingesetzten „Gauleiter und Reichsstatthalter“ Josef Bürckel, Himmlers HSSPF Berkelmann und Heydrichs BdS Dunckern, aber auch auf Verpflichtungen zu doppelten Loyalitäten bei den untergeordneten Ebenen – in Welcks Fall zum einen gegenüber dem HSSPF und zum anderen gegenüber dem BdS.

Als die Alliierten im Herbst 1944 nach Lothringen vordrangen, wurde Welck nach eigenen Angaben zum Brückenkopfkommandanten von Metz ernannt und will sogar zur Verleihung des Ritterkreuzes vorgeschlagen worden sein (S. 237). Letzteres mit Sicherheit ein Nachkriegsmärchen, aber dennoch exemplarisch für die Überbetonung und Überbewertung des Militärischen in Nachkriegserinnerungen der Tätergeneration, zumal der „politische Soldat“ und „kämpfende Verwaltungsbeamte“ Welck wohl bis Kriegsende an keinen Gefechten teilnahm. An diesem militärgeschichtlichen Teil der Arbeit ist etwas Kritik angebracht, da die Verfasserin hier unnötigerweise mehrmals auf diverse Interneteinträge als Belegstellen zurückgreift; diese sind insbesondere im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten von SS-Angehörigen jedoch alles andere als zuverlässig.

Bei Kriegsende im Mai 1945 begab sich Welck nicht in Gefangenschaft, sondern tauchte wie viele andere SS-Männer unter. Der für ihn undenkbare Untergang des „Dritten Reiches“ stürzte ihn zunächst in eine tiefe Lebenskrise. Mit der Legende eines „Ostflüchtlings“ konnte er einer Internierung entgehen und die Entnazifizierung unterlaufen. Im Rahmen der Vergangenheitspolitik Adenauers, die sich u. a. im Ausführungsgesetz zu Artikel 131 des Grundgesetzes niederschlug2, bemühte sich Welck ab 1953 erfolglos um eine Wiedereinstellung als Beamter. Von einer strafrechtlichen Verfolgung zeit seines Lebens verschont geblieben, gelang ihm schließlich als selbstständiger Baustoffhändler der berufliche und soziale Wiederaufstieg. Hochbetagt starb Welck 2009.

Astrid Gehrigs Studie ist aber viel mehr als nur eine politische Biografie eines SS-Führers. Denn es handelt sich bei Otmar Welck, wie es der Untertitel bereits aussagt, um den eigenen Großvater. Der hatte noch zu Lebzeiten seine Enkelin damit beauftragt, „sein Leben aufzuschreiben“, in der Erwartung, die von den Eltern/Großeltern betriebene Heroisierung und Viktimisierung fortzuschreiben. Bis an sein Lebensende war Welck um eine Würdigung seines „anständigen Verhaltens“ während des Nationalsozialismus und die Anerkennung seines Nachkriegsschicksals bemüht. Für Zweifel oder gar das Eingeständnis von Mitverantwortung blieb bei diesem Selbstverständnis kein Raum. Ein eigenes Unrechtsbewusstsein hat er zeitlebens nicht erkennen lassen, eine kritische und ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle hat er bis zuletzt vermieden (S. 320).

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Großvaters wurde für die Verfasserin zu einem schmerzhaften Prozess: „Es war nicht einfach, den eigenen Vater mit Rechercheergebnissen zu konfrontieren, die dem überlieferten Bild widersprachen und zu Korrekturen zwangen.“ (S. 7) Aber auch durch den Zuspruch des Vaters gelang es ihr, die in der Familie tradierten Legenden zu hinterfragen und damit verbundene Tabus zu durchbrechen. Die Verfasserin bewahrt dabei beeindruckend ihre kritische Distanz zum Forschungsobjekt. Immer wieder stellt sie die Nachkriegsaufzeichnungen des Großvaters, von diesem als „ein Stück Wahrheit für die Weltgeschichte“ betitelt (S. 309), die vorrangig dem Zweck der persönlichen Rehabilitierung dienten, sowie das tradierte Familiennarrativ neben ihre eigenen Ergebnisse und belegt so die selektive Verarbeitung der NS-Vergangenheit und unwahren Selbstzuschreibungen.

Astrid Gehrig verortet die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext und erinnert an die paradoxe Erinnerungspraxis, dass eben niemand Kontinuitäten zur NS-Zeit in der eigenen Familie wahrhaben will. So könne man über den Nationalsozialismus und die NS-Vernichtungspolitik informiert sein und zugleich den Anteil der eigenen Angehörigen verdrängen. Gegen den Befund von Harald Welzer: „Opa war kein Nazi“3, dass nämlich in der deutschen Familienerinnerung an den Nationalsozialismus und die Beteiligung an NS-Verbrechen die Verantwortlichkeit der Tätergeneration gerade von den Enkeln verleugnet wird, setzt die Verfasserin, wie von ihr selbst hervorgehoben, mit ihrer Studie einen klaren Kontrapunkt (S. 11f.).

Kritik darf am Verlag geäußert werden: Das Buch hätte ein Personenregister verdient – in den Anmerkungen finden sich viele hochinteressante personenbezogene Angaben, die so tendenziell verloren gehen. Zudem wünscht man sich bei einer Biografie einfach auch ergänzende Fotos. Das sollte der Verfasserin bei einer möglichen zweiten Auflage zugestanden werden.

Die vorgestellte Arbeit ist ein spannend zu lesender Beitrag zur Täterforschung. Aber vor allem ist sie ein gelungenes Beispiel, wie eine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der eigenen Familiengeschichte aussehen kann.

Anmerkungen:
1 So die bei Gehrig (S. 47) zitierte Charakterisierung durch Gerhard Paul, Die Gestapo, in: Deutsche Hochschule der Polizei (Hrsg.), Ordnung und Vernichtung. Die Polizei im NS-Staat. Ausstellungskatalog, Berlin 2011, S. 54–65, hier S. 56.
2 Vgl. hierzu Curt Garner, Schlußfolgerungen aus der Vergangenheit? Die Auseinandersetzungen um die Zukunft des deutschen Berufsbeamtentums nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Ende des Dritten Reiches– Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau, München, Zürich 1995, S. 607–674.
3 Harald Welzer / Sabine Moller / Karoline Tschuggnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002. Siehe dazu die Rezension von Isabel Heinemann bei H-Soz-Kult, 18.09.2002, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-1544> (22.07.2015).

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