B. Vierling: Kommunikation als Mittel politischer Mobilisierung

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Titel
Kommunikation als Mittel politischer Mobilisierung. Die Sudetendeutsche Partei (SdP) auf ihrem Weg zur Einheitsbewegung in der Ersten Tschechoslowakischen Republik (1933–1938)


Autor(en)
Vierling, Birgit
Reihe
Studien zur Ostmitteleuropaforschung 27
Erschienen
Anzahl Seiten
592 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Stefan Dölling, Berlin

Gegenstand der Dissertation von Birgit Vierling, die 2011 an der Universität Regensburg angenommen wurde und nun als Band 27 der Reihe „Studien zur Ostmitteleuropaforschung“ des Herder-Instituts vorliegt, ist die „Sudetendeutschen Heimatfront“ (SHF), die auf behördlichen Druck seit 1935 unter dem etwas zivileren Namen „Sudetendeutsche Partei“ (SdP) firmierte. Gegründet im Jahr 1933 als Reaktion auf das behördliche Verbot der sudetendeutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei (DNSAP) sowie der Deutschnationalen Partei (DNP), gelang es dieser selbsternannten „Bewegung“ unter ihrem „Führer“ Konrad Henlein binnen kürzester Zeit, nicht nur zur mitgliederstärksten Partei der deutschen Minderheit in der ČSR zu avancieren, sondern – gerade einmal anderthalb Jahre nach ihrer Gründung – bei der Parlamentswahl von 1935 mit über 1,2 Millionen errungener Stimmen sogar mehr Wähler auf sich zu vereinigen, als jede andere Partei im gesamten Staat. Beflügelt von diesem Erfolg realisierte die SdP in den folgenden Jahren in den deutschen Siedlungsgebieten der ČSR mit rasantem Tempo ihre Vision einer „sudetendeutschen Volksgemeinschaft“, indem sie nach und nach fast alle anderen Parteien und Organisationen der deutschen Minderheit in ihre „Bewegung“ überführte. Diese bemerkenswerte freiwillige „Gleichschaltung“ führte noch vor dem „Anschluss“ des Sudetenlandes im Jahr 1938 zu deutlich über 1 Million Parteimitgliedern – bei einer sudetendeutschen Gesamtbevölkerung um die 3,5 Millionen.

Während insbesondere die Organisationsgeschichte der SdP bereits Gegenstand historischer Forschungen war, wurde ihre Geschichte, wie Vierling eingangs zu Recht anmerkt, bislang in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ihrer tatsächlichen oder imaginierten Abhängigkeiten und Verbindungen zu Akteuren und Organisationen des „Dritten Reichs“ untersucht. Dieser enge Fokus auf Deutschland und das weitgehende Ausblenden endogener Faktoren hatte zur Folge, dass die Beantwortung der zentralen Frage nach den Ursachen und Mechanismen hinter dem Erfolg der SHF/SdP beim sudetendeutschen (Wahl-)Volk bislang kaum über begründete Vermutungen hinausgekommen ist. Vierlings Ansatz setzt sich hiervon ausdrücklich ab und folgt vielmehr neueren Arbeiten, welche die Sudetendeutschen nicht primär als Erfüllungsgehilfen reichsdeutscher Expansionspolitik begreifen, sondern diese in ihrem, aus eigenen Zusammenhängen und Logiken gespeisten, Denken und Handeln ernst nehmen.1 Mit diesem erklärten Fokus auf die sudetendeutschen Akteure sucht die Autorin auf insgesamt 494 Textseiten die eingangs klar formulierte Leitfrage: „Warum und mit welchen Mitteln gelang es der SHF/SdP, derart viele Menschen zu mobilisieren und diese längerfristig an sich zu binden?“ (S. 3) zu beantworten und schickt sich damit an, eine wichtige Forschungslücke der deutsch-tschechischen Geschichte zu schließen.

Ein kurzes Einleitungskapitel mit der knappen Formulierung des eigenen Vorhabens, einer ebenso knappen, aber adäquaten Skizzierung des einschlägigen Forschungsstandes sowie einer luziden Skizzierung ihrer theoretischen Grundlagen dient Vierling als Einstieg in das Thema. Angesichts der eingangs formulierten Leitfrage überrascht die Autorin dabei bereits eine Seite später mit der Einschränkung: „Das Interesse gilt […] in erster Linie der Kommunikator-Perspektive und nur eher nachrangig den Rezipienten“ (S. 4). Eine solche Verengung des Zugangs wirft unweigerlich die Frage auf, wie die Autorin ohne eine systematische Betrachtung der Rezipientenebene den „Warum“-Teil ihrer Leitfrage überhaupt beantworten will. Die Antwort kann an dieser Stelle bereits vorweg genommen werden: Sie kann es nicht. Die konzise Darstellung des Forschungsstandes weist zudem bereits auf ein weiteres Problem hin, dass sich auf die gesamte Studie auswirkt: Es wird deutlich, wie unterforscht die Parteien der Ersten Tschechoslowakischen Republik im Allgemeinen und deren politische Kommunikation im Besonderen, immer noch sind. Infolgedessen fehlt Vierling aber in weiten Teilen der Arbeit ein zentraler Referenzpunkt, um die verschiedenen Maßnahmen und Kommunikationsstrategien der SHF/SdP im Umfeld ihrer Vorläufer und politischen Mitbewerber überhaupt verorten und somit bewerten zu können, zumal auch ein systematischer Vergleich mit der NSDAP oder anderen faschistischen Bewegungen in Europa unterbleibt.

Das zweite Kapitel der Arbeit widmet sich dem „gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umfeld“ der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Hier skizziert Vierling auf Grundlage der vorhandenen Fachliteratur souverän zentrale Erkenntnisse zu Lage und Stimmungsbild der Sudetendeutschen der 1920er- und 1930er-Jahre, die zum Verständnis der späteren Entwicklung der SHF/SdP notwendig sind.

Dem folgt im dritten Kapitel eine detaillierte Ereignis- und Organisationsgeschichte der Partei von 1933 bis 1938. Dabei zeigt Vierling überzeugend, wie stark die neu gegründete Partei bei ihrem rasanten Wachstum auf bestehende, persönliche Netzwerke, insbesondere des „Deutschen Turnverbandes“ (DTV) und der gerade verbotenen rechten Parteien, zurückgriff. Sie stellt auch heraus, wie die Partei, einer Graswurzelbewegung gleich, von unten nach oben wuchs und sich durch gezielte Maßnahmen – wie etwa die Einrichtung eines „Freiwilligen Arbeitsdienstes“ zu Gunsten der angestrebten „Volksgemeinschaft“ – von den traditionellen Parteien, die angeblich nur redeten, aber nicht handelten, abgrenzte. Ebenso wird deutlich, wie die SHF/SdP durch Übernahme und Modifikation von zentralen Alleinstellungsmerkmalen anderer Parteien – etwa durch Anleihen bei der Sozialdemokratie bei der Ansprache von Frauen als Mitglieder und Wählerinnen – breite Schichten der Bevölkerung ansprechen konnte.

Nach einer kurzen, eher problematischen Darstellung Konrad Henleins als „schwachem Führer“ und Mann, der angeblich „keine klare politischen Überzeugungen hatte“ (S. 83), begibt sich Vierling auf die Suche nach dem Programm der SHF/SdP, nur um dann – vorhersehbarerweise – zu konstatieren, dass die Partei, die sich selbst ja ausdrücklich nicht als Partei, sondern als „Bewegung“ verstand, ein solches nie vorlegte. Das einzige je klar formulierte Ziel, nämlich die Herstellung einer kaum konkret zu fassenden, „sudetendeutschen Volksgemeinschaft“ als utopischer Zielvision und Ersatz für konkrete politische Forderungen, wird erst danach behandelt, wobei eine Verortung innerhalb der mittlerweile recht umfangreichen Forschungsdebatte zur „Volksgemeinschaft“ leider unterbleibt.2 Vielleicht wäre es zielführender gewesen, die nachfolgende Erkenntnis, dass es sich bei der SHF/SdP nicht um eine Partei im eigentlichen Sinne, sondern um eine eigenständige, „faschistisch geprägte Massenbewegung“ (S. 118) gehandelt habe, der Arbeit voranzustellen und die folgende Analyse stärker an dieser Erkenntnis auszurichten. Möglicherweise würde Vierling dann auch nicht wiederholt der Versuchung erliegen, die Frage beantworten zu wollen, wie „nationalsozialistisch“ die SHF/SdP denn nun wirklich gewesen, beziehungsweise wann sie es geworden sei, obgleich die Autorin selbst den Erkenntnisgewinn aus der Beantwortung dieser Frage eingangs als „gering“ einstuft (S. 7).3 Demnach wäre die SHF/SdP „erst nach den Parlamentswahlen vom Mai 1935 allmählich nationalsozialistisch eingefärbt“ worden (S. 493) und hätte sich vorher vom NS distanziert (S. 96), obgleich Vierling an anderer Stelle – zutreffend – konstatiert, dass die Hinwendung zum NS „fast zwangsläufig war, als ein derartiger Totalitarismus bereits von Anfang an im Gedankengut der Partei angelegt war“ (S. 114).

Abgesehen davon, dass das von ihr für die angebliche „NS-Ferne“ der Partei ins Feld geführte Argument, dass „sich in Henleins Reden bis 1937/1938 keine antisemitischen Bemerkungen finden“ ließen (S. 100) nicht nur angesichts des in der Partei und allen angeschlossenen Organisationen de facto existenten, aus Henleins DTV übernommenen, „Arierparagraphen“ zu kurz greift4, führt Vierling auch nie aus, was sie mit der von ihr offenbar als Analysekategorie genutzten, ja nur scheinbar eindeutigen Zuschreibung „nationalsozialistisch“ eigentlich konkret meint. Sie ignoriert dabei den Umstand, dass auch im reichsdeutschen Nationalsozialismus zu verschiedenen Zeiten verschiedene ideologische Strömungen teilweise heftig um die Deutungshoheit stritten. Die wenig überzeugende Suche Vierlings nach „dem“ Nationalsozialismus in der SHF/SdP offenbart allerdings nur, dass sie diese als eigenständige faschistische Massenbewegung mit vor allem endogenen Traditionen und Handlungslogiken – und damit ihren eigenen Ansatz – nicht konsequent ernst nimmt.

Im Folgenden, vierten Kapitel zum „Kommunikationssystem der SHF/SdP“ analysiert sie systematisch die verschiedenen, an der Formulierung und Umsetzung der Parteikommunikation beteiligten Strukturen und Akteure. Dabei stellt sie überzeugend heraus, wie die SHF/SdP für verschiedene Zielgruppen jeweils zielgerichtet Kommunikationsstrategien und -kanäle entwickelte und nutzte. Vierling zeichnet quellennah und überzeugend die verschiedenen Facetten der Pressearbeit, der genutzten Plakate und Flugblätter sowie der besonderen Rolle der konsequent „volksgemeinschaftlich“ inszenierten Parteiveranstaltungen nach. Auch die Rolle von Gewaltandrohung und -ausübung als Mittel von Propaganda und Mobilisierung wird am Beispiel der paramilitärisch auftretenden Parteiordner beleuchtet. Es ist positiv hervorzuheben, dass der Verlag dem Leser im ohnehin gut ausgestatteten Anhang neben verschiedenen Registern und dem Abkürzungsverzeichnis auch farbige Abbildungen von 22 im Text besprochenen Plakaten und Flugblättern an die Hand gibt.

Mindestens ebenso spannend wie die Analyse der Kommunikation mit der Wählerschaft ist Vierlings Untersuchung der parteiinternen Kommunikation und der Mitgliederwerbung. Die dabei deutlich zu Tage tretende Mischung aus Basisorientierung, niedrigschwelligen Partizipationsangeboten, aber auch extrem hierarchischer Steuerung und massivem (Leistungs-)Druck lässt allerdings das Fehlen einer konsequenten Rezipientenanalyse schmerzlich offenbar werden. Denn die sich aufdrängende Frage, warum Mitglieder der SHF/SdP angesichts der an Drückerkolonnen erinnernden Methoden der Partei weiter die Stange hielten, kann so kaum beantwortet werden.

Im fünften Kapitel untersucht Vierling schließlich kenntnisreich die konkreten Wahlkämpfe der SdP der 1930er-Jahre, zeigt Entwicklungen und Kontinuitäten der Kommunikation mit Wählern und Basis in der sich verändernden politischen „Großwetterlage“ auf, wobei einige Überschneidungen mit dem vorangegangenen Kapitel wohl unvermeidbar waren. Nicht wirklich in die Architektur der Studie passend erscheint hingegen das sechste Kapitel, dessen erster Teil zur diskursiven Praxis der Partei vielleicht besser in vorangegangene Abschnitte integriert worden wäre und dessen zweiter Teil zur „Internationalisierung der sudetendeutschen Frage“ – nicht zuletzt in Ermangelung einer Untersuchung der Wirkung dieser Entwicklung auf Mitglieder und potenzielle Wähler – in der dargebotenen Form kaum Antworten auf die Leitfrage der Arbeit bieten kann. Ein kurzes Schlusskapitel fasst die Ergebnisse der Studie abschließend bündig zusammen.

Obgleich sie die eigene Forschungsleitfrage mit dem gewählten Ansatz leider nur zum Teil beantworten kann, stellt die Dissertation Birgit Vierlings einen echten Steinbruch für die weitere Beschäftigung mit Politikbetrieb und Parteienspektrum der Ersten Tschechoslowakischen Republik dar. Man kann daher dem Wunsch der Autorin aus ihrem Schlusswort nach weiteren, an ihre Arbeit anknüpfenden, Studien vorbehaltlos zustimmen. Denn die Fülle und Güte der hier zusammengetragenen Erkenntnisse zur politischen Kommunikation der SHF/SdP verlangt geradezu nach weiteren, kontextualisierenden und vergleichenden Arbeiten zu anderen sudetendeutschen (und tschechoslowakischen) Parteien sowie den verschiedenen faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit.

Anmerkungen:
1 Siehe z.B.: René Küpper, Karl Hermann Frank (1898–1946). Politische Biographie eines sudetendeutschen Nationalsozialisten, München 2010 oder Mark Cornwall, The Devil’s Wall. The Nationalist Youth Mission of Heinz Rutha, Cambridge, MA 2012 sowie das von Stefan Troebst geleitete und von Wilfried Jilge bearbeitete Forschungsprojekt zum „Heroischen Nationalismus“ des sudetendeutschen „Kameradschaftsbundes“: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/projekte/id=446> (14.08.2014).
2 Vgl. bspw.: Frank Bajohr / Michael Wildt (Hrsg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009.
3 Die Debatte, auf die Vierling sich hier bezieht, findet sich in: Bohemia 38 (1997), S. 357–385 und 39 (1998), S. 96–109, mit Beiträgen von Friedrich Prinz, Christoph Boyer, Jaroslav Kučera, Václav Kural, Ronald Smelser, Ralf Gebel, Andreas Luh und Wilfried Jilge.
4 Vgl.: Wolfgang Benz (Hrsg.), Handbuch des Antisemitismus, Band 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen, Berlin 2012, S. 593.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/