M. Wildt u.a. (Hrsg.): Berlin 1933–1945

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Titel
Berlin 1933–1945. Stadt und Gesellschaft im Nationalsozialismus


Herausgeber
Wildt, Michael; Kreutzmüller, Christoph
Erschienen
München 2013: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
496 S., mit Abb.
Preis
€ 24,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franka Maubach, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Im gegenwärtigen Großgedenken an den Beginn des Ersten Weltkriegs ist es fast wohltuend, einen Band zur Hand zu nehmen, der seine Entstehung noch dem Gedenkjahr 2013 verdankt, als die nationalsozialistische Machtübernahme 70 und das Novemberpogrom 75 Jahre zurücklagen. Das Buch „Berlin 1933–1945“ liest sich, dies sei vorweggenommen, schnell und gut und hält gleichwohl viele komplexe, herausfordernde Erkenntnisse bereit. Als wissenschaftlicher Beitrag zum Themenjahr „Zerstörte Vielfalt. Berlin im Nationalsozialismus“ entstanden, zeigt es im Grunde das genaue Gegenteil: dass Berlin bei aller symbolischen und gewaltsamen Umgestaltung in die nationalsozialistische Reichshauptstadt zahlreiche Nischen der Vielfalt bereithielt, welche die Herstellung einer homogenen „Volksgemeinschaft“ irritierten, als Fluchträume dienten oder Widerstand ermöglichten. Berlin blieb heterogen, auch und gerade im Nationalsozialismus. „Nur selten“, schreiben Cord Pagenstecher und Marc Buggeln beispielsweise mit Blick auf die Geschichte der Berliner Zwangsarbeiter, „war Berlins Einwohnerschaft internationaler“ (S. 127). Der nach der Lektüre zurückbleibende Eindruck einer höchst ambivalenten Geschichte hat etwas mit dem konzentrierten Fokus auf den Mikrokosmos des städtischen Raumes zu tun: Im Dreidimensionalen sind geradlinige Thesen eben schwer zu haben.

Dabei ist die Geschichte der Stadt im Nationalsozialismus immer noch von stereotypen Allgemeinplätzen dominiert. Berlin stehe, so Michael Wildt und Christoph Kreutzmüller, „pars pro toto für den deutschen Regierungssitz“ und werde häufig „zur Chiffre reduziert“. Die Kenntnisse „über das Innenleben der Stadt und ihre spezifische Eigenlogik“ seien „erstaunlich gering“ (S. 7). Was unterschied diese Metropole von anderen Zentren und von der Provinz? Diese Frage der Herausgeber fördert eine Vielzahl differenzierter Erkenntnisse zutage, wie die über 20 Beiträge zeigen, die durch Teile zur Machtübernahme und zum Krieg (Thomas Schaarschmidt, Laurenz Demps) chronologisch gerahmt und darin thematisch geordnet sind: „Herrschaft und Verwaltung“, „Wirtschaft“, „Gesellschaft“, „Kultur“, „Terror und Verfolgung“.

Schon der erste Aufsatz zur Machtübernahme räumt mit einem lang gehüteten Klischee auf: Oliver Reschke und Michael Wildt zeigen, dass die Vorstellung vom „roten Berlin“ so eindeutig nicht zu halten ist, weil in bürgerlichen Kiezen wie Wilmersdorf oder Zehlendorf nach dem Ersten Weltkrieg traditionell deutschnational oder bereits nationalsozialistisch gewählt wurde. Selbst Arbeiterhochburgen wie der Wedding konnten durch die von Daniel Siemens im Beitrag zur SA analysierte Politik der „Prügelpropaganda“ geschleift werden. Eindrücklich beschreiben auch andere Autoren die massive Politik zur Eroberung des städtischen Raums auf allen Ebenen. Die Etablierung paralleler Parteistrukturen, durch die etwa dem DNVP-Oberbürgermeister Sahm der nationalsozialistische Staatskommissar bzw. Stadtpräsident Lippert an die Seite gestellt wurde, welcher sozusagen „reichsunmittelbar“ regierte, führte dazu, dass Berlin, wie Christoph Kreutzmüller pointiert, zur „Provinz des Reiches“ wurde (S. 66). Reichs-, Land- und Stadtpolitik durchdrangen sich wechselseitig und überlagerten einander wie in keiner anderen Stadt (Stefan Hördler, S. 310). Aber auch symbolpolitisch musste Berlin immer neu erobert werden: durch zahlreiche Massenrituale zur Schaffung und Stabilisierung der „Volksgemeinschaft“, die nur in der Großstadt möglich waren, weil sich – banal, aber treffend – „Massenveranstaltungen […] nur dort inszenieren [ließen], wo es Massen gab“ (Björn Weigel, S. 257).

Solche (Propaganda-)Bilder der Monopolisierung von Macht haben wir alle im Kopf. Betrachtet man die Stellung und Bewegung der Menschen im großstädtischen Raum jedoch genauer, entstehen ambivalentere Bilder, worauf Klaus Hesse in seinem Beitrag zur Propagandafotografie verweist. Die präzise und umsichtig kommentierten Fotos (insgesamt ca. 25), die die Buchteile einleiten und auch sonst in den Text eingearbeitet sind, belegen das eindrücklich; ihnen kommt eine eigene ästhetische wie argumentative Rolle zu. Schon das erste Bild eines SA-Triumphzuges am Tag der „Machtergreifung“ ist weniger eindeutig, als die Fotografen es sich wünschen konnten: Die SA marschierte nicht ordentlich in Reih und Glied, und die Menge war weniger „begeistert als neugierig“ (Wildt / Kreutzmüller, S. 16). Die Szene musste nachgestellt werden, und es sind diese inszenierten Bilder, die bis heute häufiger gezeigt werden und unseren Sehklischees entsprechen. Zwar war der Kampf um die Deutungsmacht über den Raum phasenweise weniger notwendig (der frenetische Blitzkriegsjubel 1939/40 war echt), aber er hörte nie auf. Jugendliche, die laut Eva Balz in Berlin stärker als in anderen Städten mit extremer Gewalt und dem Umsturz aller Selbstverständlichkeiten konfrontiert waren, hörten auf Parkbänken Jazz. Kritiker der antisemitischen Stadtpolitik, des Aprilboykotts und des Novemberpogroms ließen sich den Mund auch öffentlich nicht immer verbieten (Wolf Gruner); Nischen eines weit verstandenen Widerstands blieben. Eindrücklich beschreibt Manfred Gailus den protestantischen Kirchenkampf zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche, der an einem Adventssonntag 1934 zu einem kakophonen Gottesdienst in der Schöneberger Apostel-Paulus-Kirche führte: Zwei Prediger fielen einander ins Wort, die Orgel der einen Seite dröhnte gegen die Adventslieder der anderen – ein obskurer Kampf um die „Vorherrschaft im Kirchenraum“ (S. 166).

Mit Blick auf die nationalsozialistische Verfolgungspolitik zeigt sich gleichwohl, dass die Analyse von Nischen in der Metropole ihre entschiedene Grenze hat. Gruner betont, dass die städtische Politik die Judenverfolgung sogar „oft nachhaltiger radikalisierte als Straßengewalt oder nationale Gesetze“ (S. 322). Fotografische Sujets, die die Ausgrenzung und Verfolgung dokumentieren, fehlen jedoch weitgehend – im Unterschied zum übrigen Reichsgebiet (Hesse, S. 289). Dass es kein Foto von den Deportationen zu den eigens dafür gebauten Bahnhöfen gibt, verweist, so Christian Dirks und Björn Weigel in ihrem Beitrag zur Infrastruktur, noch heute auf das damalige Verdrängungsbedürfnis der Bevölkerung (S. 105). Zeitgenössisch schlug sich dieses in vielfältigen Politiken der Separierung nieder. Im Siemens-Werk sollten die jüdischen Arbeiter von den nicht-jüdischen durch verstellbare Trennwände ferngehalten werden (Pagenstecher / Buggeln, S. 128f.). In Bahnen und Zügen durften Juden ab 1941 „nur mit polizeilicher Erlaubnis und außerhalb der Hauptverkehrszeiten“ Platz nehmen – sofern „dadurch keine anderen Fahrgäste stehen mussten“ (Dirks / Weigel, S. 107). Die jüdischen Deutschen wurden in Judenhäusern zusammengepfercht, jüdische Kinder mussten jüdische Schulen besuchen. Zwar gingen diese repressiven Raumordnungen nicht vollends auf, weil die schiere Menge gesonderter Räume (wie der über 3.000 Berliner Zwangsarbeiterlager) gar nicht zu übersehen war und weil Stimmen der Kritik nie ganz unterdrückt werden konnten. Die zeitgenössische Separierung bildete aber wohl doch die Voraussetzung für die späteren Rationalisierungs- und Legitimationsstrategien der Bevölkerung, ‚nichts gewusst‘ zu haben.

Die immer neuen Anläufe zur Besetzung des hauptstädtischen Raums sind eine besonders interessante Linie der Analyse. Sie erscheinen spezifisch für eine Metropole, die die homogene „Volksgemeinschaft“ geradezu idealtypisch repräsentieren sollte, daran aber – durch die heterogene Bevölkerung, gegenläufige Prozesse sichtbarer Verfolgung oder die Einwirkungen des Kriegs auf die Hauptstadt – immer wieder gehindert wurde. Fast alle Autorinnen und Autoren versuchen diese Spezifik herauszuarbeiten; wo dieser Fokus verloren geht, stehen die Texte in der Gefahr, zu Kompendien willkürlicher Reiseführer-Informationen zu werden – nach dem von Wildt und Kreutzmüller schon im ersten Satz zitierten Motto Erich Kästners: „Berlin wird von 4.500.000 Menschen bewohnt und nur, laut Statistik, von 32.600 Schweinen. Wie meinen?“ In der Fülle der Informationen droht der Leser stellenweise unterzugehen, wenn er kein eigenes Erkenntnisinteresse formuliert.

Erst im Vor- und Zurückblättern entstehen interessante Bezüge zwischen den Texten, die etwa die Veränderungen im Raum aus unterschiedlichen Perspektiven erhellen. Ein Beispiel zum Schluss: Gleich in sechs Aufsätzen wird vom Lustgarten berichtet, einem der zentralen, auf der Museumsinsel gelegenen Berliner Plätze. Noch am 8. Februar 1933 kommentierte der „Vorwärts“ nach einer dortigen Protestkundgebung, bei der 200.000 Menschen zusammengekommen waren, siegesgewiss, dass Berlin nicht Rom sei und niemals „Hauptstadt eines Faschistenreiches“ werden könne (Rüdiger Hachtmann / Christoph Kreutzmüller, S. 114; Johannes Tuchel, S. 199). Drei Jahre später wurde der zuvor sandgedeckte Platz, höchst symbolträchtig, durch einen steinernen Plattenbelag als nationalsozialistischer Aufmarschplatz neugestaltet und dadurch eindeutig definiert (Matthias Donath, S. 230). Nun fanden hier die nationalsozialistischen Maifeiern statt (Hesse, S. 283). Aber es gab Versuche der Wiederbemächtigung eines Platzes, der in der Weimarer Republik besonders der Arbeiterbewegung als Ort für politischen Protest gedient hatte: So verübte die kommunistische, vor allem aus jüdischen Deutschen bestehende Widerstandsgruppe um Herbert Baum im Mai 1942 einen Anschlag auf die antisowjetische Ausstellung „Das Sowjet-Paradies“ (Tuchel, S. 201; Gruner, S. 319). Solche Bezüge müssen sich die Leser/innen selbst zusammensuchen – es wäre hilfreich gewesen, die Beiträge auch entlang von Orten zu strukturieren. Mindestens aber hätte ein solches Buch ein ausführliches Ortsregister erfordert, das die Beiträge erschließt und in Beziehung setzt. Das fehlt dem Band, der ja gerade dazu anregt, dem vielfältigen Prozess der nationalsozialistischen Umgestaltung Berlins – ganz wörtlich verstanden – Schritt für Schritt nachzugehen.