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Titel
Antisemitismus. Geschichte, Theorie, Empirie


Autor(en)
Salzborn, Samuel
Reihe
Interdisziplinäre Antisemitismusforschung 1
Erschienen
Baden-Baden 2014: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
211 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Gerson, Institut für Judaistik, Universität Bern

Es ist heute evident, dass wir einem so komplexen Phänomen wie dem Antisemitismus nur gerecht werden können, wenn wir es aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven zu erfassen suchen. Das inzwischen auf sieben Bände angelegte „Handbuch des Antisemitismus“, das von Wolfgang Benz ediert wird, belegt, wie breit man diese Thematik angehen muss, um sie auch nur annährend umfassend darstellen zu können. So ist es ebenfalls nur sinnvoll und begrüßenswert, wenn der an der Universität Göttingen lehrende Politikwissenschaftler Samuel Salzborn mit seinem Band „Antisemitismus: Geschichte, Theorie, Empirie“ eine hoffentlich lange Reihe von Publikationen eröffnet, die den Antisemitismus aus der Optik verschiedener Disziplinen erforschen soll. Da im wissenschaftlichen Beirat der Buchreihe so innovative Forscher wie Raphael Gross und Natan Sznaider vertreten sind, wurden für das ehrgeizige Vorhaben gute Voraussetzungen geschaffen.

Dass eine dergestalt differenzierte Antisemitismusforschung zu Beginn des 21. Jahrhunderts gerade in Deutschland möglich ist, hat evidente historische Gründe: Die Auseinandersetzung mit der mörderischen Judenfeindschaft, die 1933 nach den großen Wahlerfolgen der Nationalsozialisten im Deutschen Reich schließlich an die Macht gelangte und zu Weltkrieg und Völkermord führte, bleibt bis in die Gegenwart nicht nur eine moralisch-ethische, sondern auch eine wissenschaftliche Herausforderung, die ihresgleichen sucht. Samuel Salzborn präsentiert im vorliegenden Werk kein geschlossenes System, mit dessen Hilfe er antisemitische Phänomene erklärt. Der vorliegende Band enthält eine Vielzahl teilweise recht kurzer, essayartiger Beiträge, die sich vielschichtig der Thematik annähern. Auch wenn Salzborn in einem kurzen Artikel auf Jean-Jacques Rousseaus problematisches Verhältnis zum Judentum eingeht, behandelt die Mehrzahl der einzelnen Kapitel den Antisemitismus im zeitgenössischen Deutschland. Der Autor teilt seine Reflexionen in drei Kategorien ein: historische Kontextualisierungen, theoretische Reflexionen und empirische Befunde. Bei den historischen Kontextualisierungen werden so bekannte Ereignisse in den Blick gerückt wie die Kontroverse um die SS-Mitgliedschaft von Günter Grass, aber auch unspektakulärere Debatten wie diejenigen um die Umbenennung von Straßennamen, die bisher Antisemiten, so beispielsweise den Historiker Heinrich von Treitschke, würdigen.

Salzborn erkennt wohl nicht zu Unrecht noch immer ein beträchtliches antisemitisches Potenzial in der heutigen deutschen Gesellschaft. Dabei handelt es sich, wie er korrekt beschreibt, meistens um einen „sekundären“ Antisemitismus, das heißt um eine Judenfeindschaft, die sich aufgrund des Holocaust manifestiert. Nicht nur die Tätergeneration, sondern auch die Nachgeborenen weigern sich häufig, sich der Verantwortung für diese mörderische Seite der deutschen Geschichte zu stellen. Für diese Haltung fand der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex die prägnante Umschreibung „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen“.

Im Abschnitt „theoretische Reflexionen“ analysiert der Autor konzise aktuelle antisemitische Diskurse im Kontext der sogenannten Globalisierungsgegner und auch bei der Bewegung, die zum Boykott israelischer Produkte und wissenschaftlicher Institutionen aufruft. Salzborn zeigt auf, wie mit Hilfe von Delegitimation, Dämonisierung und dem Anlegen von zweierlei Maß, „die Juden“ und „Israel“ publizistisch diffamiert und zu Sündenböcken gestempelt werden.

Bei den „empirischen Befunden“ ist Salzborns Beitrag über den „latenten Antisemitismus“ besonders bemerkenswert, da er wohl richtigerweise davon ausgeht, dass gerade in Deutschland aufgrund der historischen, aber auch medialen Bedeutung des Themas viele Menschen nicht direkt ihre Gefühle und Meinungen über „die Juden“ und „ihren“ Staat zu äußern wagen. Das Bewusstsein, dass negative Äußerungen zu diesem Themenkomplex leicht gegen einen verwendet werden können, erfordern bei demoskopischen Umfragen sehr differenzierte Fragestellungen, um schlüssige Aussagen zu erlangen. Wie dünn gerade auch die Tünche des viel gerühmten christlich-jüdischen Dialogs sein kann, macht Samuel Salzborn deutlich, wenn er aufzeigt, wie harsch beispielsweise die „christlichen“ Reaktionen ausfielen, als 2005 Kardinal Meisner Abtreibung und Holocaust als gleichwertige Verbrechen aufeinander bezog und jüdischerseits solche Vergleiche Empörung auslösten.

Es wird wohl jedem Leser nach der Lektüre dieses Sammelbandes deutlich geworden sein, dass auf die Antisemitismusforschung weiterhin viel Arbeit wartet. Es ist ein Verdient dieses Buches, dass es wichtige Problemfelder aufzeigt und – der zum Teil geringe Umfang der Einzelbeiträge legt es nahe – zu weiterführenden Forschungen anregt.

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