U. Krasberg: „Habe ich vergessen, ich hab nämlich Alzheimer!“

Cover
Titel
„Hab ich vergessen, ich hab nämlich Alzheimer!“. Beobachtungen einer Ethnologin in Demenzwohngruppen


Autor(en)
Krasberg, Ulrike
Reihe
Sachbuch Pflege
Erschienen
Anzahl Seiten
291 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Ehler Voss, Medienwissenschaft, Universität Siegen

Das Thema Arbeit ist der Einstieg, den Ulrike Krasberg in ihr Buch über Demenzwohngruppen in Deutschland wählt. Es beschreibt die Ethnologin bei der Arbeit, und das in doppelter Hinsicht. Indem die aus einer prekären ökonomischen Situation heraus geborene Arbeit in der Altenpflege mit einer ethnologischen Annäherung an eine für sie fremde Welt des Vergessens mit ihren eigenen ungewöhnlichen und befremdlichen Verhaltensweisen verschränkt wird, beginnt sie geschickt, eigene Biographie, ethnologische Methode und Forschungsgegenstand aufeinander zu beziehen, die sie fortan immer weiter miteinander verwebt. Die ungelernte pflegerische Arbeit wird zur Inspiration für die gelernte ethnologische Arbeit, die ethnologische Forschung zur Inspiration für die Pflege und alles zusammen zur Reflexion über die eigene Biographie und die allgemeine „Kunst des Lebens“. Vom Thema Arbeit gelangt Ulrike Krasberg immer auch über die eigene Erfahrung zum Alter, vom Alter zur Krankheit und von der Krankheit zum Tod, denn alle diese Aspekte verkörpern sich auch in den Heimbewohnern. Aus ihrer pflegerischen und ethnologischen Arbeit sowie eigenen biographischen Erfahrungen heraus nimmt sie eine in der Medizinethnologie weit verbreitete sozialkonstruktivistische Perspektive ein, hinterfragt die Pathologisierung dementer Zustände und beschreibt die Gründe und Effekte dieser Pathologisierung. In der Diskussion um die Frage nach den Ursachen für Demenz stellt sie sich damit auf die Seite derer, die darin die Folge eines normalen Alterungsprozesses sehen, in dem alle Organe – und daher auch das Gehirn – in individuell unterschiedlichem Maße einer zunehmenden funktionellen Einschränkung unterworfen sind. Zur „Krankheit“ werden demente Zustände aus dieser Perspektive nur unter bestimmten kulturellen Voraussetzungen. Damit wird das Buch über Demenz zu einer dichten Beschreibung der eigenen Kultur – einer Kultur, die Jugendlichkeit propagiert und den Wert des Menschen an seiner Arbeitsleistung misst, die den Tod aus dem Alltag ausgrenzt und damit aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt, einer Kultur, in der Schmerzfreiheit und der schnelle Tod wünschenswert erscheinen und einer Kultur, in der Individualität und Autonomie sowohl Ideal des Lebens sind als auch die Voraussetzung, um darin zu bestehen und in der die Familien- und Arbeitsstrukturen in der Regel nicht (mehr) darauf ausgelegt sind, den Verlust an Autonomie aufzufangen, einer Kultur, die das Rentenalter erfunden hat und durch ihre Medizin, die in der Lage ist, das Leben der Menschen insgesamt deutlich zu verlängern, die Idee einer dritten Lebensphase ermöglicht, einer Kultur, deren Medizin den Menschen als biologische Maschine versteht und im Gehirn das Zentrum und Wesen des Menschen verortet und daher Demenz allein defizitär als einen Verfall und Verlust deuten kann.

Gegen einen biologischen Determinismus sprechen die von Ulrike Krasberg angeführten Studien, die zeigen, dass die für eine Alzheimer-Diagnose als typisch angesehenen biologischen Veränderungen wie etwa Eiweißablagerungen im Gehirn nicht zwangsläufig zu Alzheimer-Symptomen führen müssen und umgekehrt Alzheimer-Symptome nicht zwangsläufig mit solchen biologischen Veränderungen einhergehen. Befunde wie diese, die ebenso die Genetik betreffen, deuten darauf hin, dass die eigene Biographie und Lebensweise und der soziale Umgang einen wichtigen Einfluss sowohl auf die Entstehung als auch auf den Verlauf dementer Zustände zu haben scheinen. Aus einer solchen Perspektive rückt der Umgang mit Dementen und damit die Pflegesituation in den Mittelpunkt der Betrachtung – zeigt sich doch, dass sich bei einem ungünstigen Umfeld demente Zustände schnell und stark verstärken. Als ungünstig wird vor allem die sich aus der für Deutschland herausgearbeiteten vorherrschenden Sicht auf Alter und das gute Leben ergebene negative und im Effekt herabwürdigende Betrachtung der Demenz gesehen. Aus der eigenen Erfahrung aus dem Pflegealltag und unter Berufung auf Arbeiten, die, wie etwa die des Briten Tom Kitwood, seit den 1990er-Jahren für ein Umdenken in der Pflege plädieren, wendet sich Ulrike Krasberg gegen das im doppelten Wortsinn gemeine Vorurteil, dass mit dem Verschwinden der Hirnleistungen auch die Persönlichkeit verschwindet und demente Menschen ab einem bestimmten Stadium nichts mehr wahrnehmen. An dieser Stelle tritt die Stärke langandauernder ethnologischer Feldforschung besonders deutlich zu Tage. Erst die Anerkennung der Fremdheit und Unbekanntheit des Anderen ermöglicht es, gewohnte Sichtweisen – etwa darüber, was Demente denken und wahrnehmen – zu hinterfragen. Durch eine die ethnologische Haltung auszeichnende interessierte Offenheit dem Fremden gegenüber und den Versuch, die eigenen Logiken des Fremden zu verstehen, weicht die anfänglich irritierende Fremdheit einem zunehmenden Verständnis und führt zu überraschenden Einsichten und Neubewertungen. Die ethnographierten Fremden sind in diesem Fall vor allem die dementen Heimbewohner. Indem sie versucht, diesen auf Augenhöhe zu begegnen, erscheinen sie ihr nicht wie vielen Außenstehenden, Pflegenden und Angehörigen als bedauernswerte Menschen, die in einen beklagenswerten Prozess des Verlustes und langsamen Sterbens eingetreten sind, sondern ganz neutral als andere Menschen mit anderen und vielfach unverständlichen Verhaltensweisen, deren Sinn sich erst nach und nach und durch längeren Kontakt erschließt. So wird etwa ihr Eindruck, die Bewohner beherrschten bestimmte Höflichkeitsetikette nicht mehr, durch die Erkenntnis ersetzt, dass sie vielmehr ihre eigenen Höflichkeitsformen kultivieren. Insgesamt entdeckt sie eine ganz eigene Art der Kommunikation, die unter anderem durch die Abnahme der kognitiven Fähigkeiten viel stärker auf andere körperliche Organe verlagert wird. Zunehmende Aggressivität etwa erscheint dann nicht mehr als eine Persönlichkeitsveränderung, sondern unter anderem als Reaktion auf unangemessene Pflege, oder die ständige Wiederholung gleicher Geschichten erscheint nicht mehr als Ausdruck lächerlicher Sinnlosigkeit, sondern als spezifische Art der Vergangenheits- und Traumabewältigung.

Die Ethnographie wäre jedoch nicht vollständig, gehörte zu dem ethnologischen Perspektivenwechsel nicht auch die Darlegung der Situation der Angehörigen und der Pflegenden. Aus ihrer eigenen – als ungelernte Pflegekraft randständigen – Position heraus, entwickelt Ulrike Krasberg besonders die letztere Perspektive ausführlich und muss dabei immer wieder ernüchternd feststellen, dass es nicht einfach nur der gute Wille ist, der zu einer guten Pflege fehlt, sondern selbst in den Demenzwohnheimen, die auf konzeptueller Ebene versuchen, die individuellen Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner zu berücksichtigen, der Umsetzung dieser Konzepte Grenzen gesetzt sind durch die Auswirkungen der an die ökonomischen Bedingungen des Gesundheitssystems angepassten Organisationsstruktur. Begleitet werden ihre ethnographischen Beschreibungen von eingefügten Fragmenten aus medizinischer, sozialwissenschaftlicher, philosophischer, journalistischer und ratgebender Literatur, die die Perspektiven auf das Thema Demenz weiter auffächern.

Das Buch macht einmal mehr deutlich, welche praktische Relevanz und positive Auswirkung ethnologische Forschung auch für die Ethnographierten haben kann, wenn sie gängige Grundannahmen in Zweifel zieht und alternative Sichtweisen aufzeigt – wie es auch andere Arbeiten zum Thema Demenz, etwa von Christian Meyer1 oder die Beiträge in dem im Buch nicht erwähnten Sammelband von Leibing und Cohen2 zeigen. Ein Perspektivenwechsel führt häufig nicht nur zu einer mehr oder weniger leichten Verschiebung, sondern zu einer vollständigen Umkehrung der Perspektive. Nachdem Ulrike Krasberg zunächst die perspektivenverschiebende Frage stellt, was denn so schlimm daran sein solle, wenn man sich nicht mehr selbst versorgen könne und ob es daher wirklich angemessen sei, Demenz als Geißel der Menschheit zu bezeichnen, nimmt auch sie am Ende die von der Ethnologie oft angestrebte Umwertung zentraler Werte vor, indem sie die dementen Zustände mit zahlreichen und weltweit verbreiteten Ekstasepraktiken in Bezug setzt, bei denen zumindest temporär Arten der Seins- und Selbstvergessenheit angestrebt werden, die bei der Demenz gewöhnlich als Defizit gedeutet werden, andernorts aber nicht selten als bevorzugte, zumindest aber höherwertige Zustände gelten. So fällt es am Schluss gar nicht mehr schwer, ihr zu glauben, dass sie nach ihren Erfahrungen in den Demenzwohngruppen selbst keine allzu große Angst davor hat, zumindest unter guten Bedingungen irgendwann selbst einmal unter die Kategorie dement zu fallen, scheint doch angesichts ihrer Beschreibung plötzlich weniger der demente Zustand als vielmehr die Reaktionen des Umfeldes darauf ein Grund für Angst und Schrecken zu sein. Trotz einer solchen Umkehrung der Perspektive werden die Herausforderungen und Probleme der Angehörigen, Pflegenden und der Gesellschaft im Allgemeinen nicht ausgeblendet und daher läuft das Buch letztlich auch nicht auf eine Idealisierung dementer Zustände hinaus, sondern vielmehr auf deren Normalisierung zumindest im höheren Alter, das heißt auf ein Plädoyer für eine Normalisierung des Alters und der damit verbundenen Prozesse als eine spezifische Lebensphase und eine wertschätzende Anerkennung deren positiver Seiten.

Man kann jedem dementen Menschen nur wünschen, auf möglichst viele Menschen zu treffen, die so mit ihnen umgehen, wie Ulrike Krasberg es von sich berichtet: unvoreingenommen bzw. sich ständig selbst hinterfragend und bereit, aus Fehlern zu lernen, präsent, einfühlsam, unaufgeregt und respektvoll, geduldig, kreativ, herzlich und humorvoll und dadurch offenbar in der Lage, aus der pflegenden Begegnung auch für sich selbst einen emotionalen und kognitiven Gewinn abzuleiten. Oder zumindest kann man ihnen wünschen, dass möglichst viele aus ihrem Umfeld – das heißt Nachbarn, Freunde, Angehörige, Pflegende und Mediziner – dieses Buch lesen. Denn die von ihr angeführten Interaktionsbeschreibungen in den Demenzwohngruppen vermitteln nicht nur einen lebendigen und differenzierten Eindruck des Wohnheimalltags, sondern offenbaren darüber hinaus, sollten sie nicht geschönt sein, ein besonderes Talent für einen angemessenen Umgang mit dementen Menschen, lesen sich die Beschreibungen ihres eigenen Verhaltens doch wie eine Sammlung von Lehrbeispielen, bei denen die Umsetzung der Methode der Validation in unterschiedlichsten Situationen vorbildhaft demonstriert wird – eine Methode, nach der die Peinlichkeiten und Defizite der Menschen mit dementen Symptomen während des Umgangs mit ihnen ignoriert, ihre Äußerungen als für sie gültig akzeptiert und diese wertschätzend und konstruktiv aufgegriffen werden sollten. Nicht zuletzt in diesen Abschnitten wird das Buch seinem Anspruch, in der hauptsächlich der Demenz gewidmeten Reihe „Sachbuch Pflege“ des Huber-Verlags als Ratgeber für ein auch nicht-wissenschaftlich sozialisiertes Publikum zu dienen, mehr als gerecht. Ein abschließender umfangreicher Hinweisteil auf weiterführende Literatur, Filme und Beratungsangebote macht die Genremischung aus Ethnographie und Ratgeberliteratur perfekt.

Anmerkungen:
1 Christian Meyer, Menschen mit Demenz als Interaktionspartner. Eine Auswertung empirischer Studien vor dem Hintergrund eines dimensionalisierten Interaktionsbegriffs, in: Zeitschrift für Soziologie 43 (2014), 2, S. 95–112.
2 Annette Leibing / Lawrence Cohen (Hrsg.), Thinking about Dementia. Culture, Loss and the Anthropology of Senility, New Brunswick 2006.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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