S. del Moral: The Cultural Politics of Schools in Puerto Rico

Cover
Titel
Negotiating Empire. The Cultural Politics of Schools in Puerto Rico, 1898–1952


Autor(en)
del Moral, Solsiree
Erschienen
Anzahl Seiten
242 S.
Preis
$29.95 / € 23,12
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Marianne Helfenberger, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Der Estado Libre Asociado de Puerto Rico (Freistaat Puerto Rico) unterliegt seit der Besetzung der Insel durch die USA im Jahre 1898 anlässlich des Spanisch-Amerikanischen Kriegs als nichtinkorporiertes US-amerikanisches Außengebiet der Hoheitsgewalt der USA. Als solches ist Puerto Rico weder ein eigenständiger Bundesstaat noch einem anderen US-Bundesstaat zugehörig. In Puerto Rico Geborene sind seit dem Jones-Shafroth Act von 1917 US-Staatsbürger; sie haben jedoch ohne Wohnsitz auf dem Festland eingeschränkte politische Rechte. Mit der Anbindung an die USA endete die jahrhundertelange Abhängigkeit Puerto Ricos von Spanien. Somit ist das heutige Puerto Rico von zwei unterschiedlichen kulturellen Traditionen geprägt, die es politisch als Kolonie und kulturell zugleich als Nation definieren. In diesem Spannungsfeld zwischen Kolonie und Nation untersucht die Historikerin Solsiree del Moral in ihrer Studie zur Bildungspolitik in Puerto Rico zwischen 1898 und 1952 die als zentral bezeichnete Funktion der Schule bei der Konstruktion von nationaler Identität und Staatsbürgerschaft. Del Moral geht der Fragestellung nach, wie die Geschichte der Schule und der Lehrer in Puerto Rico dazu beitragen kann, den US-Imperialismus, den Prozess der kolonialen Staatenbildung und die Konstruktion nationaler Identitäten in Puerto Rico, der Karibik und der USA umfassender zu verstehen (S. 10). Um diese Frage zu beantworten, rekonstruiert sie die von den Akteuren vertretenen Konzepte von Rasse, Nation, Vaterland (patria), Staatsbürger und Staatsbürgerschaft und wie diese mit den kolonialen Ansprüchen der USA, der Gestaltung der Schule in Puerto Rico und der Reaktion der lokalen Schulakteure verflochten sind. Anhand eines breit abgestützten Quellenkorpus zeigt sie, wie Schule zur Institution wird, in der sowohl puerto-ricanische Lehrer als auch US-amerikanische Verwalter des kolonialen Staats versuchten, ihre je eigenen, einander widersprechenden oder ergänzenden Visionen von Nation, Staatsbürgerschaft und „Empire“ zu verbreiten: Auf der einen Seite steht die Ideologie der „Americanization“ mit dem Ziel, „tropical Yankees“ zu erziehen, die den US-Kolonialismus unterstützen (S. 7f.); auf der anderen steht ein breiteres Projekt der sozialen Regeneration „dysgenischer“ Verhältnisse, basierend auf patriarchalen und nach Rasse, Klasse und Geschlecht definierten Strukturen (S. 5).

Del Morals Untersuchung reiht sich in eine Geschichtsschreibung ein, die seit den 1990er-Jahren Alternativen zur traditionellen Geschichte des US-Imperiums sucht, indem sie lokale Akteure zu Wort kommen lässt, das ansonsten vernachlässigte spanische Erbe berücksichtigt und die vermeintliche einseitige Übermacht der USA gegenüber Puerto Rico und dessen passive Rolle infrage stellt (S. 15). Die traditionelle Geschichtsschreibung betone eine Top-down-Politik der USA gegenüber den Kolonien sowie Dichotomien von Repression und Widerstand, „us versus them“ und Kolonialismus versus Nationalismus (S. 17). Eine solche Geschichtsschreibung habe aus Lehrern Helden und Märtyrer gemacht und nationale puerto-ricanische Identitäten in Abgrenzung zur US-amerikanischen konstruiert (S. 12). Del Moral schlägt stattdessen eine Erzählung vor, die jenseits nationaler Konstruktionen dazu beitragen will, das Engagement lokaler Akteure (Lehrer und Eltern) in und für die Schulen der Kolonie und damit auch – trotz der tatsächlich ungleichen Machtverhältnisse – zugunsten des modernen kolonialen Staats verständlich zu machen. Somit erscheint die Geschichte der imperialistischen Beziehung zwischen den USA und Puerto Rico als ein über die Schulen stattfindender Aushandlungsprozess und nicht als simple Top-down-Politik (S. 17).

Del Moral folgt drei Argumentationslinien. Zum einen stehe die Schule im Zentrum des kolonialen Staatsprojekts. Zum zweiten beanspruchten Lehrer auf der Insel für sich das Recht, Staatsbürger zu definieren und zu bilden, um so sozialen Aufstieg und gesellschaftliche Erneuerung zu fördern. Dies sieht sie in einem engen Zusammenhang mit dem eugenischen Gedankengut des Neo-Lamarckismus (S. 19). Drittens habe sich ein professionelles, hierarchisch organisiertes und nach sozialem Status, Alter und Geschlecht differenziertes Netzwerk innerhalb des Lehrpersonals entwickelt, so dass sich auch Akteure außerhalb der insularen Elite (die Masse der Lehrer sowie auch Eltern und Schüler) am Aushandlungsprozess über Schulcurriculum, Finanzierung und Zugang zu Schulbildung beteiligen konnten, ohne dabei gegen die Konsolidierung des kolonialen Staats Widerstand zu leisten.

Die Interaktionen zwischen den Akteuren auf dem Festland und auf der Insel dokumentiert Del Moral in fünf Kapiteln entlang von vier historischen Momenten. Zuerst fasst sie bestehende Forschungsergebnisse zur Expansion des US-Imperiums zwischen 1890 und 1916 zusammen. Kapitel 2 schildert die Opposition einer neuen Generation von lokalen Akteuren gegen die US-Übermacht und kontextualisiert sie, indem sie das welthistorische Geschehen zwischen 1917 und 1930 mit Verweis auf die Rekrutierung von puerto-ricanischen Soldaten für die US-Armee einbezieht. Damit verbunden ist die Analyse des „citizenship-building project“ der Lehrer und der Differenzierung der lokalen Akteure innerhalb der kolonialen Hierarchien (Kapitel 3). Für die Zeit der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre stellt del Moral eine Abnahme der „Americanization“ zugunsten eines verstärkt patriarchalen Verhaltens des kolonialen Staats fest. Dabei werden puerto-ricanische Reformer, Hygieniker und eine neue Generation von modernen Lehrern aktiv; sie reagieren auf eine restriktive einwanderungspolitische Lobby in den USA, die sich auf Untersuchungen von Schulkindern der puerto-ricanischen Diaspora in New York stützt. Die puerto-ricanischen Akteure grenzen sich von der Diaspora ab und wenden selbst eugenisch geprägte Argumente für eine innerinsulare rassische Differenzierung an (Kapitel 4). In den 1940er- und 1950er-Jahren streben neue politische Akteure eine Reform des kolonialen Staats an und führen einen politischen Diskurs über Bürger, Nation und Bildungsversprechen, der von Eltern und Schülern übernommen wird, um damit auf ihr Recht auf Bildung zu pochen und den Staat in die Pflicht zu rufen (Kapitel 5). Eine gewisse Redundanz durch alle Kapitel hindurch (häufige Wiederholung der Thesen, der Nennung von Zusammenhängen und Einflussfaktoren) beraubt das Fazit im Schlusskapitel seiner Substanz. Die Konsolidierung des US-Kolonialismus in der Karibik sei geprägt durch Aushandlungen zwischen lokalen Akteuren und US-Akteuren, und die Geschichte Puerto Ricos sei eine Herausforderung für vergleichende historische Debatten über Rasse, Staatsbürgerschaftskonzepte und Nationalstaatsentwicklung.

Methodisch orientiert sich Del Moral hauptsächlich an der historischen und bildungspolitischen Kontextualisierung ihres Quellenkorpus, indem sie dazu reichlich Forschungsliteratur und einander ergänzende und kontrastierende Quellen berücksichtigt. Ab dem ersten Drittel der Arbeit beginnt die eigene Quellenauswertung und ab dem vierten Kapitel halten sich Forschungsliteratur und Quellen die Waage. Keine großen Theorien stehen im Vordergrund. Del Moral stellt jedoch wiederholt Bezüge zu neo-lamarckschem Gedankengut her, ohne entsprechende Theoretiker zu zitieren; gelegentlich verweist sie auf historische Untersuchungen über Eugenik und das neo-lamarcksche Vokabular. Was ihre eigenen Quellen betrifft, bleibt unklar, ob sie das verwendete Vokabular als neo-lamarckisch interpretiert oder ob die Akteure selbst dieses Vokabular in den Quellen verwenden.

Del Moral bezeichnet es als Herausforderung, die „story without presenting homogenized and polarized characterizations of either local educators or US colonial officials“ zu erzählen. Ohne den kritischen Blick für die ungleichen Verhandlungspartner zu verlieren, ist ihr diese Herausforderung durchaus gelungen; sie erfasst die Akteure in ihren Ambivalenzen und Widersprüchen. Ebenfalls gelungen ist es Del Moral, eine Geschichte zu schreiben, die über nationalstaatliche Grenzen hinausgeht. Zweifelsohne eignet sich Puerto Rico als Kolonie mit eigenem nationalen Selbstverständnis dafür besonders gut; und Del Moral gelingt eine vergleichende Studie, die mehr bietet als eine bloße Feststellung von Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Nationalstaaten, indem sie die gemeinsame Gestaltung des historischen Wandels durch zwei (ungleiche) Partner analysiert. Die explizit gewünschte Anbindung an die Entwicklungen in Lateinamerika leistet del Moral nur am Rande über knappe Hinweise auf einschlägige Literatur. Daran kann weitere Forschung anschließen. Nicht zuletzt stellt die Studie eine Bereicherung für die Historische Bildungsforschung dar, indem sie die Funktion der Schule im historischen Wandel ins Zentrum rückt sowie Lehrer, Eltern und die Schülerschaft jenseits ihrer pädagogischen Zusammenhänge als historische Akteure betrachtet.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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