F. Süllwold: Deutsche Normalbürger 1933-1945

Titel
Deutsche Normalbürger 1933-1945. Erfahrungen, Einstellungen, Reaktionen. Eine geschichtspsychologische Untersuchung


Autor(en)
Süllwold, Fritz
Erschienen
München 2002: Herbig Verlag
Anzahl Seiten
223 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Torsten Kupfer, Universität Bielefeld

Den Anlaß für die vorliegende Untersuchung bildete die Verärgerung des Autors darüber, daß vor allem Schulen und Massenmedien ein falsches Bild von der Zeit des Dritten Reiches zeichnen würden, was die unzulässige Herabsetzung der in dieser Zeit lebenden Deutschen in den Augen der nachfolgenden Generationen zur Folge hätte. Fatalerweise hätten die Angehörigen der nachfolgenden Generationen dieses falsche Bild internalisiert und wären auch in Gesprächen mit Zeitzeugen von ihren Vorurteilen nicht zu befreien, sondern würden sich im Gegenteil aggressiv-feindlich gegenüber der aus früheren Bürgern der „NS-Epoche“ bestehenden Aufbaugeneration gebärden. Süllwold bezieht sich hier u. a. auf die „Faszination oder gar Begeisterung, die man seinerzeit bei nicht wenigen Nachgeborenen für Goldhagens generalisierende Thesen bemerken konnte“ (S.161), und den „Andrang zu der unschwer als tendenziös erkennbaren ‚Wehrmachtsausstellung‘ von Heer und Reemtsma“ (S.53). Zu dem „falschen“ Bild vom Nationalsozialismus in den Köpfen der Nachgeborenen habe auch die Geschichtsschreibung ihren Anteil beigetragen: „Das, was für die meisten Bürger dieser Epoche im Vordergrund des Wahrnehmens, Erlebens und persönlichen Handelns stand, was sie vornehmlich interessierte und beschäftigte, tritt in Darstellungen mit historiographischem Anspruch oft in den Hintergrund oder wird gar nicht erwähnt. Dagegen rangieren nicht selten andere Inhalte, die für die meisten Normalbürger in der NS-Epoche von untergeordneter Bedeutung waren, die selten wahrgenommen wurden und kein besonderes Interesse fanden, in heutigen Darstellungen als die wichtigsten und permanent gegenwärtigen Erlebnisinhalte der Epoche.“ (S.15) Weil eine „realitätsgerechte Geschichtsschreibung über die Normalbevölkerung der NS-Epoche [...] auch im Hinblick auf die psychische Verfassung der rezenten Deutschen ein wichtiges Erfordernis“ (S.184) sei, hat es Süllwold unternommen, das „falsche“ Bild von den Empfindungen, Erfahrungen und Einstellungen gewöhnlicher Deutscher unter dem Nationalsozialismus mit einer eigenen Untersuchung richtigzustellen.

Die Quellenbasis seiner Untersuchung bildet eine 1999 durchgeführte Fragebogenaktion unter 137 ausgewählten Zeitzeugen der „NS-Epoche“, die stellvertretend für die „Normalbürger“ des Deutschen Reiches vor 1945 stehen sollen. Diese von Süllwold befragten „Normalbürger“ gehörten den Geburtsjahrgängen 1907 bis 1927/28 an, der Durchschnittswert der Geburtsjahrgänge liegt zwischen 1921 und 1922. 82% dieser Zeitzeugen besuchten ein Gymnasium bzw. eine Oberschule, 54% absolvierten ein akademisches Studium (zumindest in Teilen wohl erst nach 1945). Die nur in einer Auswahl benannten Berufe lassen auf einen Schwerpunkt im Bereich des neuen Mittelstandes schließen; Arbeiterberufe sind nicht aufgeführt, sie scheinen daher wohl in keinem einzigen Fall befragt worden zu sein. (S.185f.) In der „NS-Epoche“ hätten sich die Stellung nehmenden Zeitzeugen über das ganze Deutsche Reich verteilt. Weitere Angaben über die Zusammensetzung der Befragten werden nicht übermittelt. Doch wird schon anhand dieser dürftigen Angaben deutlich, daß es sich bei den von Süllwold und einer Reihe von Gewährspersonen ausgewählten Zeitzeugen nicht um eine repräsentative Personengruppe handelt, sondern daß der eindeutige Schwerpunkt bei Angehörigen der ‚HJ-Generation‘ aus ‚besserem Hause‘ unter völliger Negierung der Arbeiterschaft liegt. Der Autor (geb. 1927) gehört selbst dieser ‚HJ-Generation‘ an. Die wiederholte Betonung, daß es sich bei den „wirklich kompetente[n] Zeitzeugen“ um Personen handeln sollte, die „sachlich fundiert und generalisierungsfähig“ über die „Erlebniswelten und Reaktionsweisen deutscher Normalbürger in der NS-Epoche“ „systematisch und umfassend“ informieren können (S.54) läßt die Vermutung aufkommen, daß aus der Sicht des Autors Arbeitern diese Eigenschaften generell nicht eigen sind: „Intelligentere Personen unterliegen den suggestiven Einflüssen, die von der als vorherrschend wahrgenommenen Meinung oder den Äußerungen ‚bekannter Persönlichkeiten‘ herrühren, weniger als intelligenzschwächere Menschen. Dementsprechend gilt auch in diesem Zusammenhang die Regel, dass intelligente und gebildete [! – T.K.] Zeitzeugen am ehesten unverzerrte und realitätsgerechte Aussagen über die Bevölkerung der vorausgegangenen historischen Epoche machen können.“ (S.26) Abgesehen davon, daß man erhebliche Zweifel an der Richtigkeit dieser Darstellungsweise anmelden kann, wird die dadurch wahrscheinlich entstehende Verzerrung des Ergebnisses in Kauf genommen. Der annoncierte „Normalbürger“ erweist sich als Täuschung, die Ergebnisse können somit von vornherein nur begrenzte Gültigkeit beanspruchen; es muß immer mit in Rechnung gestellt werden, daß die Zeitzeugenaussagen aus einer Gruppe kamen, in der sowohl hinsichtlich der Mittelschichtfokussierung als auch hinsichtlich der weitgehenden Sozialisierung ihrer Mitglieder erst unter dem Nationalsozialismus eine zeitgenössisch deutlich erhöhte Systemloyalität zu vermuten ist. Außerdem stellt sich die Frage, wie zuverlässig und umfassend angesichts der seinerzeitigen Jugendlichkeit der Gruppe die Angaben in ihrer Summe überhaupt sind. Letzteres betrifft insbesondere den Zeitraum zwischen 1933 und 1939. Süllwold sieht das anders; angesichts der angewandten Methode käme es nicht auf die Größe und auch nicht auf die Repräsentativität der Personenstichprobe an. (S.24)

Methodisch ging Süllwold so vor, daß den Zeitzeugen ein Erhebungsfragebogen mit 194 bzw. 157 Fragen vorgelegt wurde (im Buch dokumentiert sind lediglich die summarischen Ergebnisse zu 134 Fragen), die jeweils mehrere vorgegebene Antwortmöglichkeiten, teilweise auch Mehrfachantworten, zuließen. Eine durch die vorgegebenen Antwortvarianten mögliche Suggestivität wird von Süllwold mit dem Argument verneint, es hätte auch die Möglichkeit bestanden, an eigens dafür vorgesehener Stelle bei Nichtzutreffen aller Varianten oder ergänzend seine Einschätzung mit eigenen Worten darzulegen. Allerdings sei davon kaum Gebrauch gemacht worden. Trotzdem dürfte es ertragreicher sein, den Zeitzeugen von vornherein selbst formulierte Antworten abzuverlangen und diese Antworten erst nachträglich zu klassifizieren. Angesichts der Überschaubarkeit der Zeitzeugenzahl hätte sich auch der zu bewältigende Mehraufwand in vertretbaren Grenzen gehalten. Um schließlich Selbstüberhöhung einerseits und Selbstrechtfertigung andererseits durch die Zeitzeugen auszuschließen wurden diese aufgefordert, nicht über sich selbst, sondern über die „Normalbürger“ in ihrem seinerzeitigen unmittelbaren Lebensumfeld zu berichten. Generell sind starke Zweifel angebracht, ob mit dieser grobrastrigen Methode und im Abstand von mehreren Jahrzehnten noch ein adäquates Bild zu zeichnen ist. Zumal, wenn differenzierte, auch widerstreitende Erinnerungen in ein vorgegebenes Antwortenschema gepreßt werden sollen.

Die den Zeitzeugen vorgelegten Fragen selbst umfassen vor allem Aspekte des Lebensgefühls und des Wissens um nationalsozialistische Verbrechen, als übergreifende Fragen hätten auch fünf (von Süllwold in dieser Allgemeinheit nicht formulierte) Fragen stehen können: 1. Gab es eine soziale Zufriedenheit der Menschen unter dem Nationalsozialismus? Stark mehrheitlich: ja. 2. Hat die „Normalbevölkerung“ die Außen- und Kriegspolitik der Nationalsozialisten unterstützt? Stark mehrheitlich: ja. 3. Hat die „Normalbevölkerung“ von den nationalsozialistischen Verbrechen gewußt? Stark mehrheitlich: nein. 4. Hat die nationalsozialistische Ideologie Eingang in die „Normalbevölkerung“ gefunden? Mehrheitlich: ja. 5. Waren die Deutschen jener Zeit rassistisch und judenfeindlich eingestellt? Mehrheitlich: nein.

Freilich wurden im Fragebogen auch gewisse Fragen, die dieses Bild von der Unschuld der „Normalbevölkerung“ stören könnten, eben nicht gestellt. Schwerpunktmäßig betrifft dies die Komplexe des alltäglichen Opportunismus bzw. der Anpassungsleistungen der „Normalbürger“ und des widerständigen bzw. resistenten Verhaltens. Eminent wichtige Fragen wären zum Beispiel jene nach den unter Druck eingegangenen Mitgliedschaften in nationalsozialistischen Organisationen und eventuell eingetretenen Pressionen bei Mitgliedschaftsverweigerung sowie die nach den Reaktionen auf politische Verfolgungen gewesen. Auch die wirklich recht einfachen Fragen nach dem Anteil an NSDAP-Mitgliedern im unmittelbaren Lebensumfeld der Zeitzeugen und nach der eventuellen Lästigkeit des immer wieder abgeforderten politischen Bekenntnisses wurden nicht gestellt. Diese sonderbare Fragenauswahl zeigt sich auch an anderen Stellen. So wurde beispielsweise zwar danach gefragt, ob der „Widerstand kirchlicher Kreise gegen gegen das Töten unheilbar Kranker (Geisteskranker) in staatlichen Pflegeanstalten (ab 1939) in der Normalbevölkerung bekannt“ gewesen sei (S.195). Die aber eigentlich vorgelagerte und bedeutendere Frage nach der Einstellung der Bevölkerung zur „Euthanasie“ wurde wiederum nicht gestellt. Desgleichen ist im 25 Fragen umfassenden Abschnitt „Juden in der Erlebniswelt deutscher Normalbürger in der NS-Epoche“ (S.208-212) die grundlegende Frage, ob Juden in Entsprechung des Volksgemeinschafts-Gedankens von den „Normalbürgern“ als Menschen zweiter Klasse angesehen wurden, nicht enthalten.

Auf die durch die Nichtberücksichtigung der Arbeiterschaft bestehende Möglichkeit der bedeutenden Verzerrung, gemessen am Anspruch, die Einstellungen der „Normalbürger“ wiedergeben zu wollen, ist bereits hingewiesen worden. Nirgends wird dies so deutlich, wie an der Abklärung der von den befragten Zeitzeugen empfundenen Aufstiegsmöglichkeiten. Frage: „Wovon hingen nach Meinung der Normalbevölkerung die Bildungs- und Förderungschancen eines Schülers bzw. einer Schülerin hauptsächlich ab?“ (Mehrfach-)Antworten: „90%: von der geistigen Leistungsfähigkeit bzw. Begabung[,] 10%: vom Einkommen der Eltern[,] 11%: vom politischen Status und Einfluß der Eltern[,] 27%: von der Anpassungsfähigkeit des Schülers in der Schule“ (S.193). Es ist nicht anzunehmen, daß bei einer Einbeziehung von seinerzeitigen Unterschichtangehörigen als Zeitzeugen die Antworten zu dieser Frage auch nur annähernd so eindeutig ausgefallen wären. Wer die Hürde des Geldbeutels nicht vor sich hat muß sie auch nicht unbedingt bemerken. Desweiteren fehlt eine Antwortmöglichkeit, die sich auf eventuelle Bildungsferne oder -feindlichkeit der Herkunftsschicht bezieht. Und schließlich hätte man doch gern gewußt, wie die verschiedenen Mehrfachantworten zueinander in Beziehung zu setzen sind. Dieses Problem unzuordbarer Mehrfachantworten tritt auch an anderer Stelle auf, so z. B. bei der Frage nach der zentrale Bedeutung besitzenden Volksgemeinschafts-Idee (S.200), und erschwert somit erheblich die eindeutige Bewertung der von den Zeitzeugen getroffenen Einschätzungen bzw. verhindert sie sogar.

Zum Pflichtteil einer seriösen Darstellung hätte es auch gehört, die Beobachtungen der einzelnen Zeitzeugen hinsichtlich ihrer damaligen gesellschaftlichen Einbindung (Region, Ortsgröße, Konfession, Geschlecht, Altersgruppe, Schichtzugehörigkeit, eigene Verankerung in nationalsozialistischen Organisationen etc.) differenziert zu erfassen. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß dies versucht worden wäre. Die von Süllwold ermittelten Einstellungen sind durchaus schon in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben worden, freilich ohne die von ihm vorgenommene Quantifizierung. Insofern geht sein Vorwurf gegen die Fachwissenschaft ins Leere. Dadurch, daß er opportunistische Mechanismen und Verhaltensweisen nicht erfaßt, fällt er sogar hinter den schon erreichten Forschungsstand zurück. Die „Normalbevölkerung“ bleibt dadurch in seiner Darstellung statisch, mehr beobachtend als selbst handelnd.

Der eigentlichen Untersuchung nachgestellt sind zwei Kapitel („Der Normalbürger der NS-Epoche und die nachgeborenen Deutschen“ und „Probleme eines Epochenvergleichs“), die zu ergründen versuchen, warum ein eklatanter Gegensatz zwischen den von Süllwold ermittelten Daten und dem Bild der nachgeborenen Generationen vom Nationalsozialismus bestehe. Seine Erklärung dafür ist, daß sich die Mehrzahl der Deutschen der vorherrschenden „ethnonegativen Einstellung“ (S.179), vorgegeben von personellen und institutionellen Meinungsführern, unterwerfen würde. Bei einer Minderheit würde sich darüber hinaus sogar eine „Ethnoneurose“ (S.181) entwickeln, die der Kompensierung von Frustrationen diene. „In den meisten Fällen liegt der demonstrativen Distanzierung von den Deutschen als Nation wohl eine gegenüber früheren Zeiten noch gesteigerte und noch stärker generalisierte Unterwürfigkeit zugrunde.“ (S.182) „Zeitzeugen bemerkten in der NS-Epoche ängstliche Augen und sichernde Blicke, wenn jemand bei einer bürgerlichen Zusammenkunft oder in einem Lokal vorsichtig eine Wahrheit erwähnte, die jeder kannte, über die man aber in der Öffentlichkeit nicht zu sprechen wagte. Die gleichen Zeitzeugen bemerken heute bei Bürgern einen ähnlichen Ausdruck der Angst, wenn jemand aus ihrem Kreis offen über ein ‚tabuisiertes‘ Thema [gemeint ist v.a. die Ausländerproblematik – T.K.] spricht. Viele Zeitzeugen halten den heute erkennbaren Mangel an Zivilcourage für besonders schwerwiegend, weil nicht wie in der NS-Epoche bei Unbotmäßigkeit mit Gefährdungen bis zur existentiellen Vernichtung gerechnet werden muss.“ (S.174) Unabhängig von Wahrheitsgehalt und Verallgemeinerbarkeit der vorgenannten Beobachtung mutet es schon eigenartig an, wenn Süllwold den Opportunismus der Nachgeborenen beklagt, andererseits jedoch in seinem Fragebogen das Maß an individuellem Opportunismus unter dem Nationalsozialismus überhaupt nicht abfragt.

Überhaupt ist neben der Herabwürdigung heutiger politischer Zustände eine Tendenz erkennbar, den Nationalsozialismus zu verharmlosen. Da sind die Nationalsozialisten 1933 dann, anstatt mit physischem Terror und politischem Mord, nur noch „in ruppiger Art“ (S.135) gegen politische Gegner vorgegangen, da ist eine „generelle Ablehnung von Ausländern [...] auch nicht ohne weiteres aus der nationalsozialistischen Ideologie ableitbar“ (S.175), da ist das besser ausgeprägte Gemeinschaftsgefühl im Nationalsozialismus auch der heutigen jungen Generation anzuempfehlen (176f.) und sind massenhysterische Erscheinungen heute in viel höherem Maße anzutreffen als im Dritten Reich. Und – wie sollte es anders sein – diese hysterischen Ausweitungen und Übersteigerungen würden zudem vor allem dann zu beobachten sein, wenn ein Thema mit der Zeit der „NS-Epoche“ in Beziehung gebracht werde. (S.177-179) Es hat den Anschein, als wenn Süllwold über die Relativierung des Nationalsozialismus das von ihm vermißte Nationalbewußtsein neu stiften möchte.

Insgesamt sind die Ergebnisse seiner Untersuchung angesichts der methodischen Mängel mit äußerster Vorsicht zu behandeln. Was er den heutigen Deutschen darüber hinaus vorwirft, ist ein Mangel an Nationalbewußtsein (gemeint dürfte aber Nationalismus sein). Damit kann man leben, denke ich. Zu hoffen bliebe nur, daß an dieser Stelle nicht ein Stichwortgeber eines aggressiven neuen deutschen Nationalbewußtseins rezensiert worden ist.

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