R. A. Bornstein: Schnorrers. Wandering Jews in Germany 1850–1914

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Titel
Schnorrers. Wandering Jews in Germany 1850–1914


Autor(en)
Bornstein, Roni Aaron
Erschienen
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 16,17
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Beate Althammer, SFB 600, Universität Trier

Das Wandern spielt in der Geschichte des Judentums und in Repräsentationen des Jüdischen eine zentrale Rolle. Erfahrungen von Flucht, Exil und Diaspora sowie ihre symbolischen Überformungen etwa in der Legende des ‚wandernden Juden’ oder der Metapher des wurzellosen ‚Luftmenschen’ haben die historische und kulturwissenschaftliche Forschung denn auch intensiv beschäftigt, gerade mit Blick auf die Entwicklung der deutsch-jüdischen Verhältnisse in der Moderne. Doch unterbelichtet geblieben sind dabei die Erfahrungen der ärmsten jüdischen Wanderer: der ‚Schnorrer’ oder Almosenbitter, die in den Gemeinden um Nahrung, Unterkunft und Reisemittel vorsprachen. Roni Aaron Bornstein greift in seinem ursprünglich auf Hebräisch verfassten und nun in englischer Übersetzung publizierten Buch dieses reizvolle Thema auf. Der Fokus liegt auf dem ausgehenden 19. Jahrhundert, als die Wanderarmut im Zeichen der Industrialisierung und der Freizügigkeit neue Dimensionen erlangte und die jüdischen Gemeinden Deutschlands vor große Herausforderungen stellte. Bornstein geht es primär um die Frage, wie die ansässigen Juden auf ihre mittellos umherziehenden Religionsgenossen reagierten. Doch verspricht er einleitend (S. 14), die jüdische Wanderarmut im Kontext der allgemeinen deutschen Geschichte zu untersuchen und ähnliche Phänomene in der Mehrheitsgesellschaft mit einzubeziehen.

Das Buch gliedert sich in elf Kapitel. Das erste wirft einen knappen Rückblick auf das jüdische Bettel- und Gaunerwesen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die neun folgenden befassen sich alle mit jüdischen Initiativen von den 1870er-Jahren bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs, die darauf zielten, die zunehmend als irritierendes Problem wahrgenommene Wanderarmut in den Griff zu bekommen: Zuerst auf der lokalen Ebene, dann in regionalen Verbünden und schließlich mittels der 1910 in Berlin etablierten deutschen Zentralstelle für jüdische Wanderarmenfürsorge sollten organisatorische Strukturen geschaffen werden, die arme Reisende unterstützten und zugleich missliebige Verhaltensweisen wie den Haustürbettel bekämpften. Einzelne lokale Hilfsangebote werden exemplarisch näher beleuchtet, so in Kapitel 5 die Wanderunterstützungskasse der jüdischen Gemeinde von Würzburg, in Kapitel 9 die jüdische Arbeiterkolonie in Berlin-Weißensee oder in Kapitel 10 Beherbergungseinrichtungen für jüdische Auswanderer in der Hafenstadt Hamburg. Das letzte Kapitel unternimmt einen Ausblick auf die Weimarer Republik.

Bornstein hat ein breites Spektrum an Archivquellen, hauptsächlich aus jüdischen Gemeindearchiven, und an zeitgenössischen Publikationen benutzt, und er bietet einige interessante Einblicke in den Untersuchungsgegenstand. Doch insgesamt ist das Buch eher enttäuschend. Zu diffus und mitunter konfus bleibt das Bild, das er von den jüdischen Hilfsaktivitäten zeichnet, und über die Lebenswelten der Wanderer erfährt man wenig. Ein wesentliches Manko ist, dass Bornstein die einschlägige Forschungsliteratur nur sehr lückenhaft rezipiert hat. Das Literaturverzeichnis enthält zwar wichtige neuere Arbeiten zur deutsch-jüdischen Geschichte und zur Geschichte der Armut im Allgemeinen. Verarbeitet worden zu sein scheint die jüngere Forschung aber nicht. Der Verdacht drängt sich vielmehr auf, dass das Buch auf Bornsteins Dissertation aus den 1980er-Jahren basiert und ohne größeren Aktualisierungsaufwand auskommen musste. Natürlich ist eine Veröffentlichung älterer Forschungsergebnisse grundsätzlich legitim, doch hätte man zumindest einen entsprechenden Hinweis erwartet. Jedenfalls unterläuft Bornstein aufgrund einer mangelhaften Literaturrezeption manches Fehlurteil, und das gesellschaftliche Umfeld, in dem sich die deutsch-jüdische Wanderarmenfürsorge entfaltete, bleibt blass.

Wirklich ärgerlich sind aber die handwerklichen Fehler, die das Buch durchziehen. Etliche Namen sind falsch geschrieben, was schon in der Danksagung beginnt, wo Jürgen Scheffler, der mit zahlreichen Publikationen zur Geschichte der deutschen Wandererfürsorge hervorgetreten ist und Bornstein zur englischen Übersetzung seines Werks ermuntert hat, als Jürgen Schäffler figuriert. Ebenso sind viele Zahlenangaben offensichtlich inkorrekt. In Tabellen sind Spalten des Öfteren falsch aufaddiert oder falsch beschriftet, und im Text angeführte Daten stimmen schon fast regelmäßig nicht mit den in den Tabellen genannten überein. Häufig ist in unangebrachter Weise pauschal von „Germany“ die Rede, etwa wenn behauptet wird, dass den „Jews of Germany“ 1812 „equal rights“ gewährt worden seien (S. 17), oder dass „Germany“ 1842 das Unterstützungswohnsitzprinzip in der Armenpflege eingeführt habe (S. 190). Württemberg wird einmal als „city“ (S. 40), einmal als „district“ (S. 59) bezeichnet und scheint schließlich gar zur preußischen Provinz degradiert zu werden (S. 220), während Baden in der Formulierung „Baden (South Bavaria)“ seine Staatlichkeit einbüßt (S. 139). Immer wieder stolpert man über schief referierte gesetzliche Bestimmungen wie beispielsweise einen „paragraph 33 of the UWG constitutional amendment from May 1869“, der besagt habe, „that welfare recipients of three years“ ihre politischen Rechte verlören (S. 218). Das ist, wie so oft in diesem Werk, nicht völlig falsch, aber eben auch nicht richtig. Hinzu kommen formale Mängel wie Zitate, die typographisch nicht als solche gekennzeichnet sind, und unpräzise oder verwechselte Belege in den Fußnoten. Jeder dieser Schnitzer ist an sich unbedeutend, und manche mögen auf das Konto des Übersetzers oder des Verlags gehen. In ihrer Häufung aber schmälern sie den Nutzwert des Buchs doch beträchtlich.

Da ein resümierendes Schlusskapitel fehlt, sind Bornsteins Kernaussagen nicht ganz evident, doch lassen sie sich vielleicht in drei Thesen zusammenfassen. Erstens bewertet er das Wanderarmenproblem als sehr zentral für den Ausbau des jüdischen Wohlfahrtswesens, sowohl auf der Gemeindeebene als auch auf der Ebene überlokaler Vernetzung. Zweitens schreibt er diesem Prozess ambivalente Konsequenzen zu. Die Wohlfahrtsinitiativen hätten das Gemeindeleben gestärkt, damit aber zugleich dazu beigetragen, die deutschen Juden auf die eigene Glaubensgemeinschaft zurückzuwerfen und die Emanzipation zu verzögern (S. 69). Das Fürsorgeangebot habe den Wanderern materiell zwar geholfen, durch die oftmals arrogante Haltung der Träger aber zugleich die innerjüdischen Beziehungen belastet (S. 242). Und drittens glaubt Bornstein, dass die jüdische Wandererfürsorge viel effektiver gewesen sei als ähnliche Bestrebungen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Die jüdischen Einrichtungen qualifiziert er als „groundbreaking in terms of their organizational capacity and their ability to care for large numbers of charity seekers over extended periods. [...] In non-Jewish society, however, a similarly sophisticated system for dealing with Wanderarmen did not exist, even though the phenomenon there was similar in scope.” (S. 241f.) Diesen Unterschied führt er wiederum darauf zurück, dass die jüdischen Gemeinden sich schon traditionell um wandernde Arme gekümmert hätten und bestehende Ansätze somit nur ausgeweitet werden mussten. „The Christian welfare system, on the other hand, had to build its own welfare infrastructure ex nihilo.” (S. 241) Diese Thesen sind bedenkenswert. Aber zumindest die dritte erregt doch große Skepsis, denn tragfähig untermauert wird sie von Bornstein nicht. Allerdings geben seine wackligen komparativen Schlussfolgerungen Anregungen für weitere Forschungen, in denen jenseits des Vergleichs auch Interaktionen und wechselseitige Beeinflussungen nähere Beachtung verdienen würden.

Nicht anzuzweifeln ist indes, dass der Wanderarmenhilfe innerhalb des jüdischen Wohlfahrtswesens ein besonders großes relatives Gewicht zukam und dass sie eine Klientel anderer geographischer Herkunft ansprach als das christlich-deutsche Pendant. Die jüdisch-deutsche Wandererfürsorge hatte es primär mit Migranten aus den östlichen Nachbarstaaten zu tun, und ihre Ausrichtung auf ausländische Ein- und Transitwanderer prägte sie zutiefst. Bornstein betont sehr stark die Abschätzigkeit, mit der die ansässigen Juden den als kulturell fremd empfundenen osteuropäischen Wanderern begegneten, und dass die gebotene Unterstützung vor allem auf die Einhegung eines unliebsamen Störpotentials zielte. Das sind relevante Befunde, die er an Quellenbeispielen veranschaulicht. Umso mehr hätte man sich gewünscht, dass das Buch vor der Veröffentlichung nochmals einer gründlichen Überarbeitung unterzogen worden wäre.

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