A. Krätzner: Die Universitäten der DDR und der Mauerbau 1961

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Titel
Die Universitäten der DDR und der Mauerbau 1961.


Autor(en)
Krätzner, Anita
Erschienen
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Tobias Kaiser, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Berlin

Anita Krätzner betrachtet in ihrer an der Universität Rostock vorgelegten Dissertation Reaktionen auf den Mauerbau und seine Folgen an den sieben Universitäten der DDR: Berlin, Leipzig, Dresden, Rostock, Greifswald, Jena und Halle/Wittenberg. Die Idee, eine solche vergleichende Studie anzugehen, ist gut. Denn die Schließung der innerdeutschen Grenzen hatte enorme Auswirkungen auf die Hochschulen des kleineren deutschen Staates. Der zuvor noch existente gesamtdeutsche Akademikermarkt wurde zerstört. Ein innerdeutscher wissenschaftlicher Austausch war kaum mehr möglich. Die DDR-Führung musste jetzt – ohne Abwanderungsdrohung und mit geschlossenen Grenzen – deutlich weniger Rücksichten auf die Wissenschaftler nehmen, so dass in der Folge eine offensive Betonung so genannter „marxistischer Wissenschaft“ möglich wurde. Auch ist die psychologische Wirkung auf die Beteiligten nicht zu unterschätzen. Nicht zuletzt ging die Schließung der Grenzen einher mit einer Militarisierung, die die Studierenden unmittelbar betraf. Ein lohnendes Thema also, an das man viele gesellschaftlich relevante Analysen anschließen kann. Dies zumal sich die moderne Universitätsgeschichte im Schnittpunkt von verschiedenen Forschungslinien verorten lässt: von Politikgeschichte (Analyse von staatlichen und Wirtschaftsinteressen), von Sozialgeschichte (Elitenforschung, Studentengenerationen) und Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte (auch einzelner Bereiche, zum Beispiel der Entwicklung von Forschung und Technik).

Leider – und damit komme ich gleich zum Hauptkritikpunkt – nutzt Anita Krätzner die Chance nicht, eine Fragestellung aus der universitätsgeschichtlichen Forschung heraus zu entwickeln. Stattdessen wird gleich zu Beginn postuliert: „Der Marxismus-Leninismus verfolgte das Ziel, alle gesellschaftlichen Bereiche zu kontrollieren.“ (S. 3) Und die Universitäten sind dann eben nur einer von vielen Bereichen. Auch der auf der ersten Seite des Buches in einem langen Zitat wiedergegebene emotionale Brief bezieht sich nicht direkt auf die Universität und passt nur deshalb, weil er von einem Studenten stammt.

Doch zunächst einmal zum Aufbau und den Verdiensten der Arbeit: Erstmals wird unter Einbeziehung aller sieben Universitäten, archivgestützt und auf breiter Quellenbasis ein wichtiger Wendepunkt der DDR-(Hochschul-)Geschichte dicht beschrieben. Die Autorin besuchte 16 Archive, führte etliche Zeitzeugengespräche und wertete eine Fülle von Einzelbeispielen aus – immer mit dem Fokus auf das Allgemeine und in dem Willen, einen Überblick zu erreichen. Zur Anwendung kommt eine akteursbezogene Methodik, die nach Handlungsspielräumen fragt. Die acht Fragen – in fünf Punkten übersichtlich geordnet –, die als Fragestellung genannt werden, laufen darauf hinaus zu beschreiben, welche staatlichen Vorgaben es im August 1961 gab und wie die Reaktionen an den Universitäten waren. Nach der Einleitung folgt ein Kapitel zu den politischen Vorgaben, wobei spezifisch nach den für die Universitäten entwickelten Politikkonzepten gefragt wird. Es wird offenbar, dass die Hochschulen aus Sicht der DDR-Machthaber ein gesellschaftlich immens wichtiges Handlungsfeld darstellten. Eine Exmatrikulationswelle, das Vorgehen gegen die evangelischen Studentengemeinden und die so genannte „Störfreimachung“, eine von Autarkievorstellungen geprägte Militarisierung, sorgten für „ein Klima der Angst“ (S. 253). Im Hauptkapitel werden die sieben Universitäten einzeln vorgestellt, um dann im Vergleich ganz unterschiedliche Auffälligkeiten und übergreifende Aspekte des Themas zu erörtern. Die Situation nach dem Mauerbau wird dadurch bestimmt, dass Staat und Partei von den Universitätsangehörigen jeweils demonstrative Zustimmungserklärungen verlangten, die unter Druck diskutiert und zumeist widerwillig abgegeben wurden. Auch die innerhalb der SED unmittelbar nach dem Mauerbau ausbrechenden internen Machtkämpfe zeichnet die Studie nach. Krätzner beschreibt dies detailliert und plastisch. Dabei betont sie, dass die Reaktionen der Wissenschaftler und Studenten an den Universitäten „relativ ähnlich“ (S. 252) gewesen seien. Dennoch kommt sie zu dem Ergebnis, dass die Universitäten der DDR „eindeutig“ nicht „nach dem Willen der SED funktionierten“ (S. 251). Dieses Resümee scheint zwar etwas widersprüchlich zu sein, wird jedoch durchaus nachvollziehbar entwickelt und ist deshalb überzeugend. Die Grenzschließung ermöglichte der Staats- und Parteiführung vor allem auch, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht durchzusetzen, denn nun konnten sich die jungen Männer nicht mehr durch Flucht der Einberufung entziehen. Auf die Schulen und Universitäten hatte dies unmittelbare Auswirkungen: Paramilitärische Ausbildungsformen und die Bindung des Studienplatzes an die Bereitschaft zur Teilnahme an der Militarisierung des Landes setzten die Eleven unter Druck. Krätzner betont zwar, dass die SED mit ihren Maßnahmen „die voranschreitende Militarisierung zu legitimieren“ (S. 253) suchte. Dieser Punkt hätte jedoch durchaus in der Studie noch stärker betont werden können, zumal er die Universitäten der DDR prägte und veränderte.

Der gewählte, von den staatlichen Vorgaben ausgehende Ansatz reflektiert zudem nicht die in der Wissenschaftsgeschichte diskutierte Frage von Selbstmobilisierung und Verantwortung der Wissenschaftler, fragt nicht nach den wissenschaftlichen Eigeninteressen und Strategien, sondern setzt von vornherein einen Gegensatz von Wissenschaft und Politik voraus. Keine Berücksichtigung finden Mitchell Ashs Modell von „Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander“ oder Rüdiger vom Bruchs generelle Überlegungen zu Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik.1 Gerade bei der Bewertung einzelner Fächer (S. 231ff.) hätten womöglich solche Konzepte (Ressourcenmodelle) weitergeholfen. Stattdessen wird unter der Überschrift „Methoden“ die 30 Jahre alte Debatte um Opposition, Widerstand und Resistenz referiert, um dann irritierenderweise zu dem Schluss zu kommen, dass sich solche Konzepte gar nicht eigneten, da es in der vorliegenden Arbeit ja nicht nur um abweichende Reaktionen gehe.

Den Forschungsstand zu den DDR-Hochschulen nimmt Krätzner nur lückenhaft zur Kenntnis. So wird zwar völlig zu Recht die im Jahr 2010 erschienene Leipziger Universitätsgeschichte mehrmals gelobt. Die im Jahr 2009 erschienene, 1000 Seite starke Gesamtdarstellung der Geschichte der Universität Jena im 20. Jahrhundert2, die auch den gesamten Zeitraum der DDR umfasst, die Bedeutung des Mauerbaus als wichtige Zäsur der DDR-Hochschulgeschichte besonders betont und so eine Steilvorlage für Krätzners vergleichende Studie geboten hätte3, wird aber nicht zur Kenntnis genommen. Stattdessen behauptet die Autorin mit Verweis auf den 2007 erschienenen zweiteiligen, 86 Beiträge umfassenden Jenaer Sammelband „Hochschule im Sozialismus“4, dass „man in Jena auf die Untersuchung vieler Detailfragen in verschiedenen Aufsätzen“ gesetzt habe (S. 10). Diese grundsätzlichen Mängel im Design der Arbeit überlagern leider die Vorteile und Verdienste.

Der Gesamteindruck des zu rezensierenden Werkes bleibt deshalb ambivalent. Anita Krätzner legt eine wichtige Studie zu einem sehr gut ausgewählten Thema vor. Alle relevanten Aspekte der Thematik kommen vor, werden jedoch eher beschrieben als analysiert. Dass ein Register fehlt, ist schade. Vor allem wird jedoch die Chance nicht genutzt, aus dem Forschungsstand heraus eine methodisch innovative Studie vorzulegen, die die Besonderheiten der Lebenswelt Hochschule stärker betont.

Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu etwa Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandausfnahme zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002. Darin befindet sich auch ein einschlägiger Beitrag von Mitchell Ash.
2 Traditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850–1995, hrsg. von der Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2009.
3 Tobias Kaiser, Die konfliktreiche Transformation einer Traditionsuniversität. Die Friedrich-Schiller-Universität 1945–1968/69 auf dem Weg zu einer »sozialistischen Hochschule«, in: ebenda, S. 598–699, hier S. 632f.
4 Uwe Hoßfeld / Tobias Kaiser / Heinz Mestrup (Hrsg.), Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1945–1990), 2 Bände, Köln/Weimar/Wien 2007.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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