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Titel
Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989–1992


Autor(en)
Bourdieu, Pierre
Erschienen
Berlin 2014: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
722 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Berthold Vogel, Hamburger Institut für Sozialforschung / Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen

Von Hölzchen auf Stöckchen – das ist der erste Eindruck. Wer Pierre Bourdieus Vorlesungstranskripte „Über den Staat“ zur Hand nimmt, der erkennt rasch: Eine monografisch anmutende Publikation von Mitschriften der Vorlesungen eines berühmten Soziologen am Collège de France verspricht Nachfrage, kann aber auch ein riskantes Unterfangen sein. Denn die Publikationsform suggeriert Systematik. Die Leserschaft erhält hingegen Verstreutes. Wir erleben die Mühen des Nachdenkens und den mäandrierenden Fluss der freien Rede. Erfüllt „Über den Staat“ die Ansprüche, die Titel und Aufmachung versprechen: die Systematik einer Soziologe des Staates? Wohl kaum. Denn die Veröffentlichung folgt den Rhythmen des Vorlesungsalltags, seinen Räsonnements, Rechtfertigungen und Redundanzen. Das gilt insbesondere für Pierre Bourdieu (1930–2002), der die methodische Selbstreflexion zu einem fixen Bestandteil seines wissenschaftlichen Arbeitens gemacht hat. Wer jemals die Gelegenheit hatte, Bourdieu in Aktion zu erleben, dem ist dies bekannt: Seine Vorträge oder Redebeiträge begannen oftmals mit dem methodischen Hinweis auf den Standpunkt des eigenen Sprechens und Nachdenkens über Gesellschaft. So auch im Falle dieser Vorlesungen. Das erschwert durchaus den Zugang zu den Transkripten der Vorlesungen, die in den Studienjahren von 1989 bis 1992 gehalten wurden. Doch wer in den Rhythmus des umfangreichen und sorgfältig edierten Bandes gefunden hat, auf den wartet ein außerordentliches intellektuelles Erlebnis, ja geradezu ein Abenteuer gesellschaftswissenschaftlichen Denkens, das in der zeitgenössischen Soziologie in dieser Form wohl nur Bourdieu bieten konnte.

So viel Lob muss sein. Denn Bourdieus Soziologie als historisch-genetische und als politisch-klassifikatorische Sozioanalyse entfaltet hier einmal mehr eine außerordentliche Kraft und Energie, die den anfänglichen Eindruck, vom Hundertsten zum Tausendsten geführt zu werden, im Laufe der Lektüre schwinden lässt. Es ist daher empfehlenswert, den vorliegenden Band tatsächlich erst einmal ausschnitthaft zu lesen, durchzublättern, an einzelnen Stellen hängen zu bleiben, um einen Zugang zu Bourdieus historisch-soziologischer Rekonstruktion des Staates, der Verwaltung, des bürokratischen Feldes und seiner Akteure zu finden. Die Systematik von Bourdieus Staatsdenken erschließt sich durch die Bereitschaft zur unsystematischen Lektüre.

Doch welche Systematik wird dabei sichtbar? Bourdieu leistet in seinen Vorlesungen „Über den Staat“ dreierlei. Er gibt erstens mit einer gewissen Hartnäckigkeit immer wieder methodische Hinweise darauf, wie der „Staat“ als historisches Produkt von Ideen, Interessen und Institutionen zu verstehen ist. Womit haben wir es zu tun, wenn die Rede auf den Staat kommt? Dahinter verbirgt sich die These, dass der Staat insofern ein schwieriger Gegenstand ist, als die Denkinstrumente, mit denen wir Gesellschaftsanalyse betreiben, selbst wiederum Ergebnisse staatlichen Handelns sind. Die Soziologie als Wissenschaft ist ein Staatsprodukt. Ihre Fragen, ihre Daten, ihre Interessen und ihre Interpretationen sind Ausdruck des Handelns und Denkens staatlicher Institutionen. Mit staatsgeprägten Denkinstrumenten über den Forschungsgegenstand „Staat“ nachzudenken erfordert eine Reihe von „Vorsichtsmaßregeln“ (S. 192). In diesem Sinne eröffnet Bourdieu auch seinen Vorlesungszyklus im Januar 1990 mit einem methodischen Caveat: „Mehr noch als sonst müssen wir uns bei der Untersuchung des Staates gegen Vorbegriffe im Sinne Durkheims, gegen vorgefasste Ideen und eine spontane Soziologie wappnen.“ (S. 17) Die Gefahr bestehe, „ein Staatsdenken auf den Staat anzuwenden, und ich habe betont, dass unser Denken, dass sogar die Strukturen des Bewusstseins, mit dem wir die soziale Welt und jenes eigentümliche Objekt ‚Staat‘ konstruieren, sehr wahrscheinlich vom Staat hervorgebracht worden sind“ (ebd.). Der Staat ist die zweite Natur unserer gesellschaftlichen Existenz. Wenn wir das nicht begreifen, so Bourdieu, ist die ganze Mühe einer Soziologie des Staates nichts wert.

Der zweite Punkt: Die von Bourdieu vorgeschlagene Soziologie des Staates richtet ihr Hauptaugenmerk auf die Akteure bzw. die sozialen Klassen, die die öffentlichen Dinge voranbringen bzw. die die öffentliche Ordnung repräsentieren, tragen und verändern: „Wer hat Interesse am Staat? Gibt es Staatsinteressen? Gibt es Interessen am Öffentlichen, am Allgemeinen, an der öffentlichen Verwaltung? Gibt es Interessen am Universellen, und wer sind ihre Träger? Sobald man die Frage stellt, wie ich sie stelle, ist man gezwungen, den Konstruktionsprozess des Staates und zugleich die Verantwortlichen für diesen Produktionsprozess zu beschreiben.“ (S. 226) Eine besondere Rolle kommt hierbei den Juristen zu, die stets das Wort führen, wenn die Universalien des gesellschaftlichen Lebens zur Rede stehen. Im Rekurs auf eine Vielzahl historischer Arbeiten stellt Bourdieu im Rahmen des Vorlesungszyklus den Staat als praktisches Handlungsgerüst des gesellschaftlichen Alltags vor. Der Staat ist kein Abstraktum; er ist das Produkt von Interessen und Konflikten, die konstruktiv und destruktiv sein können. Der Staat, das sind die Verwaltung und ihre Amtsträger. Dementsprechend portraitiert Bourdieu in seinen Vorlesungen vor allen Dingen die Stabilisierungsmechanismen und die Beharrungskräfte der staatlichen Ordnung. Der Zerfall von Staatlichkeit oder die Wirklichkeit von „failed states“ spielen für seine Überlegungen eine nur nachrangige Rolle.

Ebenso nachrangig sind für Bourdieu eine Ideengeschichte des Staates, eine modernisierungstheoretische Erzählung der Staatsbildung oder eine „Staatsableitung“, die die politischen Gebilde und Formen auf ihre ökonomischen Grundlagen zurückführt. Es geht ihm offensichtlich auch nicht um zeitdiagnostische Aussagen oder um die Formulierung des Verhältnisses von Staat und Politik. Immerhin bewegt sich die Vorlesung in historischen Zeiten des Falls des „Eisernen Vorhangs“ sowie der „Wende“ in Ost- und Mitteleuropa. Hierzu wäre einiges zu sagen gewesen. Doch das ist nicht der Punkt der Vorlesungen. In deren Zentrum steht die Entwicklung und Ausarbeitung einer Genealogie des Staates – primär, aber nicht ausschließlich des kontinentaleuropäischen Staates. Bourdieu ist darum bemüht, den Staat als historisches und soziales Produkt zu markieren. Im Grunde präsentiert er am Beispiel des Staates die Leistungskraft und die intellektuelle Schlüssigkeit einer historischen Soziologie, die davon überzeugt ist, das Soziale nur aus seiner Genese, seiner Geschichtlichkeit heraus erklären zu können. Und zu dieser Geschichtlichkeit gehören Menschen, die kollektiv und individuell handeln – nicht auf ein Ziel hin, aber mit der Absicht, die eigenen Interessen und Bedürfnisse zur Geltung zu bringen.

Und damit ist schon der dritte Punkt angesprochen: Der Vorlesungszyklus ist ein starkes programmatisches Plädoyer für eine fruchtbare Verbindung von historischer und soziologischer Forschung. Bourdieu ist dabei keineswegs der Ansicht, die Soziologie sei die gegenwartsbezogene Wissenschaft, die durch interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den historischen Wissenschaften an „Tiefenschärfe“ gewinne – wie man heute so sagt. Die Vorstellung, die Soziologie sei für die Gegenwart und die Geschichtswissenschaft für die Vergangenheit zuständig, ist für Bourdieu Ausdruck intellektueller Mediokrität. Aus seiner Verachtung für diese Art wissenschaftlicher Kleingärtnerei macht er in den Vorlesungen keinen Hehl. Er hält dagegen, indem er immer wieder darlegt, „dass die Phase der Eroberung der Tatsachen gegen die Gemeinplätze und den gesunden Menschenverstand im Rahmen einer Institution wie der des Staates notwendig den Rückgriff auf eine historische Analyse beinhaltet“ (S. 193).

Wer sich von Hölzchen auf Stöckchen mit Bourdieu auf die Suche nach dem sozialen Feld des Staates begibt, der wird schließlich mit einer ganzen Reihe erfreulicher Fundstücke belohnt – so auch mit dieser wundervollen Sentenz, die gleichermaßen epistemologische und polemische Schärfe enthält: „Sie werden in Büchern mit ‚theoretischem‘ Anspruch unglaublich viele Sätze finden, in denen der Staat das Subjekt ist. Diese Hypostase des Wortes Staat ist alltägliche Theologie. Aus dem Staat das Subjekt von Aussagesätzen zu machen ist jedoch praktisch sinnlos. Darum mache ich in meinen Sätzen immer Umwege, wenn ich über ihn spreche […].“ (S. 178f.) Die Produktivität des Umwegs – diese Demonstration gelingt Pierre Bourdieu vortrefflich.