M. Borgolte: Europa entdeckt sein Vielfalt

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Titel
Europa entdeckt seine Vielfalt 1050 - 1250.


Autor(en)
Borgolte, Michael
Reihe
Handbuch der Geschichte Europas 3
Erschienen
Stuttgart 2002: UTB
Anzahl Seiten
462 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Joachim Schmidt Département de l'histoire médiévale et moderne, Université de Fribourg

Das Werk, das sich ausdrücklich als Handbuch versteht, bietet einen Überblick über die Geschichte Europas im hohen Mittelalter. Der geographische Rahmen ist weit gespannt: Die Darstellung erfasst auch die muslimischen Gebiete in Spanien und auf Sizilien, die Kiewer Rus, die Wolgabulgaren, das byzantinische Kaiserreich, die Reichsbildungen der Bulgaren und Serben auf der Balkanhalbinsel und verlässt damit den Raum des okzidentalen Europa. Über ihn hinausgreifend werden auch die Kreuzzüge behandelt und als Unternehmungen dargestellt, die, vom okzidentalen Europa ausgehend, dessen Handlungsraum erweiternd und neue Kontakte und Beziehungen vermittelnd, sowohl Gemeinsamkeiten zwischen den Akteuren aus unterschiedlichen Heimatregionen stifteten als auch die Wahrnehmung des anderen – auch der anderen europäischen Nationen – schärften. Neben der räumlichen ist auch die thematische Breite des Werkes von Michael Borgolte imposant: Wirtschaft, Technik, Demographie, soziale Beziehungen, Kirche, zeitgenössische Reflexionen über Formen des Politischen und des Religiösen, Wissenschaft, Schulen und Universitäten, Methoden der Herrschaft, politische Ereignisgeschichte u.a. mehr werden behandelt. Ein großer Verdienst des Werkes liegt in der Darstellung von religiösen und sozialen Minoritäten, von abweichendem Verhalten, von der gleichzeitigen, gleichwohl oppositionellen Existenz unterschiedlicher Lebensentwürfe, so dass auch Muslime und Juden als Bestandteile der Geschichte Europas den ihnen gebührenden Rang erhalten. In einem gesonderten Abschnitt präsentiert Borgolte einige wichtige Tendenzen der internationalen Forschung, die er kritisch bewertet und anhand derer er mitunter seine eigenen Auffassungen entwickelt. Mag auch die Auswahl der Themen in diesem Kapitel vielleicht willkürlich erscheinen und nicht stets aktuellen Fragestellungen gewidmet sein (so über den Charakter der mittelalterlichen „hispanidad“, S. 387-391), so wird der Leser andererseits mit Diskussionen vertraut gemacht, die den Kenntnisstand der modernen Mittelalterforschung und damit auch manche ideologisch gespeisten Vorstellungen vom hohen Mittelalter prägen.

Mit zwei Problemen ist das Werk konfrontiert, und Michael Borgolte selbst weist auf sie in den letzten Zeilen seines Textes hin: erstens „das Risiko unvermeidlicher Defizite an Kompetenz im einen oder anderen Bereich“; zweitens die Einheit der europäischen Geschichte, die sich zunächst als Koexistenz von Sonderfällen darbietet und die durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Entwicklungen und Alternativen gekennzeichnet ist. Die beiden Probleme hängen insofern aufs engste zusammen, als die Gesamtdarstellung einer Geschichte Europas durch einen einzigen Autor die Chance bietet, entgegen den bisher üblichen Gepflogenheiten von Handbüchern, eine Synthese zu bieten und damit mehr als die Zusammenführung einzelner Abschnitte; Zugleich aber die Gefahr in sich birgt, den Ereignissen und Strukturen einen Konnex unterzulegen, der sich letztlich allein durch die Darstellungsform aufdrängt. Indes sei, so Borgolte, der regionale Einzelfall – er exemplifiziert ihn u. a. an der Entstehung der Nationen – nur zu verstehen in einem Beziehungsgeflecht, dessen räumliche Konfiguration Europa konstituiere. Es geht also um eine „interkulturell orientierte Geschichtswissenschaft“ (S. 392), die sowohl eine Uniformierung europäischer Geschichte als auch eine Addition von Einzelgeschichten überwindet. Deswegen lehnt Borgolte auch die Auffassung ab, welche allein dem Einzelfall historische Realität zuerkennt, die „Einheit“ als Schimäre abtut und in der Existenz „vieler Geschichten“ eine Alternative zu einer auf „Dominanz“ und „hegemonialer Position“ orientierten Geschichtswissenschaft sieht (S. 354ff.). Sicher, alle „europäischen Länder seien anders als andere“ und die Vorstellung von Europa sei bei den mittelalterlichen Zeitgenossen nicht vorhanden gewesen, so dass als Untersuchungsmethode und als Darstellungsform sich der Vergleich und die Analyse von Beziehungen anbiete. Beides praktiziert der Verfasser. Beides tut er auf eine Weise, die überrascht, insofern er in paralleler Darstellung regionale und politische Einheiten präsentiert, deren Verschiedenheiten aber so deutlich sind, dass das Gemeinsame zurücktritt und sowohl der Vergleich als auch die Analyse von Relationen auf nur schwachen Grundlagen beruhen. So werden das westliche Imperium und damit Deutschland und Reichsitalien einerseits und das byzantinisch-oströmische Kaiserreich andererseits unter der Prämisse des „prolongierten Niedergangs“ zusammengeführt, die iberische Halbinsel und Skandinavien als „Extremitäten“ und Randexistenzen in einem Kapitel behandelt, in ähnlicher Weise die königlichen und fürstlichen Herrschaften in Polen, Ungarn und Sizilien einschließlich Süditaliens als Ergebnisse ähnlicher Entwicklungen vorgestellt, und selbst Island und die italienischen Stadtrepubliken in ihrer politischen Formierung als „Freistaaten“ parallelisiert. Gewiss, die Unterschiede werden keineswegs verwischt, gleichwohl erscheint mir der Gewinn dieser unorthodoxen Zusammenführung von regionalen Einheiten, die eher als Gegensätze erscheinen, als dass sie Gemeinsamkeiten stifteten, nicht einsichtig zu sein, insbesondere wenn es um die Analyse von „Beziehungsgeschichten“ geht, die zwischen solch disparaten und oft auch räumlich weit entfernten Regionen nur schwach ausgeprägt sind. Anders stellt sich die Geschichte Frankreichs und Englands dar, welche in der Tat mehr als nur Objekte des Vergleichs sind, vielmehr durch viele Bande verknüpft waren und ein System enger Kontakte, Kommunikation und heftiger Konflikte darstellen – nicht allein in der politischen Herrschaft –, so dass deren parallelisierende Darstellung sich geradezu aufdrängt. Indem Borgolte, prononciert in seinem Forschungsüberblick, die Nationen als besonders wichtige und langfristig wirksame Einheiten europäischer Geschichte vorstellt und die Europäisierung Europas als Ergebnis von Genese und Wandlung dieser sozialen Großformationen und ihrer Beziehungen untereinander ansieht, unterlegt er ihnen ein analytisches Gerüst, das die räumlichen Unterschiede, das Abgesondertsein und auch das Beharren auf minoritären Lebensformen in eine Beziehungsgeschichte überleitet, deren erste Schritte in dem vorliegenden Buch geleistet worden sind.

Die große Faktenfülle und mitunter auch detailfreudige Darstellung und deren Themenvielfalt auf so knappem Raum auch nur stichwortartig skizzieren zu wollen, ist nicht möglich. Sie erfasst sehr stark auch europäische Randregionen, die damit als Bestandteile europäischer Geschichte gewürdigt werden, vor allem aber auch als Elemente einer Vielfalt, deren Bandbreite Michael Borgolte beträchtlich erweitert, womit er einer Differenzierung in „wichtig“ oder „dominant“ versus „sekundär“ oder „peripher“ entrinnt. Themen werden behandelt, die wohl zum Ausgleich größerer Unkenntnis bei dem deutschsprachigen Publikum und damit als Korrektiv zu deren Marginalisierung intendiert sein mögen. Freilich entsteht damit ein Ungleichgewicht in der Darstellung, die z.B. tribalen Herrschaftsformen in Wales, Eroberergruppen auf den Hebriden-Insel oder der Kanoniker-Gemeinschaft von Rottenbuch mehr Raum einräumt als etwa den allein demographisch-quantitativ und durch ihre zeitliche Folgewirkung doch bedeutenderen, gleichwohl nicht in die Darstellung aufgenommenen Herrschaften, Städte, Gruppen bzw. Institutionen; um nur einige herauszugreifen: der Grafen von Toulouse oder der Provence, der Herzöge von Bayern, der Stadt Venedig oder des gesamt-europäisch expandierenden Ordens der Prämonstratenser und der nicht minder bedeutsamen Hospitäler, deren Zahl und Aufgaben so beträchtlich im hohen Mittelalter wuchs. Gewiss wäre es müßig, auf das zu verweisen, was trotz der dargebotenen großen Informationsfülle fehlt, aber es mag doch bedauerlich erscheinen, dass – auch im Hinblick auf die Intention dieses Handbuches, die in einer vergleichend und verknüpfend basierenden Gesamtanalyse besteht – solch ein wichtiges Phänomen wie die Entfaltung des Rittertums fehlt, einschließlich seiner kulturellen Prägung an den Höfen, womit dann auch die walisisch-keltischen historischen Traditionen, denen Borgolte beträchtlichen Raum in seinem Buch widmet, als gesamt-europäisch – oder zumindest okzidental-europäisch – wirksame narrative Muster hätten herausgestellt werden können. Gleichfalls wäre man dankbar gewesen, wenn die – ebenfalls in Nordfrankreich entstandene und ebenfalls okzidental-europäisch prägende – Kunst der Gotik einschließlich ihrer enormen technischen Ressourcen und Fertigkeiten erfordernden Bauprojekte erfasst worden wäre. Und dass soziale Schichtung, ihre Veränderungen sowie die Mobilität sozialer Gruppen in Stadt und Land fast keine Berücksichtigung fanden, mag als Abkehr von einstigen Modethemen verständlich erscheinen, von nicht wenigen aber doch vermisst werden. Aktuelle Fragestellungen zu den Formen von Kommunikation in vorherrschend oralen Gesellschaften, zu Gesten, Zeremoniell und Emotionen, sowie zu Verfahren der Konfliktbewältigung und zu Erwartungshaltungen, wie sie in Heiligenverehrung und Wundergläubigkeit zum Ausdruck kommen, werden gleichfalls nicht behandelt.

Das Buch setzt Schwerpunkte. Dass dies auch Verlust bedeutet, dass damit Lücken offen gelassen werden, liegt wohl an der Konzeption der gesamten Reihe und mag als Konsequenz dessen gelten, was eingangs als „Risiko“ benannt worden ist. Michael Borgolte ist dieses Risiko eingegangen. Und trotz einiger Vorbehalte lohnt der Ertrag das Risiko. Europa als „historische Einheit“ zu begründen, heißt, dass hier keine Addition von „Geschichten der einzelnen Länder“ vorliegt. Die Überwindung nationaler Verengung, die in der Geschichtswissenschaft weiterhin vorhanden ist und vielleicht in der Risikovermeidung der Fachspezialisten eine ihrer Ursachen hat, bedeutet freilich nicht eine Einebnung der Unterschiede, nicht die Orientierung hin auf eine als Normalfall verstandene und evolutionär zielgerichtete „Modernisierung“, in der die untersuchten Räume und Zeiten entweder als „vormodern“, „peripher“ und als „Sonderfälle“ oder als „hegemonial“, „zentral“, „paradigmatisch und „zukunftsweisend“ eingeordnet würden, sondern eine sehr viel schwierigere, darum aber den Quellen und dem zeitgenössischen Bewusstsein umso nähere Sichtweise, die die Kontakte, Kommunikationen und Kommunikationshindernisse, die Innovationstransfers und die Konflikte als Verbindungslinien eines Systems konzipiert, welches europäische Geschichte grundlegt und auch räumlich konfiguriert.

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