J. Kořalka u.a. (Hrsg.): Tschechen im Rheinland und in Westfalen

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Titel
Tschechen im Rheinland und in Westfalen 1890–1918. Quellen aus deutschen, tschechischen und österreichischen Archiven und Zeitschriften


Herausgeber
Kořalka, Jiří; Hoffmann, Johannes
Reihe
Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 44
Erschienen
Wiesbaden 2012: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
426 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Filip Bláha, Universität Oldenburg

Der sorgfältig edierte Quellenband von Josef Hoffmann und Jiří Kořalka ist den tschechischen Arbeitsmigranten im Rheinland und in Westfalen von 1890 bis 1918 gewidmet, die während der Hochzeit des wirtschaftlichen Aufschwungs am Ende des 19. Jahrhunderts in den böhmischen Ländern vorwiegend als Arbeiter für die neu eröffneten Zechen angeworben wurden. Im Vordergrund stehen die tschechischen Vereine, die sich zum wichtigsten Rückgrat der tschechischen Soziabilität im Rheinland und in Westfalen vor 1918 entwickelten.

In der Einleitung wird das Thema kurz in die gegenwärtige Arbeitsmigrationsforschung eingeordnet, wobei die einführende Studie sich mit der Quellenlage, den Zuwanderungsperioden tschechischer Arbeitsmigranten ins Rheinland und nach Westfalen, Schätzungen ihrer Gesamtzahl, Vereinstypen, Vereinsnamen und der Charakteristik der Vereinstätigkeit auseinandersetzt. Es folgen die aufgrund der Quellen ermittelten Verzeichnisse der tschechischen Vereine und ihrer Vereinslokale und der Quellenteil, der chronologisch geordnet ist. Am Ende folgen die Quellen-, Literatur-, Personen- und Ortsverzeichnisse.

Die aktuelle Migrationsforschung über das Deutsche Kaiserreich orientiert sich im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Arbeitsmigration im 19. Jahrhundert überwiegend an den Polen bzw. „Ruhrpolen“ als der größten Einwanderungsgruppe. Erst in der letzten Zeit sind Arbeiten entstanden, die sich auch mit den Italienern und den Niederländern – als den zweit- und drittgrößten Einwanderungsgruppen – auseinandersetzen.1 Den Völkern Österreich-Ungarns – wie Josef Hoffmann in der Einleitung treffend bemerkt – wurde bisher nur eine mäßige Aufmerksamkeit geschenkt (S. 8). Was die Tschechen betrifft, wurde in der Forschung die tschechische Migration nach Niederösterreich und Wien und das Phänomen der „Wienertschechen“ am ausführlichsten untersucht.2 Demgegenüber wurde die Migration aus den böhmischen Ländern ins Deutsche Kaiserreich für das 19. Jahrhundert eigentlich nur von Jiří Kořalka auf Deutsch in einem größeren Umfang thematisiert.3

In Bezug auf die verbliebenen Desiderate in der Migrationsforschung zum Deutschen Kaiserreich stellt der Band eine willkommene Quellengrundlage dar, namentlich als Ergänzung der vergleichenden Forschung über die Einwanderung qualifizierter Industriearbeitergruppen.4 Außerdem bietet er einen Überblick über die mitteleuropäischen Wanderungssysteme in der Moderne, die im Fall der böhmischen Länder zu den historisch stabilsten in Europa gehören. Im Zentrum stehen vor allem die böhmisch-sächsischen und böhmisch-mährisch-schlesischen bzw. -preußischen Wanderungssysteme, die nach der religiösen Migration des 17. Jahrhunderts in den 1890er-Jahren erneut an Intensität gewannen. Dank dieses Quellenbands entsteht für die Migrationsforschung die Möglichkeit, sich über die Dynamik dieser Systeme in der Moderne eine Vorstellung zu machen und sie weiter zu erforschen.

Die Mehrheit der ins Deutsche übersetzten Quellen wurde der zeitgenössischen tschechischen Vereinspresse entnommen, die für die kleinbürgerlich-patriotischen, sozialdemokratischen und katholischen Vereine – dies waren die drei im Rheinland und in Westfalen vorhandenen tschechischen Vereinstypen – meistens in der alten Heimat herausgegeben wurden (S. 25ff.). Nachrichten über die Vereinstätigkeit sind am häufigsten in der sozialdemokratischen Zeitschrift Český vystěhovalec [Der tschechische Auswanderer] zu finden, die in Prag redigiert und herausgegeben wurde. Im größeren Maß handelt es sich um die Halbjahres- und Jahresberichte der sozialdemokratischen Vereine, die sich als unpolitische Bildungs-, Unterhaltungs- und Unterstützungsvereine verstanden. Deren Aktivitäten waren mitunter durch starke Fluktuationen der Vereinsmitglieder gekennzeichnet, oft abhängig von den vor Ort verfügbaren Arbeitsgelegenheiten (z.B. S. 116). Auflösung drohte immer dann, wenn die ortsansässige Polizei den Verdacht schöpfte, dass die Vereine als Plattform sozialistischer oder noch schlimmer anarchistischer Agitation dienen könnten. Überraschenderweise geschah dies oft aufgrund einer Denunziation aus dem eigenen Lager (z.B. S. 126).

Neben den Nachrichten der sozialdemokratischen Vereine bieten auch jene der katholischen Vereine einen akribischen Einblick in den Alltag der tschechischen Arbeiter im Westen Deutschlands. Diese verstanden sich zwar auch als Arbeitervereine, standen jedoch in starker Opposition zum strengen Antiklerikalismus der sozialdemokratischen Vereine. Sie wurden vorwiegend von Bergmännern aus Mähren und dem von Mährern bewohnten preußisch-oberschlesischen Kreis Ratibor getragen. Die katholische Kirche im Rheinland und in Westfalen reagierte schnell auf die Einwanderung tschechischsprachiger Bergleute, und noch bis zum Ersten Weltkrieg entwickelte sich eine rege Zusammenarbeit zwischen den Diözesen in Münster, Paderborn und im mährischen Olmütz, die z.B. die regelmäßigen Missionsreisen der mährischen Geistlichen zu ihren Landsleuten oder „Sprachaufenthalte“ deutscher Priester in mährischen Klöstern umfasste (z.B. S. 273ff.)

Genauso schnell wie die katholische Kirche reagierten auch die Ordnungsbehörden auf die Einwanderung der tschechischsprachigen Arbeiter. Die vorgelegten Archivquellen weisen unter anderem auf das Sprachproblem hin, das für die Polizei eine wirksame Überwachung der tschechischen Vereine – mindestens am Anfang – fast unmöglich machte. Während die Polizei sehr bemüht war, die tschechischen vorwiegend sozialdemokratischen Vereine aufzulösen, fürchtete der Regierungspräsident in Düsseldorf die Entstehung illegaler Vereinsformen und plädierte für das Weiterbestehen der Vereine, um die Aktivitäten der tschechischen Arbeiter überwachen zu können (z.B. S. 134ff.).

Von hohem Wert sind jene Quellen, die die Ausweisungen ausländischer Arbeiter aus Preußen, die strenge preußische Arbeitsreglementierungspolitik und die Anwerbung der Arbeiter betreffen. Die Quellen sagen viel über die Grenzen der österreichischen Innen- und Außenpolitik am Vorabend des Ersten Weltkrieges aus. Als sich das preußische Innenministerium Ende 1910 entschied, den „Karenzzwang“ (Niederlassungsverbot) nicht nur auf polnische, sondern auch auf Arbeiter anderer slawischer Nationalitäten auszuweiten, geriet die österreichische Regierung in eine Zwickmühle: Einerseits war sie bemüht, mit der deutschen Seite einen Kompromiss auszuhandeln, um die innenpolitischen Schäden so klein wie möglich zu halten, andererseits brauchte sie die völlige Unterstützung seitens des deutschen Partners für ihre Balkanpolitik (S. 292) und konnte deswegen keinen Forderungen der Vertreter der großen Volksparteien im Österreichischen Reichsrat nachkommen, die mitunter sogar eine sofortige Ausweisung reichsdeutscher Bürger aus dem ganzen Gebiet Österreich-Ungarns als Vergeltungsmaßnahme verlangten (S. 211ff.) Auch wenn die Wiener Regierung bemüht war, die im Deutschen Kaiserreich arbeitenden österreichischen Bürger slawischer Herkunft im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu schützen, verfolgte sie doch sehr resolut die in den böhmischen Kohlerevieren operierenden Arbeitsagenten und versuchte, eine Massenauswanderung qualifizierter Bergleute in die preußischen Kohlereviere zu unterbinden (z.B. S. 225ff.).

Wie bereits erwähnt, sind die Quellen chronologisch geordnet, was in diesem Fall eine gute Orientierung allerdings eher erschwert. Es handelt sich um Quellen unterschiedlicher Provenienz (Vereinsnachrichten, diplomatische Post, stenografische Aufzeichnungen der Reichsratssitzungen usw.) und Aussagekraft, die zudem auch verschiedene Themen behandeln. Eine Sachgliederung wäre wahrscheinlich zielführender gewesen, mit einzelnen Themenblöcken und kurze Einführungen in die historischen Zusammenhänge.

Die Menge des gesammelten Materials ist beeindruckend, beruht jedoch überwiegend auf tschechischen bzw. österreichischen Quellen. Was völlig fehlt sind Nachrichten aus der rheinisch-westfälischen bzw. überregionalen Presse, die sich mit der tschechischen Einwanderung sicherlich auf eigene Art und Weise auseinandergesetzt hat. In seiner einführenden Studie bemerkte Jiří Kořalka, dass die Stichproben in der Lokalpresse keine nennenswerten Ergebnisse hervorbrachten (S. 14), andererseits wird in manchen Quellen die negative Einstellung der Presse zu tschechischen Arbeitern im Rheinland und in Westfalen erwähnt (z.B. S. 246).

In der Zusammenschau stellt die Edition gleichwohl einen mehr als gelungenen Beitrag zur grenzüberschreitenden Arbeitsmigrationsforschung im 19. Jahrhundert dar. Die erstaunliche Quellenfülle und Vielfältigkeit und die Übersetzung zahlreicher tschechischer Quellen ins Deutsche bieten der Forschung erstmals die Möglichkeit, die tschechische Arbeitsmigration ins Deutsche Kaiserreich ausführlicher zu thematisieren und sie mit Bezug auf die bereits erforschten ausländischen Migrationen zu untersuchen. Zur Vervollständigung des Bildes von der tschechischen Arbeitsmigration ins Deutsche Kaiserreich wäre es nötig, noch die sächsische und bayerische Quellenlage auszuwerten und auch die Deutschböhmen in die Betrachtung mit einzubeziehen. Für ein solches Forschungsvorhaben würde dieser Quellenband von Josef Hoffmann und Jiří Kořalka ein guter Wegweiser sein.

Anmerkungen:
1 Jochen Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, München 2010, S. 90.
2 Monika Glettler, Böhmisches Wien, Wien 1985; dies., Die Wienertschechen um 1900. Strukturanalyse einer nationalen Minderheit in der Großstadt, München 1972; Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, 4. Aufl., München 1996, S. 437–466.
3 Jiří Kořalka, Zwischen Angst und Vorbild. Das Deutsche Reich 1871–1914 aus der Sicht tschechischer Politiker, Besucher, Studenten und Gastarbeiter, Braunschweig 1993; ders., Tschechische Bergarbeiter in Nordwestböhmen und im Ruhrgebiet 1900–1914. Lebensbedingungen und Organisationen im Vergleich, in: Winfried Eberhard u. a. (Hrsg.), Westmitteleuropa – Ostmitteleuropa. Vergleiche und Beziehungen. Festschrift für Ferdinand Seibt zum 65. Geburtstag, München 1992, S. 251–260.
4 Oltmer, Migration, S. 91f.

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