H. Kuzmics u.a.: Emotion, Habitus und Erster Weltkrieg

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Titel
Emotion, Habitus und Erster Weltkrieg. Soziologische Studien zum militärischen Untergang der Habsburger Monarchie


Autor(en)
Kuzmics, Helmut; Haring, Sabine
Erschienen
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
607 S., 16 Abb.
Preis
€ 69,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfried Rauchensteiner, Institut für Geschichte, Universität Wien

Noch ist nicht wirklich überschaubar, wie viele Publikationen zum Ersten Weltkrieg schätzungsweise erschienen sind, wer was, wann, wo geschrieben hat und welche Ergebnisse der Forschung, also nicht einfach gefällige Darstellungen und Bildbände, Bestand haben werden. Was Österreich-Ungarn betrifft, werden es sicherlich nicht allzu viele sein, wobei die Publikationstätigkeit in Österreich ohnedies den Eindruck vermittelt, man würde noch für die gesamte Monarchie Verantwortung tragen, zumindest historiographisch. Es wurden in den mainstream zusätzliche Erzählebenen eingezogen, dennoch bleiben natürlich unzählige Fragen.

Unter jenen Büchern, die Bestand haben werden, ist sicherlich der von Helmut Kuzmics und Sabine Haring verfasste Band zu nennen, denn es sind andere Fragen und demgemäß andere Antworten, die den Untersuchungen zugrunde liegen. Ist auch Österreich-Ungarn in den Krieg hinein getaumelt, schlafwandlerisch gewissermaßen? Warum gab es keinen Waffenstillstand, kein früheres Ende? War Nibelungentreue gleichbedeutend mit der Schwurformel der Offiziere „Treu bis in den Tod“? Sind jene, die ihren Eid gebrochen haben – und das waren Zigtausende – Vaterlandsverräter gewesen, und wenn nicht: Welche Bedeutung hatte dann ihr Eid? Noch drängender und immer wieder aktuell: Wo sind die Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit von Menschen zu sehen? Kann man, wie Ernst Hanisch, jene, die aus diesem Krieg als Verlierer „nach Hause“ zurückgekehrt sind, als Menschen sehen, die an ihrer Männlichkeit zerbrochen sind, oder waren sie gar nicht Verlierer, sondern Bauherrn – Bauherrn einer kommenden Welt? Die Fragen sind beliebig vermehrbar und werden sicher nicht nur eine, sondern viele Antworten erfahren. Jüngere und Ältere haben andere Fragen, Optimisten andere als Pessimisten, Militärs andere als Nicht-Militärs.

Eigentlich beginnt der Band mit dem Ende, der Nachkriegs-, ja der Jetztzeit und stellt Vergleiche an, bei denen das kollektive Gedächtnis und seine Hilfsmittel: Narrative, Denkmäler und Friedhöfe der ehemals Kriegführenden, gegenüber gestellt werden. Kuzmics und Haring analysieren jene Reaktionen auf den Krieg, die in besonderer Weise geeignet waren, Emotionen herauszubilden, die über Pazifismus und Revanche hinausgegangen sind. Die Autoren stellen den Umgang mit dem Krieg in Österreich, Slowenien, Italien, der Ukraine, Ungarn und Rumänien gegenüber. Sie weben damit gewissermaßen die Grundmuster, auch wenn wohl in Tschechien, der Slowakei, Polen, Kroatien usw. ganz eigene wenngleich wohl nicht sehr viel andere Erzähl- und Handlungsstränge zu verfolgen wären.

Für die Kriegsteilnehmer von „Österreich-Ungarns letztem Krieg“ galt wie für die Soldaten aller Kriegführenden, dass sie gar keine Wahl hatten „ob sie Helden werden sollten“ (S. 55). Darüber entschieden Vorgesetzte, Zufall, Schicksal – Gott. Die „Helden“ des Kriegs sind es auch, die uns durch den ganzen Band begleiten. Und gegen Ende des Bandes stellt Kuzmics die prinzipiellen Fragen nochmals und scheinbar banal: Wie bringt man Millionenheere dazu, gegeneinander zu kämpfen? Kann man kriegerische Gewalt auch als Ergebnis kultureller Prägungen sehen? Gab es einen spezifisch „habsburgischen Habitus“ (S. 493)? Ist die „Moderne“ von ehedem „unzivilisierter“ als vorangegangene Zeiten gewesen? Doch die Fragen sind nicht banal.

Kuzmics vertieft das Thema denn auch gründlich und untersucht die Erklärungsmodelle für den militärischen Untergang der Habsburgermonarchie. Ein Schulddiskurs kann aber ohne Verweis auf das Nationalitätenproblem nicht auskommen. Und damit betritt man wie selbstverständlich die politische Ebene, für die wohl ebenso ein Habitus angenommen werden muss, wie für die kriegerischen Tugenden, die sich in einer sehr viel längeren Zeit herausgebildet haben, als es die Zeit eines auch noch so großen Krieges gewesen ist (S. 75). Im Weiteren werden die Besonderheiten des Vielvölkerstaats der Habsburger im Konzert der Mächte dargestellt, um die nationale Dimension als wesentlichen Faktor für die zentrifugalen und zentripetalen Kräfte der Monarchie herauszuarbeiten (S. 330ff.). Dabei kann eine Momentaufnahme nicht genügen. Es gilt denn auch, so Kuzmics, weiter auszuholen. Er tut es über 175 Jahre hinweg und widmet sich vor allem den „verlorenen Schlachten“, um dann zum Offiziersbild zu wechseln. Hier wird neuerdings eine gewaltige Schieflage deutlich, denn das habsburgische Offizierskorps korrespondierte nicht mit der Masse der Soldaten. 78 Prozent der Offiziere waren – verallgemeinernd gesagt – deutsch, während fast die Hälfte der Mannschaften slawischen Nationalitäten angehörte. Ihr „Kriegshabitus“ unterschied sich denn auch grundlegend. Der „Armeehabitus“ setzte sich aber aus beidem zusammen und hatte eine Gemengelage der Loyalitäten zur Folge. In den Habitus mischten sich Fatalismus, Sozialdarwinismus und natürlich Nationalismus. Und wieder bildeten sich Gegensatzpaare heraus. Einzelne Personen werden – nicht zufällig – hervorgehoben: Franz Conrad von Hötzendorf und Oskar Potiorek, beispielsweise. Doch Gefühle, Stimmungen, Verhalten und Fehlverhalten, Leistungen und Fehlleistungen lassen sich natürlich nicht auf einige Wenige reduzieren. Alle zusammen, Feldherrn, Offiziere und Soldaten, zeigten Emotion, in den Siegen wie in den häufigen Rückschlägen und schließlich der endgültigen Niederlage.

Was letztlich nur eine Art Grundstimmung, Habitus und Emotion, ausmachte, wird von Sabine Haring um das Wir-Gefühl, Feindbilder und Feindseligkeit(en) vermehrt. Da stehen sich dann Kameradschaft und Freundschaft, Treue und Vertrauen, Ekel, Abscheu, Verachtung und Hass gegenüber (S. 300). Um sie besser erfassen zu können, nimmt sich Haring eine Gruppe besonders kritisch zu lesender Quellen her, nämlich Regimentsgeschichten und autobiographische Manuskripte, die in der Nachlasssammlung des Wiener Kriegsarchivs einen schier unerschöpflichen Bestand ausmachen, allerdings mitunter auch mehr verschleiern als ausdeuten. Das Subjektive steht wie nicht weiter verwunderlich markant im Vordergrund, doch das Situative lässt sich mit Tausenden Beispielen von allen Kriegsschauplätzen verdeutlichen: Der Schock der ersten Gefechte, Vormarsch, Rückzug, Schlachtenlärm, klimatische Verhältnisse, Verwundung, Schreie, Tote, physische wie psychische Überforderung. Selbst- und Fremdeinschätzung, unzählige Bilder „des“ Russen, „des“ Serben oder „des“ Italieners finden sich. Vieles sind Stereotypen, doch sie sind nicht nur in den Quellen vorhanden, sondern ebenso in der nicht-wissenschaftlichen wie wissenschaftlichen Literatur – bis heute. Harings zahllose Beispiele und gerade das Nebeneinander- und Gegenüberstellen macht die Fragilität des Gedächtnisses und die Veränderungen, die die Erinnerung erfährt, nur zu deutlich, vor allem wenn man sie im Abstand von Jahren zu Papier bringt (zum Beispiel Constantin Schneiders außerordentlich lesenswerten Kriegserinnerungen). Das wird auch in einem weiteren von Haring verfassten Kapitel über „Angst und Heldentum“ unterstrichen. Der zweite Begriff ist gewissermaßen die Überleitung in die Rezeptionsgeschichte des Kriegs und in die Nachkriegszeit, denn die „Helden“ des Kriegs sind gegenwärtig und treten uns auf jedem Kriegerdenkmal entgegen. Heldentum ist in jeder Darstellung des Kriegs ein dominantes Thema. Für viele (die Meisten?) war es schon darin zu sehen, dass sie sich täglich zu überwinden hatten, gehorchten oder auch entgegen einem Befehl handelten (S. 477). Angst ist freilich nicht als Gegensatz zum Heldentum zu sehen. Sie war immer vorhanden, spielte aber, wie Haring zeigt, in den Aufzeichnungen und Erzählungen eine bestenfalls untergeordnete Rolle. Sie wird nicht zuletzt in den Antikriegsromanen thematisiert. Da schließt sich dann der Kreis zur Frage der Männlichkeit und man ist verleitet, bei Ernst Hanisch weiter zu lesen.

Das Buch hat viele Vorzüge. Es zeigt neue Ansätze, ist analytisch und kritisch, informativ und interessant, und es sollte wohl auch angemerkt werden, dass die grundsätzlichen Aussagen mit einer enormen Fülle an Beispielen unterfüttert werden, dass Bildhaftes auch tatsächlich durch Bilder unterstützt wird, und Kartenskizzen das Zurechtfinden auf den Kriegsschauplätzen der k.u.k. Armee erleichtern. Eine echte Bereicherung.

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