S. Pingel-Schliemann: „Ihr könnt doch nicht auf mich schießen!“

Cover
Titel
„Ihr könnt doch nicht auf mich schießen!“. Die Grenze zwischen Lübecker Bucht und Elbe 1945–1989


Autor(en)
Pingel-Schliemann, Sandra
Anzahl Seiten
261 S.
Preis
€ 6,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anita Krätzner, Abteilung Bildung und Forschung, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU)

Die deutsch-deutsche Grenze ist in den vergangenen Jahren wieder stärker in den Fokus der Historiker geraten. Zum einen ging es darum, verlässliche Angaben über die Anzahl von Todesopfern zu ermitteln. Ziel war aber auch, das menschenverachtende Grenzregime durch die Beschreibung der Sperranlagen deutlicher charakterisieren zu können.1

Das Buch von Sandra Pingel-Schliemann wurde von der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Mecklenburg-Vorpommern in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern herausgegeben. Thema ist die innerdeutsche Grenze auf mecklenburgischem Gebiet, wobei die Seegrenze an der Ostsee ausgespart wird. Im Mittelpunkt stehen die Darstellung der Grenzanlagen, die Grenztruppen, die Überwachung sowie geglückte und misslungene Fluchten.

In den Anfangskapiteln beschreibt Pingel-Schliemann sehr ausführlich die deutsche Teilung und die Auswirkungen auf Mecklenburg. Sie erklärt geistige, kulturelle, familiäre und wirtschaftliche Verwachsungen von mecklenburgischem Gebiet mit den angrenzenden Regionen, die nach dem Krieg in der britischen Zone lagen, und widmet sich Besonderheiten der Landschaft sowie den politischen Voraussetzungen für die voranschreitende Trennung. Es werden Veränderungen des Grenzverlaufs und des Grenzverkehrs, der Ein- und Ausreise und Besuchsreisebedingungen von den 1950er Jahren bis zum Mauerfall 1989 erläutert. Sehr hilfreich ist für das gesamte Buch die innenliegende Karte, die auch die kleinsten beschriebenen Ortschaften abbildet, so dass sich der Leser immer sehr schnell einen Überblick über das dargestellte Gebiet verschaffen kann.

Ein eigenes Kapitel widmet die Autorin den Zuständigkeiten, dem Personal, der Struktur und der Bewaffnung der Grenztruppen. Sie zeichnet Disziplinprobleme nach und kann Veränderungen von Struktur und Überwachung der Einheiten vor und nach dem Mauerbau anhand einer Vielzahl von Quellen beschreiben. Detailliert geht sie zudem auf die Vorgaben und die Anwendung des Schießbefehls ein.

Besondere Aufmerksamkeit verdient der Abschnitt zur Kontrolle und Überwachung im Grenzgebiet. Pingel-Schliemann kennzeichnet dieses Feld als „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ (S. 85). Sie kann sehr überzeugend herausarbeiten, wie sowohl hauptamtliche Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, die Volkspolizei, die Grenztruppen, aber auch Angestellten der Räte der Kreise mit der Verhinderung von Fluchten beauftragt waren. Gleichzeitig widmete sich aber ein Netz aus Inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit und freiwilligen Helfern der Grenzpolizei der „Absicherung“ der Grenze. Beachtlich ist ihr Befund, dass ein nicht unerheblicher Teil der Fluchtabsichten durch Denunziationen aus der Bevölkerung aufgedeckt wurden, obwohl diese nicht systematisch in den Überwachungsapparat eingebunden war. So kommt sie zu der Feststellung, dass 1989 die Anzeigen „aus der Bevölkerung“ 17 Prozent der aufgeklärten Fluchtfälle ausmachten. Die Autorin hätte ihre Erkenntnisse noch viel stärker in den Kontrast zum rezipierten Forschungsstand der 1990er-Jahre stellen sollen, den sie zu wenig in Frage stellt. 2 Ebenso setzt sich Pingel-Schliemann mit den Grenzen der institutionalisierten Überwachungsmaßnahmen auseinander und hätte diese Ergebnisse ebenfalls den bisherigen wissenschaftlichen Annahmen gegenüberstellen sollen. Dennoch ist dieses Kapitel aufgrund der Darstellung ihrer akribischen Forschungsarbeit besonders lesenswert.

Im Folgenden widmet sich die Autorin den Zwangsaussiedlungen, die sie auch anhand neu recherchierter Quellen untersucht, sowie dem Alltag im Sperrgebiet. Sie schildert den Umgang mit dem Westfernsehen, Versorgungsprobleme und Alltagsschwierigkeiten wie den Sperrzeiten.

Die Fluchten im mecklenburgischen Grenzgebiet behandelt Sandra Pingel-Schliemann exemplarisch und verweist auch immer wieder auf die schwierige Quellenlage, die vollständige Statistiken erschwert. Eine relativ hohe Festnahmequote in den 1980er-Jahren kann sie mit der vorher eingängig erläuterten verstärkten gesamtgesellschaftlichen Überwachung der Gegend erklären. Zu den Grenztoten, die die Autorin ermitteln konnte, hat sie jeweils Kurzbiographien erstellt, die sowohl die Lebensdaten wiedergeben als auch Fluchtgründe und den Ablauf der Geschehnisse schildern. In solch komprimierter Form hinterlässt diese Darstellung ein für den Leser sehr bedrückendes Bild.

Ihren Ansprüchen an eine umfassende Beleuchtung der mecklenburgischen Grenze wird Sandra Pingel-Schliemann gerecht. Besonders hervorzuheben ist ihre umfassende Quellenrecherche in Beständen des BStU, der Landesarchive in Schwerin und Greifswald, im Militärarchiv in Freiburg sowie in regionalen und Privatarchiven. Zusätzlich dazu hat sie zahlreiche Zeitzeugenerinnerungen einfließen lassen. Eine Vielzahl abgebildeter Fotos können beschriebene Details sehr hilfreich untermauern.

Sprachlich tut sich die Autorin manchmal schwer, Begrifflichkeiten des Herrschaftswortschatzes nicht selbstverständlich zu benutzen; vielfach verzichtet sie darauf, diese in Anführungszeichen zu setzen. Häufig verwendete Abkürzungen könnten zudem die angesprochene Leserschaft abschrecken. Aber hier hätte die herausgebende Institution stärker eingreifen müssen; zugleich wäre darüber nachzudenken gewesen, ein Glossar anzulegen. Zudem ergeben sich im Text einige Redundanzen und teilweise nicht plausible Fußnoten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Tatsache, dass das zentrale Entscheidungsgremium der DDR das Politbüro war (S. 17), muss wohl nicht mit Peter Joachim Lapps Darstellung zum Grenzregime in der DDR belegt werden 3 – ohne damit den Wert von dessen Studie schmälern zu wollen.

Das sind aber nur nebensächliche Kritikpunkte in einer ansonsten gelungenen wissenschaftlichen Darstellung, der man nur einen größeren Leserkreis auch über das regionalgeschichtlich interessierte Publikum hinaus wünschen kann. Es handelt sich um eine fundierte und differenzierte Arbeit, die viele spannende Aspekte zum weiteren Nachforschen liefert.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu unter anderem das Forschungs- und Dokumentationsprojekt des Forschungsverbunds SED-Staat an der Freien Universität Berlin zu den Opfern des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze <http://www.fu-berlin.de/sites/fsed/Opfer_des_DDR-Grenzregimes/index.html> (04.06.2014) und das Forschungsprojekt der Gedenkstätte Berliner Mauer zu den Todesopfern an der Grenze vor dem Mauerbau 1961 <http://www.berliner-mauer-gedenkstaette.de/de/forschungs-und-publikationsprojekte-247,1046,2.html> (04.06.2014).
2 Die zitierten Titel von Rainer Eckert und Clemens Vollnhals messen den „spontanen“ Denunziationen im Gegensatz zu den Inoffiziellen Mitarbeitern nur eine geringe Bedeutung bei, was Sandra Pingel-Schliemann mit ihren Ergebnissen hinterfragt. Vgl. Rainer Eckert, „Flächendeckende Überwachung“, in: Der Spiegel, Sonderheft 1/93, S. 165-167; Clemens Vollnhals, Das Ministerium für Staatssicherheit. Ein Instrument totalitärer Herrschaftsausübung, in: Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka / Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 498–510.
3 Peter Joachim Lapp, Grenzregime in der DDR, Aachen 2013.

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