M. Rüthers u.a. (Hrsg.): Helden am Ende

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Titel
Helden am Ende. Erschöpfungszustände in der Kunst des Sozialismus


Herausgeber
Rüthers, Monica; Köhring, Alexandra
Erschienen
Frankfurt am Main 2014: Campus Verlag
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Satjukow, Institut für Geschichte, Otto von Guericke-Universität Magdeburg

Die Helden des Sozialismus waren stets Zwitterwesen: einerseits Inkarnationen der Agitation und Propaganda – und doch immer auch Menschen aus Fleisch und Blut. Einerseits abgehobene Kunstfiguren der sozialistischen Medienwelt, andererseits bodenständige Typen aus der Arbeiter- und Bauernklasse. Sie galten als strahlende Vorboten der Zukunft – und als leuchtende Vorbilder in der Gegenwart. Sie repräsentierten gleichzeitig das Außeralltägliche wie das Alltägliche.

Ihre Zuschreibungen sollten ins Auge stechen: Sie waren es, die entscheidende Schlachten gewannen – nicht mehr auf militärischem Terrain wie ihre klassischen Vorbilder, sondern auf den Territorien des ökonomischen, sportlichen oder wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Sie waren außergewöhnlich in ihrem Können, in ihren Fertigkeiten, in ihrer politischen Gesinnung und in ihrem unerschütterlichen Glauben an die Sache des Sozialismus. Es waren schier übermenschliche Fähigkeiten, die ihnen die Agitatoren und Propagandisten andichteten – wodurch sie zu idealen Verkörperungen des „neuen Menschen“ avancierten, dem die Zukunft gehören sollte. Zugleich sollten sie jedoch stets dem Alltäglichen verhaftet bleiben: Partei und Politik, Medien und Kunst achteten umsichtig darauf, dass sich die herausgehobenen Helden ihrem arbeiterlichen Publikum nicht entfremdeten, dass sie den Adressaten ihrer heroischen Botschaften stets ähnlich blieben. Ob Arbeiter-, ob Sport-, ob Kosmosheld, ihnen allen wurde nicht nur regelmäßig das adelnde Epitheton „Arbeiter“ oder „Bauer“ beigestellt, vielmehr war ihnen „das Arbeiterliche“ (Wolfgang Engler) in Habitus und Gestus eingeschrieben, so dass sich die Vielen mit ihnen identifizieren konnten. Für einen sozialistischen Helden musste gelten: Er ist einer für uns, vor allem aber: Er ist einer von uns. Insofern sollte sich im sozialistischen Helden das Außeralltägliche nicht kontrastiv, sondern komplementär zum Alltäglichen spiegeln. Durch die medial oder künstlerisch vermittelte Partizipation an diesen außergewöhnlichen Figuren sollte der gewöhnliche Alltag der Vielen lebbar und strukturierbar, deutbar und bedeutsam werden. Sozialistische Helden waren insofern Helden des Alltags, als diese Mustermenschen des Sozialismus tatsächlich aus der Menge rekrutiert wurden und Sehnsüchte, Hoffnungen und Wünsche des Alltags der Vielen auf sie projiziert werden konnten.

Die Beiträge des Sammelbandes lesen die Heldensaga des Sozialismus gegen den Strich und spüren den „Erschöpfungszuständen in der Kunst des Sozialismus“ nach. Sie fragen einerseits aus zeitgenössischer Perspektive nach „müden“ Helden: Wann und wo lassen sich auch in heroischen Kontexten „Krisen- und Extremsituationen“ ausmachen? Unter welchen Bedingungen werden „Erschöpfungszustände“ als Sinnbild für das Allzu-Menschliche sichtbar? Zugleich stellt der Band aus diachroner Perspektive die Frage nach der „Ermüdung“ des Helden-Konzepts: Wie adaptieren, wie kommentieren Künstler die über Generationen hinweg kommunizierten Helden-Muster in der Zeit nach der Wende?

Das Buch dokumentiert die Beiträge eines Workshops, der zum Begleitprogramm der viel beachteten Ausstellung „Müde Helden“ gehörte, die 2012 in der Hamburger Kunsthalle stattfand.1 Sie stellte Arbeiten von Neo Rauch, dem Star der so genannten Neuen Leipziger Schule, in eine Reihe mit Werken des Schweizer Malers Ferdinand Hodler (1853 bis 1918) und von Aleksandr Dejneka (1899 bis 1969), dem prominenten Vertreter des sozialistischen Realismus in der Sowjetunion. Diese Ausstellung hinterfragte aus der kritischen Perspektive des in der DDR aufgewachsenen und ausgebildeten Neo Rauch „die Geschichte der Utopie des Neuen Menschen im 20. Jahrhundert von deren Entwurf über ihre breite gesellschaftliche Leitbildfunktion bis, letztlich, zu ihrem Niedergang“, so der Kunsthistoriker und Kurator der Kunsthalle Daniel Koep in seinem vergleichenden Buchbeitrag über „die Darstellungen der Revolution“ bei den drei Künstlern (S. 76). Koep spannt in seinem Überblick einen weiten interpretatorischen Bogen. Die Kette der Referenzen begann demzufolge mit den figürlichen Darstellungen des Historienmalers und Monumentalisten Hodler, einem Anhänger der Lebensreformbewegung, setzte sich mit dem Heldenporträtisten und Monumentalisten Dejneka fort – und mündete schließlich im Dementi dieser Sujets und dieses Formats von Welt-, Selbst- und Zeitwahrnehmung, das er exemplarisch an Neo Rauchs Werken „Sucher“ (1997) und „Kommen wir zum Nächsten“ (2005) vorführt. Dieser Text beschließt das erste Kapitel „Ästhetische Wahrnehmung“, das ein grundlegendes Ergebnis der Spurensuche bereits im Titel trägt: „Bilder und Körper ohne Ermüdung“.

Zwei weitere Beiträge diskutieren wesentliche Themen von Dejneka, dessen Werke damit zu Recht in den Fokus dieses Kapitels geraten. Die Kunsthistorikerin Alexandra Köhring untersucht seine „Darstellung der Bergleute im Donbass“ vor dem Hintergrund zeitgenössischer Theorien der Farbgebung und der Wahrnehmung; die Historikerin Corinna Kuhr-Korolev sichtet seine Jugendbilder mit Blick auf zeitgenössische Debatten über die Körperkultur – und findet sportliche, dynamische und entsexualisierte junge Menschen, die freilich niemals müde sind. Sandra Dahlke vermag anhand der Einträge in das Tagebuch von Emel’jan Jaroslavskij, des Wortführers der Gottlosen, an sehr eindringlichen Beispielen aufzuzeigen, wie die Bildwelten des Sozialistischen Realismus „sowohl ein Modus der Wahrnehmung als auch ein Instrument zur Selbstbeschreibung“ darstellten (S. 24).

Im zweiten Kapitel „Erschöpfung in Film und Fotographie“ gelingt der Nachweis müder und erschöpfter Helden und Heldinnen – jedoch nur vereinzelt und in Ausnahmesituationen. Isabelle de Keghel analysiert und kontextualisiert das Portrait eines abgekämpften Bergmannes im Rettungseinsatz bei einem Grubenunglück in der DDR 1960 und entdeckt in seinem publizierten Antlitz Trauer und Müdigkeit. Aglaia Wespe untersucht den Dokumentarfilm „Unsere Mutter – ein Held“, der 1979 gedreht wurde und zu Sowjetzeiten nicht aufgeführt werden durfte: Er zeigt eine erfolgreiche Arbeiterin und Funktionärin, die am Internationalen Frauentag nach den Feierlichkeiten spätnachts nach Hause kommt und dort im Flur vor Erschöpfung zusammenbricht – niedergedrückt von der im Sozialismus typisch weiblichen Mehrfachbelastung durch Arbeit, Politik und Familie. Die Kunsthistorikerin Monika Wucher vergleicht zwei „Einzelkämpfer“ als Protagonisten ungarischer „Soziografischer Dokumentarfilme“ aus der Zeit um 1970. Mit Recht stellt die Autorin die Frage, ob dieser Dokumentarismus mit „ideologiekritischen Funktionen“, ob das Anrennen „mit der Kamera gegen die Realität“, nicht selbst einem heroischen Selbstverständnis folgt. Eine „alternde Fliegerheldin zwischen Loyalität und Generationenwandel“ beobachtet Carmen Scheide im Film „Kry’ja“ („Flügel“); dieser Film aus dem Jahr 1966 problematisiert die gesellschaftliche und emotionale Marginalisierung der sowjetischen Fliegerheldinnen des Zweiten Weltkrieges in der Nachkriegszeit. Die Protagonistin fühlt sich als „tote Heldin“, als bloßes „Exponat im Museum“ – gleichwohl gelingt es ihr, die ihr gesetzten Grenzen zu überwinden, indem sie noch einmal ein Flugzeug erklimmt und einfach davonfliegt: „Sie ist am Ende eine glückliche, individuelle, selbstbestimmte, freie und lebendige Heldin.“ (S. 152) – Die Überwindung des Heldenmusters als befreiende Heldentat – eine schöne Vision am Ende dieses Kapitels – und ein Verweis auf das Schlusskapitel, worin die Literaturwissenschaftlerin Christine Gölz und die Filmemacherin Lene Markusen „Postsozialistische Helden“ in Filmen des 21. Jahrhunderts portraitieren: Am Beispiel der experimentellen Filme „GRAD“ aus dem Jahr 2001 und „Pyl’“ („Staub“) aus dem Jahr 2005.

Das dritte Kapitel enthält schließlich zwei Beiträge, die zeitgenössische Heldendiskurse in Verbindung mit „Mensch und Maschinenkörper“ diskutieren: Margareta Tillberg entführt uns in die Welt des 1962 eingerichteten „All-Union-Forschungsinstituts für technische Ästhetik“ und führt uns den idealen „Künstler-Konstrukteur“ vor. Marina Dimitrieva verfolgt die „Metamorphose“ eines Kinderbuch-Helden, von „Neznajka“, dem kleinen „Nichtswisser“, während der fünfziger und sechziger Jahre.

Das Ausstellungs- und Forschungsprojekt, das der von Monica Rüthers und Alexandra Köhring herausgegebene Band dokumentiert, weist vielversprechende Wege in die Zukunft der Erforschung der „Bildwelten des Sozialismus“. Er zeigt, wie eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Akademien und Museen sowie zwischen Historiker/innen, Kunsthistoriker/innen und Künstler/innen ins Werk gesetzt werden kann. Die beiden Herausgeberinnen weisen in ihrem Vorwort zu Recht darauf hin, „dass der künstlerisch durchgeführte Bruch mit funktionstüchtigen Helden und Heldinnen auch neue Vorbilder generierte: den aufmerksam beobachtenden, kritischen oder auch visionären Künstler, Filmer und Fotografen“ (S. 17). In diesem Zusammenhang sei noch auf eine Gattung von Akteuren verwiesen, die im Buch noch kaum Erwähnung findet, in deren Alltag jedoch all die hier vorgestellten Heldenbotschaften zwischen Alltäglichkeit und Außergewöhnlichkeit, zwischen Euphorie und Ermüdung, zwischen Überhöhung und Überlistung ankommen sollten: die nicht minder aufmerksamen und kritischen Publika in den sozialistischen Gesellschaften.

Anmerkung:
1 Siehe den Ausstellungskatalog Hubertus Gaßner / Daniel Koep / Markus Bertsch (Hrsg.), Müde Helden. Ferdinand Hodler, Alexsandr Dejneka, Neo Rauch, München 2012.

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