B. Boisits (hrsg.): Musik und Revolution

Cover
Titel
Musik und Revolution. Die Produktion von Identität und Raum durch Musik in Zentraleuropa 1848/49


Herausgeber
Boisits, Barbara
Anzahl Seiten
671 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Werner Boresch, FB A / Musikpädagogik, Bergische Universität Wuppertal

Die Anthologie legt die Beiträge der Tagung „Die Revolution 1848/49 und die Musik“ (Wien 2008) vor, deren Zahl für die Publikation „erheblich erweitert“ wurde (S. 9). In der Einleitung fasst Barbara Boisits aktuelle Positionen einer sozialgeschichtlich orientierten und interdisziplinär agierenden Musikwissenschaft zusammen, die weniger an den „Spuren der politischen Ereignisse im Werk selbst oder wenigstens in den Musikinstitutionen“ fragt, vielmehr ihr Interesse auf die „vielfältigen Formen von Musik, derer sich die Revolution bedient hat“, und auf die Auswirkung (und eben nicht „Spur“) der Revolution auf Musikschaffende und Musikinstitutionen richtet (S. 13). Die im Untertitel genannten Begriffe „Identität“ und „Raum“ umreißt Boisits prägnant, wobei insbesondere der Letztgenannte in musikwissenschaftlichen Forschungen bisher (zu) wenig Beachtung fand, wie Boisits mit Recht hervorhebt. Manche der folgenden 29 Aufsätze werden den geweckten Erwartungen allerdings nur teilweise gerecht, weil auch sie sich nur selten auf „raumtheoretische Fragen“ (S. 19) einlassen.

Der erste Teil des Bandes vereinigt unter dem Übertitel „Topographische Aspekte“ 14 Texte, die sich mit Musik in verschiedenen Regionen und Städten des Habsburgerreiches der Revolutionszeit auseinander setzen, wobei die Aufführungsform „Katzenmusik“ (nächtliche Lärmproduktion zur Verhöhnung unliebsamer Reaktionäre) mehrfach diskutiert wird. Hervorzuheben ist der Aufsatz „Triest 1848“ von Gregor Kokorz, weil hier die Aspekte „Identität“ und „Raum“ beispielhaft erörtert und miteinander verschränkt werden: In Triest, wo „sich die für die zentraleuropäische Region und die Monarchie kennzeichnende Heterogenität par excellence widerspiegelt“, in diesem „kulturellen Grenzraum“ also, müsse „das Verhältnis von Raum und Identität neu bestimmt werden“ (S. 158). Kokorz untersucht Musikdarbietungen an drei öffentlichen Räumen: Theater, Straße und Schule. Die Ergebnisse werden nicht harmonisiert, sondern in ihrer (erklärbaren) Widersprüchlichkeit dargestellt: Musik könne in einer „komplexe[n] Umbruchsituation“ ebenso „ästhetischer Kunstgenuss […] wie politisches Mittel sein“ (S. 175). Methodisch wichtig ist der Hinweis, dass „die [geringe] diskursive Präsenz der Musik […] in Diskrepanz zur [!] ihrer [großen] performativen Bedeutung“ stehe, die wiederum „nur durch ihre diskursive Existenz erschlossen werden“ könne (S. 162).

Mit Musikdarbietungen verbundene Räume werden von Marijana Kokanović Marković (Bälle in Novi Sad) und Haiganuş Preda-Schimek (Moldo-walachische Salons) thematisiert. Jana Lengová führt die Tatsache, dass slowakische politische Liettexte „auch zu polnischen, tschechischen, kroatischen und serbischen Melodien gesungen wurden“, auf die „slawischen kulturellen Wechselbeziehungen“ zurück (S. 252f.), womit die Vorstellung von distinkt zuzuordnenden „Volksmelodien“ konterkariert wird; offen bleibt aber, inwieweit 1848/49 „einen Markstein in der neuzeitlichen slowakischen Geschichte“ bildet (S. 262), wie Lengová zusammenfassend behauptet. Hier zeigt sich eine Schwäche mancher Texte der Publikation: Neben vielen interessanten und diskussionswerten Erkenntnissen wird der Bezug zur Revolution 1848 nur lose hergestellt.

Der zweite Teil des Buches vereinigt vier Aufsätze unter dem Titel „Aspekte der Konterrevolution“, dem die Inhalte aber kaum entsprechen. Wenn zum Beispiel Susanne Antonicek in der „Conclusio“ ihres Textes über die „Wiener Hofmusikkapelle im Revolutionsjahr 1848“ auf der Grundlage ihrer Quellen feststellen kann, die Kapelle habe „zu keinem Zeitpunkt aktiv in das Revolutionsgeschehen eingegriffen“ (S. 356), kann man daraus beim besten Willen keine Beziehung zur Konterrevolution ableiten.

„Das Repertoire“ steht im Mittelpunkt des dritten Teils. Thomas Aigner zeigt, dass „durch entsprechende Titel, das Zitieren vormals verbotener Lieder oder die Integration von Katzenmusik“ (S. 408) in Wiener Ball- und Marschmusik ein klingender Bezug zur Revolution hergestellt werden konnte, und stellt das ambivalente Verhältnis von Johann Strauß Vater und Sohn zur Revolution dar. (Am Rande sei vermerkt, dass hier wie fast stets im Buch der Name Strauß falsch – nämlich auf „ss“ endend – geschrieben wird.) Helmut Kowar greift in seinem Aufsatz „Die Revolution im Wohnzimmer“, der sich mit dem Repertoire mechanischer Musikinstrumente beschäftigt, wieder das zentrale Thema „Raum“ auf. Dass auf eine Flötenwerk-Walze sowohl der „Freiheitsmarsch“ als auch der „Radetzkymarsch“ von Johann Strauß Vater in friedlichem Nebeneinander gesetzt sind (S. 438 und 442f.), belegt die Beliebtheit dieser Musik jenseits ideologisch fundierter Entscheidungen.

Zwei Aufsätze (von Gernot Gruber und Dominik Šediyý) widmen sich Instrumentalwerken Alfred Julius Bechers, der als Herausgeber einer revolutionären Zeitschrift 1848 hingerichtet wurde. Gruber fragt eingangs, ob „Musik und Kunst überhaupt ein Seismograph“ für politische Erschütterungen sein können (S. 457). Wenn er darauf die „brisante Stimmungslage“ auf politischem und die „gärende und innovationsfreudige Zeit“ der 1840er-Jahre auf musikalischem Gebiet in Analogie setzt – auch wenn es sich um eine „fallweise nur latente oder subkutane Beziehung“ handelt –, bewegt er sich auf dem Gebiet des Behauptens. Nach sorgfältigen analytischen Bemerkungen zu Bechers Symphonie A-Dur kommt Gruber zum Fazit, man könne das Werk als „seismographisches Zeugnis für eine auch gesellschaftliche Unruhe […] nehmen“ (S. 480), und greift somit auf die zu Anfang problematisierte Metapher für eine unbeweisbare Beziehung zurück; denn: „Konkretisieren lässt sich kaum etwas“ (S. 481).

Antonio Baldassare beschäftigt sich mit Giuseppe Verdi und seiner Musik „im Kontext der italienischen Revolutionsbewegung von 1848/49“ und räumt mit der klischeehaften „Risorgimento-Erzählung“ auf, die Verdis positive Einschätzung der Donaumonarchie ignoriert (S. 530).1 Dabei zeigt er, wie sich „populärwissenschaftliche und wissenschaftliche Rezeptionsschichten gegenseitig beeinflusst haben“ (S. 528f.). Ob allerdings die konstatierten Veränderungen in Verdis Opern – musikalisch die Abkehr von standardisierten Formen und inhaltlich die „Verlagerung von der Darstellung des kollektiven Dramas zur Darstellung individueller Schicksale“ (S. 532) – im Zusammenhang mit der Revolution gesehen werden können, ist fraglich.

In seiner Studie über den „Befreiungsplot deutschsprachiger Musikgeschichten im Umfeld von 1848/49“ warnt nämlich Frank Hentschel ausdrücklich vor dem „hohen Maß an Beliebigkeit“ bei der Deutung von Zeugnissen nach 1848 als „Wirkung der politischen Ereignisse der Zeit“ (S. 539) und erinnert an das „Problem der Kausalität in der Geschichtsschreibung“ (S. 549). Hentschels Beitrag leitet den vierten und letzten Teil des Buches ein („Vor- und nachmärzliche Bezüge“). Es folgen Texte über Wiener Musikkritik 1848 (Barbara Boisits) mit wichtigen Bemerkungen zu „Musik und Zensur“ (S. 558–562) und über die „Mythisierung historischer Ereignisse in der bildenden Kunst Österreichs“, in dem Werner Telesko überzeugend resümiert, dass „eine intensive Konkurrenz der politischen Weltanschauungen über den Gebrauch ähnlicher Darstellungsmodi und Formgelegenheiten erfolgte“ (S. 594). Hermann Blume stellt Überlegungen an zum „musikalische[n] Schmerz in vormärzlichen Texten“ mit analytisch-hermeneutischen Aussagen zu Franz Schuberts Vertonung des Gedichtes „Memnon“ von Johann Mayrhofer, die allerdings die Grenze zum Spekulativen überschreiten. Christoph Landerer stellt die Philosophie in den Mittelpunkt seines Textes über „1848 und die Wissenschaften“ und weist nach, wie sich nach 1848 „die frühere Rückständigkeit“ der österreichischen Forschungslandschaft „in eine führende Rolle, vor allem in einigen Gebieten der human- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen, umwandelte“ (S. 618).

Die Anschaulichkeit einiger Abbildungen leidet unter zu kleiner (z.B. S. 360–363) oder zu dunkler Wiedergabe (z.B. S. 585 und 587). Insgesamt erlaubt die Publikation einen umfassenden Blick auf die Zeit um 1848 in der Donaumonarchie, wobei sich einige Beiträge vom historischen (1848) und inhaltlichen Zentrum (Identität und Raum) entfernen. Manche Texte – vor allem im ersten Teil – erschöpfen sich in der Nacherzählung von Quellen. Vielleicht ist dies der Tribut an den „Spatial Turn“, der in sich die Gefahr einer „Positivierung“ birgt.2

Anmerkungen:
1 Baldassare bezieht sich auf die exzellente Studie von Birgit Pauls, Giuseppe Verdi und das Risorgimento. Ein politischer Mythos im Prozeß der Nationenbildung, Berlin 1996.
2 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 285.

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