R. Rathert: Verbrechen und Verschwörung

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Titel
Verbrechen und Verschwörung: Arthur Nebe. Der Kripochef des Dritten Reiches


Herausgeber
Rathert, Ronald
Reihe
Anpassung - Selbstbehauptung - Widerstand 17
Erschienen
Münster 2002: LIT Verlag
Anzahl Seiten
224 S., 13 Abb.
Preis
€17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Roth, Bonn

Zu den wichtigsten Entwicklungen in der NS-Forschung der letzten Jahre gehört der Aufstieg der "neueren Täterforschung". Sie wendet sich von einer lange Zeit üblichen pathologisierenden oder dämonisierenden Perspektive ab, greift aber auch über eine rein sozialstrukturelle Ortsbestimmung von Tätergruppen hinaus, berücksichtigt generationelle Prägung, Karriereverlauf, Weltbilder und Motivstrukturen und untersucht deren Aktualisierung in der Praxis. 1 Insbesondere Studien zum Polizei/SS-Komplex haben in dieser Hinsicht Erträge gebracht: mittlerweile liegen hier Studien zu den Akteuren der unteren Hierarchieebene genauso vor wie Untersuchungen zum Korps des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), Darstellungen einzelner Aktionen genauso wie biografische Rekonstruktionen. Was die Führungsebene des Polizei/SS-Apparates angeht, so ist das Terrain – insbesondere durch die wegweisenden Studien von Ulrich Herbert und Michael Wildt – zwar methodisch und theoretisch erschlossen, 2 gleichwohl klaffen immer noch bedeutende Lücken, soweit es die Exponenten des NS-Terrorapparates betrifft. Zu diesen zählte zweifellos Arthur Nebe (1894-1945): er verantwortete nicht nur als Leiter des Reichskriminalpolizeiamtes (RKPA) und Amtschef des RSHA (1937/39-1944) die "nicht politische" Gegnerverfolgung des NS-Staates, sondern etablierte sich zugleich als umstrittene Figur der Nachkriegsgeschichte - wurde er doch als "Verschwörer" in der Folge des 20. Juli 1944 festgenommen und im März 1945 hingerichtet.

Wie die meisten anderen Exponenten des NS-Terrorapparates wurde Nebe jedoch lange Zeit von den Historikern ignoriert und populärwissenschaftlichen Studien, Memoiren oder Erinnerungen überlassen. In Nebes Fall waren dies die Veröffentlichungen des Verwaltungsjuristen und Mitarbeiters der Abwehr Hans Bernd Gisevius sowie eine vom ehemaligen NS-Kriminalisten Bernd Wehner verfasste "Spiegel"-Serie. 3 Nebes Verhältnis zum Nationalsozialismus erfuhr dabei zweierlei Deutung: Während Wehner den Konformismus und Ehrgeiz seines früheren Vorgesetzten akzentuierte, schilderte Gisevius, der sich nicht nur als Freund verstand, sondern auch den Kontakt Nebes zu Widerstandskreisen hergestellt hatte, den Reichskriminaldirektor als Menschen von hoher fachlicher Befähigung, der in seinem "preußisch-sozialistischen" Idealismus vom Nationalsozialismus angezogen, mit zunehmender Dauer des Regimes immer deutlicher auf Distanz ging. Gisevius bagatellisierte zudem Nebes Beitrag zur NS-Vernichtungspolitik oder stellte ihn in zynischer Weise als taktisch motiviert dar. Erst in den letzten Jahren wurden beide Versionen von Historikern einer kritischen Sichtung unterzogen. 4 Der von Wehner und Gisevius geschilderte "Nebe" ist nun als Chiffre individueller oder institutioneller Erinnerungspolitik erkennbar: Während ersterer durch eine Belastung des SS-Führers Nebe die Kriminalpolizei als solche von der Verantwortung für Verbrechen zu befreien versuchte, schien letzterer durch sein positives Nebe-Bild auch das eigene Engagement aufwerten zu wollen. An diesem Punkt knüpft die Publikation von Ronald Rathert an. Angesichts der Tatsache, dass nur wenige direkte Quellen über Nebe zur Verfügung stehen, versucht er eine Biografie, indem er Gisevius "Eloge" und Wehners Protokoll der "Verstrickungen" (S. 15f.) kritisch sichtet und kontrastierend liest - ergänzt durch einige Unterlagen aus dem BDC, Aussagen von Zeitzeugen und Unterlagen der Nachkriegsjustiz.

Rathert schildert weitgehend chronologisch Nebes Weg: von der kleinbürgerlichen Herkunft und dem Fronteinsatz im 1. Weltkrieg über die abgebrochenen Studien in Medizin und Volkswirtschaft bis zu seinem 1920 erfolgten Einstieg in den Kriminaldienst. Dort profilierte er sich weniger durch seine mäßig erfolgreiche Arbeit als durch sein politisches Engagement, das ihn nach Mitgliedschaften in deutschnationalen und völkischen Gruppierungen 1931 zur NS-Bewegung führte, für die er innerhalb der Kriminalpolizei Organisationsarbeit leistete und Material sammelte, das nach 1933 in den Säuberungsbestrebungen der neuen Machthaber Verwendung fand. Nicht zuletzt aufgrund dieser klaren Positionierung machte Nebe rasch Karriere: im April 1933 Leiter der Exekutivabteilung im Geheimen Staatspolizeiamt kam er 1935 auf die Führungsposition der Preußischen Landeskriminalpolizei, um zwei Jahre später die gesamte Kriminalpolizei des Reiches zu leiten. Voraussetzung des rasanten Aufstieges war sein geschicktes Taktieren in den Auseinandersetzungen der Fraktionen Göring/Diels, Daluege/Frick und Himmler/Heydrich um die Polizeigewalt im NS-Staat. Ursprünglich Protegé Dalueges gelang es ihm, rechtzeitig das Vertrauen von Himmler und Heydrich zu erlangen. Seine Berufung zum höchsten Kriminalisten des Reiches rechtfertigte er schließlich auch durch fachliche "Erfolge" in spektakulären Ermittlungsfällen Mitte der 30er Jahre (S. 48f., 66ff., 99ff.) sowie durch den Ausbau der Kriminalpolizei zu einem einheitlich operierenden, professionell agierenden Apparat.

Verflochten mit der Geschichte seines Aufstiegs schildert Rathert die wachsende Beteiligung Nebes an den nationalsozialistischen Verbrechen: von der Formulierung eines Programms "rassenhygienischer Verbrechensbekämpfung" durch das RKPA und Installierung einer "Säuberungspolitik" gegen "Berufsverbrecher" und "Asoziale" im Rahmen der "vorbeugenden Verbrechensbekämpfung" (S. 60ff.) über Nebes Beteiligung am Völkermord an den Sinti und Roma bis zu seiner Tätigkeit als Führer der Einsatzgruppe B, die von Sommer bis Herbst 1941 ca. 45.000 Menschen ermordete (S. 111ff.); von Nebes Initiativen zur Durchführung von Menschenversuchen an sowjetischen KZ-Häftlingen und "Zigeunern" 1943/44 (S. 133ff.) bis zu der unter seiner Leitung vom Kriminaltechnischen Institut der Sicherheitspolizei vorgenommenen Entwicklung von Tötungsverfahren für den nationalsozialistischen Kranken- und Völkermord (S. 105ff., 121ff.), die Patrick Wagner dazu veranlasst hat, Nebe als "Innovateur des Massenmordes" zu bezeichnen. 5 Während die "Verbrechen" Nebes aktenmäßig belegt sind, muss Rathert, was den zweiten Aspekt seiner Biografie – die "Verschwörung" – angeht, vor allem aus Gisevius' Erinnerungen schöpfen. Demzufolge ging Nebe bereits 1934 nach dem von ihm missbilligten Mord an Röhm innerlich auf Distanz zu Hitler, hatte seit Mitte der 30er Jahre über Gisevius Kontakt zum Militär und dem Widerstandskreis um Hans Oster und "konspirierte" während des Krieges als Mitglied einer kleineren Gruppe konservativer Oppositioneller und unzufriedener Nationalsozialisten. 1943/44 bekam er schließlich die Rolle zugewiesen, nach einem erfolgreichen Attentat mit Hilfe loyaler Beamter die Spitzen des Regimes zu verhaften.

Der Biograf zeichnet Nebe als "Überzeugungstäter", der, im wilhelminischen Wertekosmos sozialisiert, sich nach dem "Aufbruchs"-Erlebnis des 1. Weltkrieges entschieden gegen die Republik und frühzeitig dem Nationalsozialismus zuwandte (S. 23ff.) und keineswegs nur aus fachlichem Ehrgeiz, sondern aus weltanschaulicher Überzeugung heraus die Terrormaßnahmen des NS-Regimes mittrug. Auch Rathert kann das "doppelte Engagement" Nebes zwischen "Verbrechen und Verschwörung" nicht mit einer einfachen Formel erhellen, ihm geht es jedoch um eine klarere Gewichtung beider Aspekte. Nebes Versuche der Distanzierung wirken in Ratherts Darstellung wie eine Fußnote zu seiner sonstigen Loyalität oder ein Appendix der Widerstandsbemühungen Anderer. Folgt man der Darstellung des Biografen, so lässt sich auf Seiten des Reichskriminalpolizeidirektors kein wesentliches Engagement oder Bekenntnis für einen Regimewechsel nachweisen. Seine Auseinandersetzung mit dem "Widerstand" war vielmehr von permanenten Zweifeln an Motiven und Strategie der Militärs und dem Bemühen geprägt, sich möglichst wenig festzulegen. Die Aufrechterhaltung des Kontakts über Jahre hinweg scheint vor allem in der Unsicherheit Nebes über seine Position innerhalb der nationalsozialistischen Führungsgruppe begründet gewesen zu sein und verdankte sich nicht zuletzt den ständigen Rekrutierungsversuchen seines Freundes Gisevius. Insofern dürfte Nebes Engagement am Ende des "Dritten Reiches" vor allem als taktisch motiviert, im Sinne einer Absetzbewegung zu verstehen sein. Und soweit sich Nebes Haltung zu diesem Zeitpunkt überhaupt erschließen lässt, wird man – in Anlehnung an Ulrich Herbert – eher von einem "Kampf um, nicht gegen den Nationalsozialismus" ausgehen müssen. 6

Hier liegen auch die Verdienste von Ratherts Studie. Er macht nicht nur einen Teil der verstreuten Quellen verfügbar, sondern nimmt engagiert Stellung zur Biografie Nebes und den apologetischen Zügen früherer Porträts. Seine Kritik mündet in einen skeptischen Kommentar zum Erzählmodell der 'tragischen Verstrickung', das einen "Diskrepanz" von "guten [Einzel]Taten und Massenmord" konstruiert, um diese dann zu Gunsten der Täter auszulegen (S. 16f., 194). So dürfte Ratherts Buch insbesondere für die politische Bildungsarbeit (für die es auch konzipiert scheint) geeignet sein. Gemessen an den Maßstäben einer wissenschaftlichen Täterforschung lässt es jedoch zu wünschen übrig - und bleibt hinter den vorliegenden Nebe-Skizzen von Wagner, Wildt und Black (vgl. Anm. 4) zurück. Dies hat mehrere Gründe. Zum einen macht sich Konzentration auf biografische Quellen deutlich bemerkbar. Der Autor übernimmt damit eine Perspektive, die sich auf herausragende Ereignisse, persönliche Konflikte und karrierespezifische Wendepunkte konzentriert, Herrschaftsalltag und Amtsführung aber weitgehend ausblendet. Nebes Tätigkeit als Leiter des RKPA und seine Rolle bei der konkreten Ausgestaltung der NS-Kriminalpolitik ist somit unterbelichtet. Auch der Gesamtzusammenhang des NS-Regimes bleibt blass. Rathert berücksichtigt zwar einige einschlägige Untersuchungen zur Organisations- und Verfolgungsgeschichte der Kriminalpolizei. Er verzichtet jedoch darauf, Bezüge zu allgemeineren Fachdiskussionen oder der neueren Täterforschung herzustellen. Auch die von ihm anfangs zu Recht aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis des militärischen Widerstands zur Vernichtungspolitik des Regimes (S. 13) wird später nicht mehr aufgegriffen. Zur Kennzeichnung Nebes zieht Rathert vor allem den Kontext der Führungsgruppe Himmler/Heydrich/Müller heran, ein möglicherweise ertragreicher Vergleich mit Figuren wie Gisevius oder Rudolf Diels unterbleibt aber. Auch hätte man sich Ausführungen über Nebes Verhältnis zum Führerkorps des RKPA gewünscht, insbesondere zu seinem Stellvertreter, dem studierten Juristen und "Technokraten" Paul Werner 7, der eine gewichtige Rolle spielte bei der Organisation des Amtes, der Konzeption kriminalpolizeilicher Gegnerbekämpfung und deren Umsetzung im Rahmen der "vorbeugenden Verbrechensbekämpfung", der "Jugendschutzlager" oder kriminalbiologischen Erfassung. Zum dritten stellt sich das Problem der Form. Denn die früheren Nebe-Porträts, auf die sich Rathert bezieht, waren nicht nur von den besonderen Interessen der Autoren geprägt, sondern auch von genrespezifischen Darstellungsregeln: seien es Anleihen an die Spionage- und Kriminalliteratur und kolportagehafte Vereinfachungen, spannungssteigernde Inszenierungen oder der mal reißerische, mal raunende Ton des Enthüllungsjournalismus. Rathert ist sich dessen wohl bewusst (vgl. S. 14-19), passt sich aber mitunter auf ärgerliche Weise dem Stil seiner Quellen an. Sein Text wechselt zur Erzielung von Anschaulichkeit und "suspense" häufig in den Präsenz, weist an einigen Stellen Verkürzungen und nachlässige Formulierungen auf und schreckt auch vor fragwürdigen Psychologisierungen, Spekulationen und den in der populären NS-Biografik beliebten "Kuriositäten" (S. 79ff.) nicht zurück.

Abgesehen davon ist angesichts der problematischen Quellenüberlieferung zu fragen: Ist eine umfassende wissenschaftliche Biographie zum Fall Nebe überhaupt möglich? Und wenn nicht: Sollte man in Fällen wie Nebes nicht gleich die Darstellungsmuster und -strategien der zugehörigen Memoiren- und Erinnerungsliteratur in den Mittelpunkt rücken? Als Beitrag zu einer deutschen Erinnerungsgeschichte?

Anmerkungen:
1 Zuletzt Gerhard Paul (Hg.): Die Täter der Shoah, Göttingen 2002; Joachim Perels, Rolf Pohl (Hgg.): NS-Täter in der deutschen Gesellschaft, Hannover 2002.
2 Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989, Bonn 1996 (Studienausgabe 2001); Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. Erwähnung verdienen natürlich auch die kollektivbiografischen Studien von Jens Banach zum RSHA und Karin Orth zur Konzentrationslager-SS sowie die Untersuchungen von Peter Black und Lutz Hachmeister zu Kaltenbrunner und Six.
3 Hans Bernd Gisevius: Bis zum bitteren Ende, Zürich 1946; ders.: Wo ist Nebe? Erinnerungen an Hitlers Reichskriminaldirektor, Zürich 1966; Bernd Wehner: Das Spiel ist aus – Arthur Nebe. Glanz und Elend der deutschen Kriminalpolizei, in: Der Spiegel, Jg. 3, Nr. 40, 29.9.1949 bis Jg. 4, Nr. 16, 20.4.1950.
4 Vgl. Patrick Wagner: Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996, S. 180ff.; Peter Black: Arthur Nebe. Nationalsozialist im Zwielicht, in: Ronald Smelser; Enrico Syring (Hgg.), Die SS. Elite unter dem Totenkopf, Paderborn 2000, S. 364-378 und vor allem Wildt (wie Anm. 2), S. 301-310.
5 Wagner (wie Anm. 4), S. 308.
6 Herbert (wie Anm. 2), S. 390. Vgl. auch Susanne Meinl: Nationalsozialisten gegen Hitler. Die nationalrevolutionäre Opposition um Friedrich Wilhelm Heinz, Berlin 2000, S. 329f.
7 Wagner (wie Anm. 4) S. 258, 266f.; Wildt (wie Anm. 2), S. 314ff. Ohnehin scheint mir eine Untersuchung über Paul Werner mehr Ertrag zu versprechen als eine Nebe-Biografie, nicht zuletzt, weil Werner auch nach 1945 in seinem Tätigkeitsfeld aktiv blieb.
[8] Vgl. hierzu auch Friedrich Gerstenberger: Strategische Erinnerungen. Die Memoiren deutscher Offiziere, in: Hannes Heer; Klaus Naumann (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Frankfurt am Main 1997 (10. Aufl.), S. 620-629 sowie den Beitrag von Hanno Loewy, Faustische Täter? Tragische Narrative und Historiographie, in: Paul, Täter der Shoah (Anm. 1).

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