C. Leonardi: Dealing with Government in South Sudan

Cover
Titel
Dealing with Government in South Sudan. Histories of Chiefship, Community and State


Autor(en)
Leonardi, Cherry
Reihe
Eastern Africa
Erschienen
Suffolk 2013: James Currey
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 58,18
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Enrico Ille, Regional Institute of Gender, Diversity, Peace and Rights, Ahfad University for Women, Sudan

Seit Dezember 2013 entfernt sich Südsudan zusehends von dem, was im Allgemeinen Staatsgebilde genannt wird, und scheint durch den Ausbruch eines Bürgerkrieges im Prozess der Auflösung begriffen. Im Juni 2014 erschien das Land sogar an erster Position des Fragile State Index (Fund for Peace). Tatsächlich ist die Frage „Wer regiert eigentlich in Südsudan?“ nicht erst seit der Transformation der vorherigen Rebellenbewegung SPLM/A (Sudan Peoples’ Liberation Movement / Army) in eine nominell semi-autonom regierende Partei stark umstritten. Diese Streitfrage bekam nach 2005 eine neue Qualität und Dringlichkeit, als ein Friedensabkommen zwischen der im Norden regierenden National Congress Party (NCP) und der SPLM/A einen seit 1983 geführten Krieg beendete. Nach einem Referendum wurde Südsudan im Juli 2011 unabhängig, ein historischer Moment, der von vielen Seiten als Ende eines Befreiungskampfes und als Geburt eines neuen afrikanischen Hoffnungsträgers verstanden wurde. In den folgenden Jahren entwickelten sich jedoch keine Institutionen, welche die existierenden Spannungen zwischen Partikularinteressen und einem auf das Allgemeinwohl gerichteten Staatswesen tragen können.

Die Aushandlung der Spannungen zwischen lokaler Bevölkerung und Agenten von Staatsapparaten war spätestens unter der britischen Kolonialregierung, die sich seit 1898 nach und nach in Sudan etablierte, eng mit der Figur des „chief“ verbunden. Die in der Indirect Rule-Verwaltungsideologie verankerte Vorstellung eines nahezu autokratischen Führers von Dorfgemeinschaften subsumierte eine große Vielfalt sozialer Autorität. Sie schuf dabei nicht nur neue Spannungen zwischen Staat und Gemeinschaft, sondern transformierte auch die tatsächliche Art und Weise, wie Gemeinschaften Autorität etablierten und stabilisierten. Nach der Unabhängigkeit 1956 blieben diese „traditionellen“ Autoritäten ein wesentliches Element der Verwaltung und auch die neue Regierung des Südsudans führte diese historische Linie fort.

Diese Linie steht im Zentrum von Cherry Leonardis Buch, das eine zehnjährige Forschungsarbeit – zum Großteil basierend auf ausgedehnten Perioden von Feldforschung und Archivarbeit – zusammenbringt. Dabei ist „Linie” nicht als evolutionäres Fortschreiten zu verstehen, denn das Buch „is concerned [...] with what local histories of chiefship reveal about broader relationships with the state“ (S. 3), und es ist damit befasst „to examine both state and tradition not as fixed entities but as ideas, discourses and imaginaries, as well as institutions, actors and processes“ (S. 5).

Leonardi organisiert ihre Untersuchung in drei Kapitel, welche drei Zeitphasen (1840–1920, 1920er–1950er, 1956–2010) in der Transformation von punktuellen Auslegern überregionaler Mächte über die Ausweitung lokaler staatlicher Verwaltung bis zur in urbanen Gegenden zentrierten staatlicher Präsenz auf ein kontinuierlich umstrittenes Staatsgebiet darstellen. Leonardi folgt somit größtenteils einer chronologischen Gliederung. Während die Titel dieser Unterteilung ein einfaches Fortschreiten suggerieren – von Sklavenlagern zu Siedlungszentren, von Dorfgerichten zu Verwaltungsräten, von Armeelagern zu Städten – erlaubt ihre langjährige Erfahrung mit dem Untersuchungsgegenstand eine historisch differenzierte Ausarbeitung verschiedener Aspekte, welche sie um das Bild der Grenze („frontier“) herum entwickelt.

„Frontier“ bezeichnet immer auch eine doppelte Unsicherheit sowohl im Hinblick auf die zu verstaatlichenden Grenzgebiete als auch auf die „Grenzgänger“ zwischen Staatsdienst und lokalen Gemeinschaften: Für die „neuen Gebiete“ bedeutete dies bis zum 20. Jahrhundert meist die Inkorporation in Handelsnetzwerke, deren wichtigstes Gut Sklaven waren. Statt diese Periode aus dem Blickwinkel einer Opfer-Täter-Dichotomie anzugehen, hebt Leonardi hier die Existenz einer politischen Ökonomie des Wissens hervor. So erlangten beispielsweise Grenzgänger mit Wissen um geographische Gegebenheiten hohe Bedeutung. Während die britische Kolonialregierung gewissermaßen die geographische und soziale Position der vorherigen Handelszentren erbte, indem sie diese als Ausgangspunkte für ihre eigenen Verwaltungszentren nutzte, sieht Leonardi hier auch ein Muster von sozialer und politischer Vermittlung, welche nun in Gestalt des chief zunehmend institutionalisiert wurde. Dementsprechend erscheint der wachsende Kolonialstaat in ihrer Analyse auch nicht einfach als übermächtigender Apparatus, welcher nach und nach die Gebiete des Südsudans überzog. Die Periode bis 1920 ist hier eher ein heterogener Prozess des Kennenlernens und Aushandelns, der bei aller Machtasymmetrie und Gewaltsamkeit für einige Teile der Bevölkerung Chancen eröffnete, wobei „entrepreneurial chiefs“ (S. 59) wiederum von zentraler Bedeutung waren.

Im zweiten Teil des Buches verfeinert Leonardi dieses Bild weiter und argumentiert, dass im Unterschied zu anderen Gebieten des britischen Kolonialreiches die Position des chief in Südsudan meist nicht zu einem ausreichenden Machtmonopol führte, das die ungehinderte Ausnutzung von Arbeitskraft und anderen Ressourcen erlaubte. Gerade aufgrund der Fragilität der Grenzen erscheint die Stellung der chiefs „not as a gate kept between discrete economic spheres, or between a bounded state and society, but in terms of multifaceted frontiers upon which community, state and chiefship were simultaneously forming“ (S. 63). Dieses Argument wird dann für die breiten Themenbereiche „Organisation von Arbeit“, „Rechtswesen“, „Territorialverwaltung“ und „Nationalpolitik in Richtung Unabhängigkeit“ nachverfolgt und spezifiziert.

Im letzten Teil kehrt Leonardi zu ihrer Ausgangsbeobachtung zurück, dass die SPLM/A-geführte Regierung – ähnlich wie die gegnerische NCP – großen Wert auf die Inkorporation existierender „traditioneller Autoritäten“ in ihre Staatsapparate legte. Während die hier diskutierte Periode von 1956 bis 2010 im Wesentlichen von Bürgerkriegen und autoritären Regimes (1955–1972, 1983–2005) geprägt war, hebt Leonardi hervor, dass diese Zeitpanne nicht ausschließlich aus diesem Blickwinkel zu erzählen ist: „In the research areas, people told personal histories of war, loss and displacement, but [...] [w]ar appears as a context of people’s life stories, rather than as a focus in itself“ (S. 144). Zudem folgte das Verständnis ihrer Informanten nicht der herkömmlichen historiographischen Periodisierung, sondern kontextualisierte kürzlich erlebte Gewalt als Teil einer langen Geschichte der Erfahrung von staatlicher Gewalt. Als alternative Perspektive beschreibt Leonardi daher diese Periode als eine – wenn auch unstete und brüchige – Geschichte der Urbanisierung, Elitenbildung, Militarisierung, Traditionalisierung und Bürokratisierung, unterlegt mit der Frage, wie es zu der dabei fortlaufenden und sogar verstärkten Bedeutung der chiefs kam.

Insgesamt stellt das Buch nicht nur einen fundamentalen Beitrag zur politischen Geschichte Südsudans dar, welcher für jede dahingehende Untersuchung unverzichtbar sein sollte. Es zeigt auch, wie einsichtsvoll, anregend und angenehm lesbar eine verfeinerte Analyse der Verwebung „lokaler“, scheinbar peripherer Geschichte mit Fragen der Ausbildung größerer Entitäten wie Nationalstaaten sein kann, vor allem, wenn sich diese Entitäten als Produkte und nicht als Produzenten einer solchen Verwebung herausstellen. Trotz der intensiven Behandlung detaillierter Beobachtungen gelingt Leonardi dabei ebenfalls die Anbindung an Debatten um Staatsbildung und Governance in Afrika, auch wenn dies eher im Dienste des Untersuchungsgegenstandes, als im Sinne übergreifender konzeptioneller Arbeit geschieht. Das kann, je nach Erkenntnisinteresse, als Vorteil oder Nachteil gesehen werden. Im Rahmen von James Curreys Reihe „Eastern Africa Series“ führt es in jedem Fall zu einem weiteren Standardwerk für das Verständnis historischer und gegenwärtiger Entwicklungen in dieser Region.

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