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Titel
Arrested Mourning. Memory of the Nazi Camps in Poland, 1944–1950


Autor(en)
Wóycicka, Zofia
Reihe
Warsaw Studies in Contemporary History 2
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
311 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sara Berger, Fondazione Museo della Shoah, Rom

Mit ihrer Studie zur Erinnerung an die nationalsozialistischen Lager in Polen bietet die Historikerin Zofia Wóycicka detaillierte Einblicke in die polnische Erinnerungskultur. Sie konzentriert sich bei ihrer Analyse auf die unmittelbare Nachkriegszeit, in der die Vergangenheit Gegenstand von bis heute nachwirkenden Kontroversen war und das soziale Gedächtnis noch nicht im Zuge der Stalinisierung kodifiziert war.

Im ersten Teil ihrer zweigeteilten Studie (Kapitel 1 bis 3) untersucht Wóycicka die beteiligten Akteure: Zunächst widmet sie sich der Rückkehr der politischen Häftlinge und der Gründung von Selbsthilfe-Organisationen, wie der Polnischen Vereinigung ehemaliger politischer Häftlinge (PZbWP). Das in Polen anfangs vorherrschende Bild der politischen Häftlinge oszillierte zwischen einer Opfer- bzw. Märtyrerrolle auf der einen und der Überbetonung einer Heldenrolle auf der anderen Seite. Im Zuge des „Kampfs gegen die Opferrolle“ ab 1947 wurde diese mehrdimensionale Sicht zugunsten einer Glorifizierung der Häftlinge als politische Kämpfer für Freiheit und Unabhängigkeit aufgegeben. Hier knüpft die Autorin im dritten Kapitel wieder an, wenn sie die Debatte um das zum Teil ambivalente Verhalten von (Funktions-)Häftlingen insbesondere im Kontext der frühen Kollaborations-Prozesse behandelt. Ab 1948 setzte sich schließlich das vereinheitlichte Bild einer Häftlingsgemeinschaft ohne jede Grauzone durch.

Mit den jüdischen Überlebenden beschäftigt sich die Autorin im zweiten Kapitel. Sie zeigt auf, dass die Erinnerung an den Holocaust in den unmittelbaren Nachkriegsjahren noch präsent war, ehe die Shoah gegen Ende der 1940er-Jahre in Polen marginalisiert und tabuisiert wurde. Jüdische Organisationen, wie das Zentralkomitee der Juden in Polen (CKŻP), agierten dabei von Anfang an isoliert. Wóycicka erklärt dies mit Antisemitismus und Opferrivalitäten sowie mit der Indifferenz nichtjüdischer Polen gegenüber dem Schicksal von Menschen, die nicht als zugehörig zur „eigenen“ Gesellschaft betrachtet wurden. Auch die jüdisch-polnischen Organisationen bevorzugten die Eigenständigkeit. Besonders die noch 1944 eingerichtete Zentrale Jüdische Historische Kommission (CŻKH), aus der 1947 das Jüdische Historische Institut (ŻIH) hervorging, betonte den „separierten Tod“, das heißt vor allem den „jüdischen Tod“ in den Vernichtungslagern, und die Einzigartigkeit der „totalen Ausrottung“ der „jüdischen Nation“ (S. 95).

Im zweiten Teil ihrer Studie (Kapitel 4 bis 6) widmet sich Wóycicka den Erinnerungsorten: Zunächst beschreibt sie die Debatten um die Errichtung der ersten Gedenkstätten. Auschwitz entwickelte sich zum zentralen Ort der Erinnerung, insbesondere aufgrund der hohen Opferzahl auch der nichtjüdischen Polen, der Existenz eines lagerinternen Widerstands und der großen Anzahl von Überlebenden, die in der PZbWP organisiert waren. Die erste Ausstellung wurde am 14. Juni 1947 eröffnet, dem siebten Jahrestag des ersten Transports mit politischen Häftlingen aus Tarnów. Die Mitarbeiter des Staatlichen Museums, das das polnische Parlament schon am 2. Juli 1947 offiziell gründete, waren ehemalige polnisch-politische Häftlinge. Diskutiert wurde anfangs unter anderem, wie die Orte, die nach dem Verlassen der Häftlinge und der Beerdigung der Leichen ihre Aura des Schreckens verloren hatten, sinnvoll eingerichtet werden könnten, ohne „Wachsfiguren-Kabinette“ nachzubilden. Religiöse, insbesondere christliche Symbole wie das Kreuz wurden bis 1948 nicht nur toleriert, sondern auch gefördert.

Auschwitz-Birkenau stand – neben dem jüdischen Pavillon in Majdanek und dem 1948 eingeweihten Denkmal zum Warschauer Ghetto-Aufstand – auch im Zentrum des jüdischen Interesses und bildete somit einen der wichtigsten Orte der Auseinandersetzungen um die Erinnerung. Wóycicka schildert, wie sich die jüdischen Vertreter schon früh beklagten, dass dem Gedenken an die Ermordung der Juden kein Raum gegeben werde. Birkenau, wo die Vernichtungsstätten lagen, wurde trotz der Forderungen von jüdischer Seite nicht von Anfang an in die Gedenkstätte einbezogen; lediglich ein kleines Denkmal wurde in der Nähe der Ruinen der Krematorien errichtet. Aspekte der Shoah traten damit gegenüber der Geschichte in Auschwitz I, wo Block 11 zum Symbol des „polnischen Martyriums“ wurde, in den Hintergrund. Erst kurz vor der Eröffnung des Museums gelang es, eine separate jüdische Ausstellung durchzusetzen. Die versprochene Übergabe von zwei weiteren Blöcken im ehemaligen Stammlager kam jedoch nicht zustande, und die jüdische Identität der Opfer wurde im Museum weiterhin kaum erwähnt. Der jüdische Bereich wurde 1950 erneuert, aber noch im selben Jahr wurde das Museum im Zuge stalinistischer Geschichtspolitik neu gestaltet. Zu dieser Zeit hatten die noch in Polen lebenden Juden ihre öffentliche Stimme und ihren Einfluss bereits verloren. Die meisten jüdischen Einrichtungen waren geschlossen worden.

Die Vernichtungslager Kulmhof, Belzec, Sobibor und Treblinka wurden nach dem Krieg zu „vergessenen Orten“ (S. 188), da hier nur noch die Massengräber vorhanden waren und es nur wenige Überlebende gab, die ein angemessenes Gedenken einfordern konnten. Die Stätten wurden zudem ausschließlich mit dem „jüdischen Martyrium“ (S. 189) assoziiert und traten selbst bei den jüdischen Institutionen gegenüber Orten wie dem Warschauer Ghetto in den Hintergrund. Nur im Fall Treblinkas wurde im Oktober 1947 ein Wettbewerb ausgeschrieben. Es gewann ein letztlich nicht realisiertes Projekt, welches das gesamte Lagergelände als Museum einbezog und in der Tradition sepulkraler (christlicher) Kunst stand, aber dennoch die jüdische Identität der Opfer mit leicht zugänglichen Symbolen wie dem Davidstern betonen wollte.

Wóycicka nutzt ein breites Spektrum an Sekundärliteratur und eine reiche Auswahl von Zeitschriften, Zeitungen und anderen Quellen aus polnischen Archiven der Opferverbände, aus Gedenkstätten sowie aus staatlichen und kommunalen Behörden. Ausländische Archive bezieht sie in ihre Analyse nicht mit ein, da die Auseinandersetzungen – selbst diejenigen um Auschwitz – im Untersuchungszeitraum auf rein innerpolnischer Ebene geführt wurden.

Der Autorin gelingt eine informative und kritische Darstellung der pluralistischen Konfliktlinien innerhalb der (Opfer-)Gesellschaft, die insbesondere durch den erweiterten Blick sowohl auf die polnischen (politischen) Häftlinge als auch auf die jüdischen Verfolgten innovativen Charakter hat. Mit facettenreichen und aussagekräftigen Zitaten verzichtet sie auf monokausale Interpretationen und lädt den Leser zur Reflexion über die damaligen Entwicklungen ein. Leider bietet die Verfasserin in ihrer Einleitung keine Einordnung ihrer Ergebnisse in den aktuellen Forschungsstand zur Erinnerungskultur in Polen. Wünschenswert wäre eine wenigstens kursorische Einbeziehung auch der letzten Dekaden der Erinnerungspolitik gewesen, die es möglich gemacht hätte, die Tradierung der Konfliktlinien des Gedenkens und der dominanten Erinnerungsdiskurse bis heute grob zu verfolgen. Besonders Auschwitz hätte sich dafür angeboten, auch über die von Wóycicka selbst in einem bereits erschienenen Aufsatz1 und vom amerikanischen Historiker Jonathan Huener2 behandelten Jahrzehnte hinaus.

Problematisch erscheint, dass die Autorin den von nichtjüdischen und jüdischen Akteuren genutzten Begriff der „jüdischen Nation“ unreflektiert und undefiniert verwendet. Das von polnischen Historikern häufiger gebrauchte Konzept der „jüdischen Nation“ mag nützlich sein, um den Blick auf das Eigene und auf das Fremde zu erklären – dennoch stellt sich die Frage, inwiefern dieses Konzept tragfähig ist und die Selbstwahrnehmung aller polnischen Juden einbezieht. Tatsächlich waren diese Teil des polnischen Staats und trotz zahlreicher Unterschiede kein separater Staatskörper oder eine separate Nation. Auch (Quellen-)Begriffe wie „Martyrium“ sollten in Anführungszeichen geschrieben bzw. durch neutralere Begriffe ersetzt werden. Hilfreich gewesen wäre schließlich eine Aufnahme der polnischen Namen von Institutionen in das Abkürzungsverzeichnis.

Insgesamt ist die Lektüre von Zofia Wóycickas Studie sehr zu empfehlen – nicht allein wegen der Analyse historischer Konfliktlinien polnischer Erinnerungskultur, sondern auch für ein besseres Verständnis von Kontroversen in der heutigen Erinnerungskultur auf internationaler Ebene.

Anmerkungen:
1 Zofia Wóycicka, Zur Internationalität der Gedenkkultur. Die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau im Spannungsfeld zwischen Ost und West 1954–1978, in: Anna Wolff-Powęska / Piotr Forecki (Hrsg.), Der Holocaust in der polnischen Erinnerungskultur, Frankfurt am Main 2012, S. 127–160.
2 Jonathan Huener, Auschwitz, Poland, and the Politics of Commemoration, 1945–1979, Athens 2003.

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