S. Marten- Finnis u.a. (Hgg.): Moderne, Minderheiten und Migration

Cover
Titel
Berlin - Wien - Prag. Moderne, Minderheiten und Migration in der Zwischenkriegszeit/ Modernity, Minorities and Migration in the Inter-War Period


Herausgeber
Marten-Finnis, Susanne; Uecker, Matthias
Erschienen
Anzahl Seiten
293 S.
Preis
€ 44,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heidemarie Petersen, Geisteswissenschaftliches Zentrum Leipzig

Im September 2000 haben sich an der Queen’s University of Belfast Wissenschaftler aus mehreren Ländern getroffen, um im äußersten Westen Europas über seinen Osten zu diskutieren. Der vorliegende Band ist das Ergebnis dieser Konferenz.

Bereits der Titel signalisiert die Bandbreite der angesprochenen Themen und der dahinter stehenden Fachdisziplinen, die von der Architekturgeschichte über Literatur- und Medienwissenschaft bis zur Judaistik reicht. In ihrer knappen Einleitung machen die Herausgeber Susanne Marten-Finnis und Matthias Uecker deutlich, dass es ihnen darum geht, am Beispiel (Ost)mitteleuropas möglichst viele Facetten einer „Krise der Moderne“ (S. 9) aufzuzeigen, für die die Zwischenkriegszeit exemplarisch stehe. Angesichts des breiten thematischen Spektrums sind sie erfreulicherweise nicht so vermessen, von einem interdisziplinären Vorhaben zu sprechen, wie das sonst häufig getan und selten eingelöst wird. Sie streben vielmehr eine Art Zusammenschau an, die sich aus der Summe der Beiträge ergeben soll.

Die titelgebenden Städte sollen dabei sozusagen emblematisch für die Problemfelder „Moderne“, „Minderheiten“ und „Migration“ stehen. Ob Berlin, Wien und Prag in der Zwischenkriegszeit allerdings gleichermaßen „Metropolen“ (S. 9) im Sinne von kulturell-politischen Brennpunkten der Epoche waren, wie hier behauptet wird, wäre zu hinterfragen. Wien war in dieser Zeit längst nicht mehr das international ausstrahlende Experimentierfeld der Moderne, das es um die Jahrhundertwende gewesen war, und Prag ist es selbst als Hauptstadt der neu konstituierten Tschechoslowakischen Republik nie geworden. Tatsächlich stehen diese Städte auch nur bei zwei der insgesamt siebzehn Beiträge im Mittelpunkt des Interesses.

Entsprechend dem Untertitel ist der Band in drei Teile gegliedert. Sie inhaltlich zusammenzufassen, fällt angesichts der Disparität der Texte schwer; gleichwohl lassen sich wiederkehrende Motive oder Topoi benennen. Der erste und umfangreichste Abschnitt befasst sich in sieben Beiträgen mit den „Potentialen und Widersprüchen der Moderne“. Sozusagen kontrapunktisch zum Titel und Anspruch des Bandes wird hier der Auffassung entgegengetreten, dass „Moderne“ ausschließlich ein Phänomen der „Metropolen“ sei. An unterschiedlichen Beispielen wird gezeigt, dass Modernität sich gelegentlich auch aus dem Geist der Provinzialität speisen kann. Herausragend ist hier der Text von Andreas Kramer „The Politics of Place: Metropolis and Province in German Modernism“, der auch insgesamt der beste des Bandes ist.

Seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war eine Kulturkritik weit verbreitet, die die als internationalistisch abgelehnte Moderne in den Metropolen lokalisierte und diesen die Provinz als Inbegriff eines nationalen Idylls gegenüberstellte. Kramer kontrastiert diese, in den Schriften Julius Langbehns exemplarisch formulierte Haltung 1 mit mehreren Entwürfen aus dem Umfeld des Expressionismus. Regionalität erscheint in ihnen als transnationales und transkulturelles Modell, mit dem das vorherrschende nationale Paradigma unterlaufen wird. Als Beispiele führt Kramer die in Strassburg ansässige Künstlergruppe „Jüngstes Elsass“ und den „Prager Kreis“ um Max Brod und Franz Kafka an (Prag erscheint hier ausdrücklich als Provinz!). Sicher nicht zufällig wird dabei der Blick auf die westlichen und östlichen Peripherien des deutschsprachigen Kulturkreises gelenkt, wo vermeintlich eindeutige nationale Zugehörigkeiten eine gleichermaßen umstrittene wie fragwürdige Angelegenheit waren.

Ein weiteres, damit zusammenhängendes Thema, das im ersten Teil des Buches behandelt wird, ist das Spannungsverhältnis von nationalen und internationalistischen Konzepten, das in der Zwischenkriegszeit und zumal in Mitteleuropa nahezu alle politischen wie kulturellen Debatten prägte. Beispielhaft hierfür ist die Studie der Kunsthistorikerin Alena Janátkova „Bau und Gegenbau in der Moderne: Kontroverse Architekturkonzepte in Prager Fachzeitschriften“.

Im zweiten Teil des Bandes, der den „Wanderungsbewegungen“ im tatsächlichen ebenso wie im intellektuellen Sinne gewidmet sein soll, fällt es dagegen schwer, ein vergleichbares Leitmotiv zu entdecken. Bei den meisten Beiträgen, die sich mit so unterschiedlichen Themen wie der zionistischen Jugendbewegung in der Tschechoslowakischen Republik (Miriam Du Nour), Egon Erwin Kisch (Matthias Uecker), einer in Berlin herausgegebenen jiddischen Zeitschrift (Heather Valencia) oder dem Berlinbild in Romanen deutsch-jüdischer Exilautoren (Godela Weiss-Sussex) beschäftigen, ist allein schon der Bezug zum Rahmenthema unklar. Einzig der Text von Paola Sannino über „Travel Reports on the Western Modernized World as Depicted by Eastern European Jewish Authors“ nähert sich dem Thema Migration zumindest an. Die Autorin widmet sich darin dem literarischen Topos des „Aus dem Ghetto in die Welt“-Gehens, der sich in zahlreichen Arbeiten von Schriftstellern ostjüdischer Herkunft findet 2.

Der letzte Abschnitt befasst sich mit der „kulturellen Konstituierung von Minderheiten“. Wie im vorhergehenden Teil führen auch hier beinah alle Autoren ihr Thema an jüdischen Beispielen aus: Thomas Soxberger und Brigitte Dalinger widmen sich der in der Zwischenkriegszeit in Blüte stehenden jiddischen Kultur; Eleonore Lappin präsentiert eine Art Zusammenfassung ihrer Dissertationsschrift 3 über die von Martin Buber herausgegebene Zeitschrift „Der Jude“, und Christian Jäger führt unter dem Titel „Minderheit werden“ aus, wie in der deutsch-jüdischen Literatur der Zwischenkriegszeit der – soziale und/oder ethnisch-kulturelle Minderheitenstatus zunehmend positiv umgewertet wurde. Der einzige nicht-jüdische Beitrag von Lenka Cábelova widmet sich der „Rolle des Rundfunks in der politischen Entwicklung der Sudetendeutschen 1923-1938/39“.

Insgesamt lässt sich sagen, dass der Band einige interessante Einzelstudien enthält, die Idee der Herausgeber, die „Krise der Moderne“ in ihren verschiedenen Facetten zu zeigen, indes nur zum Teil verwirklicht. Am überzeugendsten ist in dieser Hinsicht der erste Abschnitt gelungen, während die folgenden (vor allem der zweite) eher den Eindruck eines Gemischtwarenladens erwecken. Ein roter Faden ergibt sich indirekt daraus, dass die Mehrzahl der Texte jüdischen Themen gewidmet ist. Dies scheint jedoch eher den zufälligen Forschungsinteressen der Autoren geschuldet zu sein, als dass es einem inhaltlichen Befund entspräche. Die Perspektive auf „Moderne, Minderheiten und Migration in der Zwischenkriegszeit“ wird dadurch unnötig eingeengt. Gerade in (Ost)mitteleuropa hätte sich differenzierteres Material zu diesem Themenkomplex finden lassen.

Anmerkungen:
1 Langbehn, Julius, Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig 1890.
2 Leider, ohne die einschlägige Literatur zu berücksichtigen, wie etwa von Glasenapp, Gabriele, Aus der Judengasse. Zur Entstehung und Ausprägung deutschsprachiger Ghettoliteratur, Tübingen 1996.
3 Lappin, Eleonore, Der Jude 1916-1928. Jüdische Moderne zwischen Universalismus und Partikularismus, New York 2000.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension