H. Rosenbaum: Kinderalltag im Nationalsozialismus

Titel
"Und trotzdem war's 'ne schöne Zeit". Kinderalltag im Nationalsozialismus


Autor(en)
Rosenbaum, Heidi
Erschienen
Frankfurt am Main 2014: Campus Verlag
Anzahl Seiten
681 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Wiegmann, Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung / Humboldt-Universität zu Berlin

In der gewiss nicht ausschließlich von historischer Forschungsliteratur, sondern mindestens ebenso durch (bewegte) Bilder geprägten Überlieferung begegnet der/die zeitgeschichtlich Interessierte Kindern und Jugendlichen aus der Zeit der beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts überwiegend marschierend, uniformiert und/oder sonst mit Insignien und Symbolen des Nationalsozialismus oder der DDR ausgestattet bzw. umgeben. Als Sinnbilder der jeweiligen Diktatur assoziieren sie ebenso nachhaltig wie bedeutungsschwer ein öffentliches Bild von der Vergangenheit, das im gesellschaftlichen Konsens für Geschichte genommen wird. Das ist auch auf dem Cover dieses Buches nicht anders. Es zeigt locker formierte jüngere Schulkinder, die den Hitlergruß erweisen. Zusammen mit dem Titel wird eine zeitgeschichtliche Spannung zwischen Fotodokument und Erinnerung erzeugt oder illustriert, die für Nachgeborene in aller Regel schwer zu ertragen ist. Wie sollte es auch trotz des Wissens um das „gängige Klischee von der schönen Kinderzeit“ und dem „verbreiteten ‚Erinnerungsoptimismus‘“ (S. 628f.), das heißt ohne zu vergessen oder zu verdrängen, möglich sein, eine Kindheit als glücklich zu erinnern und zu schildern, obgleich doch damals Rassenhass herrschte, Kriegsvorbereitung betrieben und schließlich in Auschwitz millionenfacher systematischer Mord geschah? Diese Unstimmigkeit gilt auch für den realsozialistischen deutschen Staat, der die eigene Bevölkerung systematisch bespitzelte und die renitente politische Opposition in den Gefängnissen des DDR-Geheimdienstes brutal zum Schweigen zu bringen suchte.

Vielleicht sind es ja sogar in nicht unbeträchtlichem Maße die politisch gebildeten Nachgeborenen, die die an ihr Lebensende gelangenden Kinder aus den 1930er-Jahren zu heute irritierenden Erzählungen, zur Erinnerungs- und Rechtfertigungsliteratur und zu großformatigen Bildbänden provozieren, die ein glückliches Heranwachsen in Nazideutschland dokumentieren sollen? Wer jedenfalls diese kaum auszuhaltende Differenz zwischen Systemcharakter des Nationalsozialismus und lebensweltlicher Kindheitserfahrung aufklären und begreifen will bzw. mehr noch, wie die Verfasserin, „den gesamten Alltag der Kinder“ (S. 13) zu erforschen sich vornimmt, kommt nicht umhin, den Zeitzeugen zuzuhören oder sonst ihre verbale Hinterlassenschaft zur Kenntnis zu nehmen. Das aber heißt auch, die Erzählungen ernst zu nehmen und mit den Erinnerungen in quellenkritischer Unvoreingenommenheit umzugehen. Zusätzlich wäre hier gewiss etwa die Analyse von Privatfotografien dienlich gewesen. Die vereinzelten Bilder dienen jedoch lediglich der Illustration.

Rosenbaum stützt sich mithin ganz überwiegend auf Interviews mit in der Mitte der 1920er-Jahre Geborenen. Sie haben die braune Revolutionierung des Alltagslebens als Kinder erfahren. Sie erinnern sich an die Veränderungen des Schullebens, erzählen vom faszinierenden, ernüchternden oder ausnahmsweise auch enttäuschenden bis abstoßenden Alltag außerhalb von Schule und Familie in der Hitlerjugend. Sie berichten über die durch Filme und durch den Äther über „Volksempfänger“ in private Haushalte und öffentliche Einrichtungen gelangende NS-Propaganda und haben den mehr oder minder starken alltäglichen Anpassungsdruck erlebt. Und sie sprechen über Wirkungen der gesellschaftlichen Umgestaltung auf das Familienleben.

Die Ergebnisse der auf das südliche Niedersachsen begrenzten Studie über die Geschichte der Politisierung des Kinderalltags im Nationalsozialismus erheben selbstredend nicht den Anspruch auf Repräsentativität. Deshalb jedoch sind sie nicht schon von untergeordneter oder lediglich regionaler Bedeutung. Vielmehr fängt Rosenbaum durch die „Kombination von vier kleineren ‚Lokalstudien‘“ (S. 25) unterschiedliche charakteristische Milieus ein: den Alltag von Kindern im „gehobenen Bürgertum“ (Göttingen), von Arbeiterkindern (Hann. Münden), ländliches Aufwachsen in einem protestantischen Dorf (Volpriehausen) und in einem katholischen Pendant (Obernfeld). Darunter dass, wie die Verfasserin einschränkend betont, „viele andere existierende Milieus“ (S. 25) nicht untersucht wurden, leidet die Studie nicht. Viel wichtiger sind die Konstanten in den Erzählungen, die trotz mancher, teilweise auch nicht unerheblicher Differenz im erinnerten kindlichen Alltag das Aufwachsen in den 1930er-Jahren plastisch werden lassen. Wer selbst – in welchem Kontext und Umfang auch immer – von erzählten Kindheitserinnerungen aus dieser Zeit erfahren hat, dürfte das in den lebensgeschichtlichen Interviews gezeichnete Bild weithin bestätigt finden.

Insgesamt hat Rosenbaum 48 Gespräche mit zur Hälfte Frauen und Männern in einer „Kombination aus narrativem und offenem Leitfadeninterview“ ausgewertet (S. 27). Die Darstellung des Kinderalltags in den Milieus folgt einem einheitlichen Muster. Zunächst werden der Ort vorgestellt und die Familienverhältnisse beschrieben. Es folgt die Analyse der Ebenen des kindlichen Alltags „Kindheits-Räume, Freundschaften und Spiele“, „Schulalltag“, „Hitler-Jugend“, „Körper und Körper-Erfahrungen“ (unter anderem „das Verhältnis zum eigenen Körper“, „Sexualität“, „das eigene und das andere Geschlecht“, Kleidung und Frisuren), „Erziehungsmaximen und Werthaltungen“, für Göttingen ausführlich das „Aufwachsen mit Medien“ und − in den Milieus leicht modifiziert − die „Wahrnehmung des öffentlichen Lebens“ in der Erinnerung der damaligen Kinder. Die sehr ausführliche Darstellung des Kinderalltags in Göttingen bietet die Folie für den Vergleich mit den drei anderen Milieus und gestattet Reflexionen über Einheit und Differenz des erinnerten Kindseins in den unterschiedlichen lokalen Verhältnissen. Entstanden ist so ein Buch, an dem frau/man nicht vorüberkommt, sofern sie/er sich für den Kinderalltag im Nationalsozialismus interessiert. Wenn überhaupt Kritisches vermerkt werden soll, dann ist es der hier und da mitschwingende, aber methodisch nicht gefasste, wenn auch immerhin bedenkenswerte leichte Zweifel am Gehalt einzelner weniger Zeitzeugengeschichten und die marginale, aber den sehr aufmerksamen Leser denn doch hier und da ein wenig störende Redundanz.

Die lebendig dargestellten, sehr lesenswerten Analyseergebnisse werden selbst die/den nur einigermaßen zeithistorisch kundige(n) Leser/in nicht vollkommen überraschen oder gar zu erschüttern vermögen. Das wäre auch nicht zu erwarten gewesen. Mit diesem umfangreichen Werk liegen jedoch nun quellenkritisch gesicherte Erkenntnisse vor und zudem ein überzeugendes Analyse- und Interpretationsverfahren bereit, das auch für die Untersuchung des Aufwachsens in der anderen deutschen Diktatur für vorbildlich genommen werden kann. Was nützten denn auch einfache, symbolisch dekorierte und transportierte Wahrheiten über die Vergangenheit von vermeintlichem politisch und emotional distanzierendem bildenden Wert, wenn sie z.B. durch noch immer lebendige Erfahrungen der Alten nur allzu leicht konterkariert und als bohrender Widerspruch zwischen öffentlicher Historiografie und privater Zeitzeugengeschichte wahrgenommen werden (könnten)?

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