A. Helmedach u.a. (Hrsg.): Das osmanische Europa

Cover
Titel
Das osmanische Europa. Methoden und Perspektiven der Frühneuzeitforschung zu Südosteuropa


Herausgeber
Helmedach, Andreas; Koller, Markus; Petrovszky, Konrad; Rohdewald, Stefan
Erschienen
Leipzig 2014: Eudora
Anzahl Seiten
506 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mariusz Wiesław Kaczka, Department of History and Civilization, European University Institute

Der vorliegende Band versammelt Ergebnisse des gleichnamigen, von der DFG finanzierten Arbeitskreises, der zwischen 2009 und 2011 unter anderem am Gießener Zentrum Östliches Europa angesiedelt war. Die zwölf vorgelegten Aufsätze sind auf vier Kapitel verteilt. Das Buch verfügt über ein allgemeines Vorwort sowie vier zusätzliche fachspezifische Einleitungen zu den verschiedenen Kapiteln, die ein breites Spektrum an Themen von der Herrschaftspraxis über das Wirtschaftsleben und die Religionskulturen bis hin zu Zeitwahrnehmungen und Geschichtsdeutungen im Osmanischen Reich aufgreifen.

In der von allen Herausgebern gemeinsam verfassten allgemeinen Einleitung (S. 9–23) sucht der Leser vergeblich nach einer Definition des osmanischen Europas. Wenn man anhand des Umschlagbildes urteilen möchte, auf dem mit schöner Kalligraphie in arabischer Schrift das Land des Rums (Anatolien und die Balkanhalbinsel), aber auch Kreta, Zypern, das Krim-Khanat und beide Donaufürstentümer zu sehen sind, wird klar, dass sich die Herausgeber für eine möglichst breite Definition des von den Osmanen beherrschten Südosteuropa entschieden haben. Der hiermit verfestigte Begriff des „osmanischen Europa“ findet in dem Band jedoch abwechselnd mit dem Begriff „Südosteuropa“ Verwendung. Die Beiträge behandeln weite Territorien zwischen der Republik Venedig im Westen und den Steppen des Krimkhanats im Osten und beziehen sogar die Goldene Horde mit ein. Bei der Lektüre stellt sich zudem wiederholt die in der Forschung durchaus bekannte Frage: als was sollten die tributpflichtigen Donaufürstentümer bzw. das Khanat der Krim verstanden werden? In der longue durée betrachtet verfügten alle drei genannten politischen Einheiten über relativ großen Spielraum innerhalb des Osmanischen Reiches. Der moldauische Hospodar Miron Barnowski zum Beispiel manövrierte erfolgreich zwischen Polen-Litauen und dem Osmanischen Reich. 1627 wurde er in Polen-Litauen naturalisiert, um später Anspruch auf die Landgüter des moldauischen Hospodarengeschlechts Movilă in den südlichen polnischen Wojewodschaften zu erheben (1629).1 Dabei pflegte Barnowski gute Kontakte zu den Osmanen und Tataren. Diese transnationale Konnotation verlor in den Donaufürstentümern sowie dem Krim-Khanat im 18. Jahrhundert an Bedeutung, als die zentralen Eliten mit Erfolg alle drei tributpflichtigen Länder stärker an sich zu binden und die mehr oder weniger freien Spielräume zu unterbinden versuchten. Durch die verstärkte militärische Präsenz in der Region gewann zudem auf Kosten Polen-Litauens das Moskauer Reich wiederholt an Bedeutung. Alle genannte Aspekte sind in dem hier anzuzeigen Band kaum aufgegriffen worden. Beide Donaufürstentümer wurden nur am Rande in einzelnen Aufsätzen einbezogen.

Die allgemeine Einleitung bietet trotz dieser Mängel spannende, anregende und differenzierte Einblicke in die nationalen Geschichtsschreibungen der balkanischen Länder, die Osmanistik sowie die transnationale Forschung. Von den erwähnten erhielt besonders die vorletzte wichtige Impulse aus der westeuropäischen Forschung zur Frühen Neuzeit, die zum Beispiel auf die von Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling geprägten Begriffe Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung zurückzuführen sind.2 Mit virtuoser Anspielung auf die Begriffe „Transreligiosität“, „Transnationalität“ bzw. „Transethnizität“ zeichnet Stefan Rohdewald in seinem Beitrag ein faszinierendes Bild der grenzüberschreitenden Verehrung balkanischer Heiliger durch Orthodoxe verschiedener ethnischer Herkunft, Katholiken und sogar Muslime. Dabei wird zudem die Instrumentalisierung des Heiligenkults durch kirchliche Eliten besonders sichtbar.

Diese transnationale Verflechtungsgeschichte spiegelt in der Forschung türkische Versuche wider, einen Anspruch auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union mit historischen Argumenten zu bekräftigen und zu befestigen. Seit gut zwei Jahrzehnten ist eine sichtbare starke Tendenz in der Forschung darauf gerichtet, nicht mehr das gewaltsame Zusammenprallen der beiden Kulturkreise (mittels einer überholten dichotomischen Aufteilung in homogene und undurchdringliche Kulturkreise „des Kreuzes“ und „des Halbmonds“, bzw. der von Samuel P. Huntington vertretener These des Kampfes der Kulturen) in den Vordergrund zu stellen, sondern vielmehr die aus der Begegnung resultierende Transfusion verschiedener gesellschaftlicher oder ideologischer Modelle sowie der transnationalen bzw. transimperialen Vermittler (Dragomanen, Renegaten, Konvertiten und teilweise auch Diplomaten).3 Deutlich wird dabei der lange vernachlässigte osmanische bzw. (in späterer Zeit) türkische Einfluss auf europäisches Erbe und Kultur. Zudem feiert die von den Herausgebern gelobte komparatistische Forschung einen Aufschwung, nicht zuletzt in der vergleichenden Imperienforschung.4 Diese Tendenzen bleiben jedoch grundsätzlich in den Einleitungen zu den verschiedenen Kapiteln des hier anzuzeigenden Buches greifbarer als in den Aufsätzen selbst.

Im Hinblick auf die angeführten Beispiele erweisen sich die systematisierenden, fachspezifischen Einleitungen in die verschiedenen Kapitel des Buches als besonders interessant und inspirierend. Andreas Helmedach und Markus Koller thematisieren in ihrer Einleitung zu den Herrschafts-, Machtausübungs- und Gewaltpraktiken im Osmanischen Reich (S. 27–51) unter anderem Fragen nach der Legitimierung der osmanischen Herrschaft in Europa im Vergleich mit den Imperien der Moguln und Safaviden. In diesem breit aufgestellten Aufsatz hinterfragen sie auch die Anwendung des Konfessionalisierungsprinzips auf die genannte Strukturen kritisch, um zu einem teilweise negativen Effekt für das Osmanische Reich zu kommen. Koller und Ralf C. Müller besprechen in der Einleitung zu Kapitel 2 die florierende Forschung zu den wirtschaftlichen Strukturen und Institutionen im Osmanischen Reich und ziehen einen Vergleich zwischen westeuropäischen Strukturen und den Gegebenheiten Südosteuropas, um dann auf das Beispiel der Entwicklung des Buchdruckes im Osmanischen Reich im 18. Jahrhundert durch den Pionier Ibrahim Müteferrika (ca. 1674–1776) einzugehen (S. 168). Denise Klein und Stefan Rohdewald thematisieren mit Blick auf Strukturen, Praktiken und Diskurse „die Grenzüberschreitungen und wechselseitigen Beeinflussungen und Überlappungen“ (S. 272) der verschiedenen religiösen Kulturen des Osmanischen Reiches (S. 271–307). Es lässt sich dabei eine unklare, fluide und flexible religiöse Identität der Osmanen beobachten (S. 276), die vor allem von den Konvertiten keine scharfe Abgrenzung verlangte. Die Schutzbefohlenen des Sultans (zimmi) erhielten Garantien und kooperierten häufig (wie die Mönche auf dem Heiligen Berg Athos) mit den administrativen Strukturen des Reiches.

Die osmanische Herrschaft in Europa (und darüber hinaus) zeichnete sich durch einen besonderen Pragmatismus aus. In manchen Fällen wurden sogar islamische Vorschriften von den Osmanen ignoriert. Dies machen die Neubauten und Erweiterungen von Kirchen und Synagogen, die dem islamischen Recht (sharia) widersprachen ebenso deutlich, wie die häufige Anwendung der muslimischen Rechtsprechung durch den kadi auf die christlichen und jüdischen Untertanen des Sultans.

In der letzten Einleitung fügen Denise Dierks, Konrad Petrovszky und Nikolas Pissis die Perspektive der Zeitwahrnehmung und Geschichtsdeutung in verschiedenen osmanischen Milieus hinzu. Im Osmanischen Reich existierte eine offizielle, höfische Geschichtsschreibung, die durch den Hofhistoriographen (şehnameci) nach 1700 eine Monopolstellung im staatlichen Milieu hatte. Darüber hinaus lassen sich jedoch vermehrt andere Tradierungen beobachten, um nur das bekannte Beispiel des orthodoxen Priesters und Autors Synanidos zu nennen (S. 426).

Die erwähnten Einleitungen geben eine durchaus prägnante Überblicksdarstellung, fassen die Ergebnisse der neusten Forschung zusammen und deuten neue mögliche Wege an, leiten aber nur begrenzt in die einzelnen Beiträge des Bandes über, von denen zumindest einige diese Anregungen ausschöpften. Konrad Petrovszky zeichnet in seinem Beitrag zur orthodoxen Geschichtsschreibung im Osmanischen Reich eine Geschichte der gegenseitigen Beeinflussung, Verflechtung und sogar Verschmelzung der orthodoxen und osmanischen Geschichtstraditionen nach und bezieht dabei die anregende rumänischsprachige Tradition mit ein. Zudem liefert er eine neue Interpretation des einflussreiches Werkes Dimitrie Cantemirs (1673–1723), bei der es sich um eine Neugliederung seines geschichtlichen Werkes anhand der Originalmanuskripte in drei (anstatt von zwei) Phasen der Entwicklung des Osmanischen Reiches handelt: die des Aufstiegs, der Stagnation und schließlich des Niedergangs. Tobias P. Graf referiert unveröffentlichte Ergebnisse seiner Dissertation über das Renegatentum aus dem deutschsprachigen Raum im Osmanischen Reich während der Frühen Neuzeit am Beispiel Ladislaus Mörths. Dagegen widmet Denise Klein ihren Beitrag der Deutung der kollektiven Konversion der Goldenen Horde unter Özbek Khan (1313–1341) anhand der krimtatarischen Überlieferung, die jedoch nur begrenzt in den Rahmen des osmanischen Europas einbezogen werden kann.

Bei der Lektüre fällt auf, dass der Band über keine einheitliche Herausgeberregeln verfügt. In manchen Texten wurden alle Titel ins Deutsche oder Englische übertragen, in anderen dagegen nicht. Zudem kommen manchmal nicht übersetzte Zitate zum Vorschein, zum Beispiel aus dem Osmanischen (S. 384) oder Ungarischen (S. 116, Anm. 80). Der Band verfügt über keine biographische Auflistung der Beiträger, was die Einordnung in die Forschungslandschaft erschwert. Es fehlen zudem jegliche Register sowie Auflistungen von Karten und Graphiken, was die punktuelle, informationsbezogene Nutzung des Bandes erschwert. Diese kleineren Versäumnisse beeinträchtigen aber die durchaus inspirierende Lektüre des Bandes nicht.

Der Band verbindet letztlich mehr oder weniger erfolgreich zwei Ansprüche: den einer systematischen Überblicksdarstellung, die mit analytischen Fallbeispielen illustriert werden soll. Die erste Aufgabe ist durchaus gelungen und der Band kann die neuesten grundlegenden englischsprachigen Werke zumindest im deutschsprachigen Raum mit Erfolg ersetzen.5 Die zweite erweist sich als weitaus ambivalenter. Wie es bei solch breit angelegten Bänden sehr oft der Fall ist, wurden hier komplett verschiedenartige Beiträge ohne weitere Zusammenhänge aneinandergereiht. Im Endeffekt bietet der Band eine erstaunliche Bandbreite bei den behandelten Problemen, die jedoch nur vereinzelt in der neusten Forschung und in dem Band selbst kontextualisiert wurden.

Anmerkungen:
1 Siehe: Dariusz Milewski, Mołdawia między Polską a Turcją. Miron Barnowski i jego polityka (1626–1629), Oświęcim 2014.
2 Vgl. die Anwendung dieser Begrifflichkeit im osmanischem Kontext bei: Tijana Kristić, Contested Conversions to Islam. Narrative of Religious Change in the Early Modern Ottoman Europe, Stanford (California) 2011.
3 E. Natalie Rothman, Brokering Empire. Trans-Imperial Subjects between Venice and Istanbul, Ithaca 2012. Zudem bereitet die Verfasserin ein neues Buch mit dem Fokus auf den Dragomanen unter dem Titel: The Dragoman Renaissance: Diplomatic Interpreters and the Making of Levant, vor; siehe auch: E. Natalie Rothman, Dragomans and „Turkish Literature“. The Making of a Field of Inquiry, in: Oriente Moderno 93 (2013), S. 390–421, hier S. 397, Anm. 17.
4 Vgl. vor allem: Sanjay Subrahmanyam, A Tale of Three Empires: Mughals, Ottomans and Habsburgs in a Comparative Context, in: Common Knowledge, 1/12 (2006), S. 66–92. Ferner: Peter Fibiger Bang / Dariusz Kołodziejczyk, Universal Empire. A Comparative Approach to Imperial Culture and Representation in Eurasian History, Cambridge 2012, und die gut in der Forschung aufgenommene komparatistische Arbeit von Stephen Frederic Dale, The Muslim Empires of the Ottomans, Safavids and Mughals, Cambridge 2010.
5 Vgl. das einleitende Werk: The Ottoman World, ed. by Christine Woodhead, London 2013.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch