U. Karstein: Konflikt um die symbolische Ordnung

Titel
Konflikt um die symbolische Ordnung. Genese, Struktur und Eigensinn des religiös-weltanschaulichen Feldes in der DDR


Autor(en)
Karstein, Uta
Reihe
Religion in der Gesellschaft 34
Erschienen
Würzburg 2013: Ergon Verlag
Anzahl Seiten
319 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Neef, Universität Leipzig

Das vorliegende Buch ist die dritte Monografie aus dem Forschungsprojekt „Generationenwechsel als religiöser und weltanschaulicher Wandel. Das Beispiel Ostdeutschlands“, das von 2003 bis 2006 am Leipziger Institut für Kulturwissenschaften unternommen wurde.1 Es rekurriert auf die im Projekt erhobenen Daten aus Familieninterviews, in denen – sofern verfügbar – drei Generationen gemeinsam über ihre Familienbiografie sprachen. Neben den Erzählpassagen und ihren konkreten Inhalten fließen auch Dialogpassagen in die Auswertung ein, in denen historische (Re-)Konstruktionen hinterfragt, bestätigt oder auch angegriffen wurden und die das Bild reiner biografischer (Re-)Konstruktion dynamisieren und diversifizieren (umfassend zur Methodik vgl. S. 186–198).

Die Arbeit gliedert sich mit ihren sechs Kapiteln in drei Teile: in eine kritische Auseinandersetzung und fallspezifische Aneignung der Feld-, Raum- und Kapitaltheorien Pierre Bourdieus (Kapitel 2), der Kontextualisierung des Staat-Kirche-Konfliktfeldes in der DDR inklusive darin auffindbarer Positionierungen von evangelischen und katholischen Funktionsträgern bzw. Experten (Kapitel 3 und 4) sowie eine Typisierung möglicher Positionierungen von Laien (Kapitel 5).

Ein maßgebliches Argument für die Adaption Bourdieus war für die Autorin die Möglichkeit, mit dessen Begriffen die Frage nach der relativen Stabilität der DDR jenseits gängiger Parameter von Zwang und Widerstand (und personell korrelierend von Tätern und Opfern) neu zu stellen. „Herrschaft“ wird so zu einem viel subtileren Phänomen, als es der übliche Verweis auf das Gewaltmonopol impliziert, und „symbolische Herrschaft“ wird bedeutungsvoll. Die ideologischen Maßnahmen der DDR-Regierung sind in diesem Verständnis Versuche, Zugriff zu schaffen und zu erhalten: Die sozialistische Ideologie flächendeckend zu implementieren, zielt auf eine „symbolische Revolution“, einen „umfassenden Prozess der Umdeutung der Welt mittels der Durchsetzung neuer semantischer Teilungsprinzipien und Klassifikationsschemata“ (S. 22). Bühnen dieser Durchsetzungsversuche waren die Öffentlichkeit (etwa durch die Organisation und Inszenierung kollektiver Zustimmung), die Medien und das Bildungssystem. Da der Erhebungsfokus des Projekts im Unterschied dazu auf den Familien lag, wird das gängige Bild maßgeblich ergänzt, werden Einblicke gegeben in nicht-öffentliche und in verschieden hohem Maße abgeschlossene Mikrofelder und wird nach der Diffusion der propagierten Schemata gefragt. Gegen eine systematische Erarbeitung dieser Dimension verwehrt sich die Autorin (zu Recht) mit Verweis auf das zur Verfügung stehende Material, doch bieten die Studie wie der erwähnte Projektband auch Überlegungen dazu.

Die „Darstellung der schrittweisen Machtübernahme durch die KPD/SED nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches“ (S. 79) leitet den historischen Teil ein – thematisiert werden hier politische und bürokratische Maßnahmen, die zur Abwertung des religiösen Felds und zur Entstehung eines „religiös-weltanschaulichen Feldes“ führten, in dem unter politischer Ägide die Befindlichkeiten des religiösen Felds mitverhandelt wurden. Dieser Zusammenhang wird als Spezifikum der DDR angeführt, die sich feldtheoretisch nur fassen lasse, wenn man eine direkte Verbindung aller sozialen Felder zum politischen Kapital mitdenke (S. 97).

Zur Legitimation des Staates werden sowohl ideencharismatische Momente (Breuer) als auch Sukzessionstopoi angeführt: Die DDR als Sonderfall bürokratischer Herrschaft mit massiven ideencharismatischen Anteilen – dem Kommunismus als immanente Utopie – rechtfertigte sich zudem als legitime Nachfolgerin der Arbeiterbewegung, was sowohl dem Marxismus-Leninismus nach ihre Existenz als nachbürgerliche Gesellschaftsformation legitimiert, als auch im konkreten politischen Gefüge den Anspruch der SED auf die Herrschaft begründete. Dazu tritt der Topos des antifaschistischen Staats. Alle Legitimationsmomente wurden gleichzeitig von Strategien der Delegitimation anderer Akteure im öffentlichen Raum (etwa Parteien und Kirchen) flankiert, die zusammen genommen zu einer Diskreditierung alternativer Akteure sowie einer herausgehobenen Positionierung der SED (als Mischform aus Partei und bürokratischer Administration) führten. Karstein hebt bei dem Verweis auf die charismatische Kraft der den Staat begründenden Idee auf eine ihrer Folgen ab: Es sollte nicht nur Herrschaft gewährleistet, sondern auch Sinn gestiftet und Lebensführung reglementiert werden. Die Autorin spricht hier von Absolutismus (S. 99).

Kapitel 4 diskutiert die Folgen dieser Maßnahmen im religiösen Feld, gibt also einen historischen Abriss des Verhältnisses von Staat und Kirchen in der DDR mit Fokus auf die beiden Großkirchen, wobei auch kleinere Religionsgemeinschaften – die jüdische Gemeinde, die Zeugen Jehovas und punktuell die Kirche der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) bzw. andere Freikirchen – thematisiert werden, was angesichts der Kürze und Prägnanz (S. 118–141) die Darstellung zu einem geeigneten Überblickstext für die akademische Lehre macht.

Im Folgenden wird das Verhalten der evangelischen und der katholischen Experten (Geistliche, Funktionäre, Theologen, kirchennahe Intellektuelle) basal typisiert anhand zweier Parameter: Wie stellt man sich zum Staat („Obrigkeitsfrage“)? Wieviel öffentliche Verantwortung kann/soll die Kirche übernehmen? (S. 148) Innerhalb von Spektren, die von „staatsfern“ bis „gehorsam“ bzw. von „privat“ bis „Akteur mit Öffentlichkeitsauftrag“ reichen, macht die Autorin im evangelischen Subfeld insgesamt neun Positionen aus (S. 155–172) und im katholischen Subfeld vier (S. 172–178). Bei dieser Positionierung wurden die kleinen Religionsgemeinschaften außen vor gelassen, da das Material diese Differenzierung nicht erlaubte.

Abschließend, in Kapitel 5, erhält das Beschriebene seine Kontrastierung bzw. Erweiterung jenseits der professionalisierten Felder. Bemerkenswert ist hier noch, dass die Situation der Laien im Falle der DDR nicht die des Konsumenten und damit klassischen Nutznießers einer Konkurrenzsituation war, sondern ihn zum Teil beide Akteure – Staat und Kirchen – in eine Entscheidungssituation zwingen wollten: „entweder – oder“, entweder Jugendweihe oder Konfirmation. Aus dem Material der Familieninterviews konstruiert die Autorin – wiederum unter Rückgriff auf Bourdieu – ein „alltagsweltliches Feld“, in dem verschiedene Positionierungen, „vor allem die kognitiven und ethischen Klassifikationsschemata in den Vordergrund treten (S. 246f.). Daraus werden vier Handlungstypen anhand der Parameter Staatsnähe/-ferne und Religiosität/Religionslosigkeit abgeleitet, die sich durch unterschiedliche Strategien und Klassifikationen unterscheiden. Das Feld reicht auch hier von anschließend-identifizierend bis zurückhaltend/privatisierend bzw. säkular bis religiös (siehe auch die Grafik zur Feldposition der Typen S. 265). Heraussticht die strukturelle Ähnlichkeit derer, die das von den öffentlichen Akteuren geforderte „Entweder – Oder“ eindeutig beantworteten: säkulare Staatstreue bzw. staatsferne Religiöse. Beide zeichnet eine gesinnungsethische Weltanschauung aus, die sich in der Lebensführung, etwa in der Kindererziehung (in Fragen der Partizipation an den staatlichen Institutionen oder deren Verweigerung), in Abgrenzungsmechanismen gegen „Korkenzieher“ (sich verschiedenen Kontexten Anpassende) und familialen Lebensläufen zeigt. Demgegenüber stehen verschiedene Typen von Kompromissbereitschaft, die sich dem geforderten „Entweder – Oder“ entzogen und ein „Sowohl – Als Auch“ praktizierten: Jugendweihe und Konfirmation, Mitgliedschaft in einer Blockpartei und Kirchenmitgliedschaft, Teilhabe an sozialistischen Kollektiven und private, religiöse Rückzugsräume. Dabei sind diese Strategien nicht vordergründig bewusst oder auktorial, sondern prozessual, das heißt in die Familiengeschichten eingebettet.

Dass sich auch im religiösen Rahmen durchaus symbolische (säkulare, antiklerikale, szientistische und sozialistische) Ideologeme etablieren konnten und sich über den Systemumbruch halten konnten, stellt die Autorin systemlogisch als „einen durchaus beachtlich zu nennenden Teilerfolg“ dar, der durch den Zugang der Arbeit via Bourdieu und symbolischer Herrschaft eine theoretische Deutung erhält. Gleichzeitig inkorporiert dieser „Teilerfolg“ auch den Misserfolg des Unterfangens „Implementierung einer neuen Ordnung“: Die Stücke konnten den Systemumbruch recht unbeschadet oder neu gerahmt überstehen und zeigen damit das Scheitern, die Symbole dauerhaft an die neue sozialistische Ordnung zu binden. Eine Diskussion darüber, inwieweit diese daher auch jenseits des Kontexts säkularistischer bzw. real sozialistischer Herrschaft applizierbar sind, steht aus.

Anmerkung:
1 Thomas Schmidt-Lux, Wissenschaft als Religion. Szientismus im ostdeutschen Säkularisierungsprozess, Würzburg 2008; Monika Wohlrab-Sahr / Uta Karstein / Thomas Schmidt-Lux, Forcierte Säkularität. Religiöser Wandel und Generationendynamik im Osten Deutschlands, Frankfurt am Main 2009.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension