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Titel
Anerkennung und Erinnerung. Zugänge arabisch-palästinensischer und türkischer Berliner Jugendlicher zum Holocaust


Autor(en)
Gryglewski, Elke
Erschienen
Berlin 2013: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
302 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Astrid Messerschmidt, Pädagogische Hochschule Karlsruhe

Auf der Grundlage eigener langjähriger Berufstätigkeit in der historisch-politischen Bildungsarbeit legt Elke Gryglewski Ergebnisse einer breit angelegten Praxisforschung vor. Mit Berliner Jugendlichen hat sie Studien- und Projekttage zu Themenfeldern des Nationalsozialismus sowie jeweils eine Studienreise nach Israel und in die Türkei durchgeführt. Ausgangspunkt für die Auswahl der Teilnehmenden waren Beobachtungen zum Zusammenhang von migrationsbezogenen Familienhintergründen und dem Zugang zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Die Erinnerungen an den Holocaust sind für die teilnehmenden Jugendlichen durch eine persönlich-familiär oder medial-diskursiv vermittelte Beziehung zum Nahost-Konflikt und durch die aktuelle Situation der Palästinenser beeinflusst. Wenn es um den Holocaust geht, treten diese Themen für sie in den Vordergrund. Es handelt sich um Jugendliche, die in der Studie aufgrund nationaler Herkunftshintergründe in die Gruppen „arabisch-palästinensisch“ und „türkisch“ eingeteilt werden, wobei mit dieser Gruppenzugehörigkeit ein „besonderer“ Zugang zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nahe gelegt wird. Jedoch haben die Teilnehmenden eines gemeinsam, nämlich „Berliner Jugendliche“ zu sein. Diese Gemeinsamkeit ist entscheidend für den anerkennungspädagogischen Ansatz der durchgeführten Bildungsmaßnahmen.

Das erste Kapitel widmet sich dem „Diskurs um Erinnerung in der multikulturellen Gesellschaft“ (S. 18). Das in der Formulierung angelegte mögliche Missverständnis, es ginge um kulturell geprägte Zugänge zur Erinnerung, löst sich schnell auf, wenn die Autorin ihre Erfahrungen aus der Gedenkstättenpädagogik entfaltet und problematisiert, wie es sich auswirkt, wenn Teilnehmende von pädagogischer Seites immer wieder als Personen ausländischer Herkunft betrachtet werden. Der unter Lehrkräften verbreitete Defizitblick auf Schülerinnen und Schüler „insbesondere türkischer, arabischer und/oder palästinensischer Herkunft“ (S. 23) ist in der historisch-politischen Bildungsarbeit vielfach kritisiert worden.1 Die Autorin argumentiert im Sinne der reflexiven Gedenkstättenpädagogik, die sich in den letzten Jahren verstärkt mit Herkunftszuordnungen in der Migrationsgesellschaft und mit der sozialen Heterogenität von Besuchergruppen auseinandergesetzt hat.2 Sie berücksichtigt dabei sowohl den aktuellen Forschungsstand wie auch eigene reflektierte Praxiserfahrungen. Darin liegt eine Besonderheit dieser Studie. Die Anlage der Praxisforschung wie auch die Generierung der Ergebnisse stehen in Beziehung zur Arbeit an einer Gedenkstätte, die über die Vernichtungspolitik informiert, diese dokumentiert, der Opfer gedenkt und Täterschaft erforscht. Die Erfahrungen mit der pädagogischen Gedenkstättenpraxis haben die Autorin dafür sensibilisiert zu berücksichtigen, was die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bei jenen auslöst, die in der deutschen Gesellschaft selbst Diskriminierung erfahren und als „Andere“ betrachtet werden.

Anhand ausgewählter Studien zum Geschichtsbewusstsein und zum Geschichtslernen Jugendlicher nichtdeutscher Herkunft entfaltet Gryglewski den Forschungsstand und bietet dabei einen guten Überblick über die relevanten Arbeiten aus Sozial- und Erziehungswissenschaft der letzten zwanzig Jahre. Die Autorin arbeitet die Diskrepanzen zwischen den Wahrnehmungen der Lehrkräfte und den „realen Befindlichkeiten ihrer Schülerschaft“ (S. 39) heraus, geht auf die Bedeutung von Ausgrenzungserfahrungen ein und macht deutlich, wie gerade aufgrund dieser Ausgrenzung auf Familiennarrative zurück gegriffen wird, „um überhaupt eine Zugehörigkeit erleben zu können“ (S. 41). Anhand mehrerer Studien wird deutlich, wie diese ignorierte Ausgrenzung genau die Geschichtsbilder erzeugt, die dann von Lehrkräften als problematisch und dem historischen Gegenstand unangemessen bewertet werden. Ein eigener Abschnitt ist den Studien zur Erhebung antisemitischer Einstellungen gewidmet.

Im Folgenden stellt die Autorin ihre Datenerhebung und -auswertung gut nachvollziehbar dar und geht auf die durchgeführten Langzeitprojekte und Kurzzeitmaßnahmen ein. Wesentlich für die Projekt- und Studientage war das an die Jugendlichen gerichtete Angebot, den eigenen Herkunftsgeschichten nachzugehen. Gryglewski macht deutlich, wie die Beteiligten dadurch Anerkennung erfuhren und entfaltet diesen Begriff im Folgenden auch konzeptionell. Zunächst wird er in Zusammenhängen interkultureller Pädagogik und der Pädagogik der Vielfalt betrachtet. Dabei bezieht sich Gryglewski auch auf die kritische Diskussion des Anerkennungskonzepts. Denn wenn Verschiedenheit in den Vordergrund gerückt wird, können wiederum nationale Herkunftszuordnungen reproduziert werden. Jugendliche der zweiten und dritten Generation aus Migrationsfamilien erleben sich häufig als „Andere“, wenn sie nicht als Teil der deutschen Gesellschaft anerkannt werden. Deshalb ist das Anerkennungskonzept in der Studie in doppelter Hinsicht zu verstehen: sowohl als Anerkennung der Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft wie auch als Anerkennung der spezifischen Erfahrungen als Nachkommen von Migranten. Die hier durchgeführte Forschung erfolgt auf dem Hintergrund einer Reflexion von Ungleichheitsverhältnissen in der Migrationsgesellschaft. Ohne die Berücksichtigung ungleicher Ausgangsbedingungen kann das Konzept der Anerkennung naiv werden und ignorant gegenüber den realen Erfahrungen der Zielgruppen. Deshalb wäre das Konzept der Anerkennung durch eine rassismus- und diskriminierungskritische Perspektive, wie Mecheril/Melter sie skizzieren3, zu ergänzen, die in den theoretischen Orientierungen der vorliegenden Arbeit jedoch zu kurz kommt.

Im Anschluss entwickelt Gryglewski eine Typenbildung der Jugendlichen im Verhältnis zu Nationalsozialismus und Shoah. Anders als in vorangegangenen Studien geht es ihr dabei nicht um die Unterschiede im Geschichtsbewusstsein, sondern um die Frage, wie soziale Lagen und Diskriminierungserfahrungen den Zugang zum Thema bestimmen. In diese Typenbildung fließen schriftliche Aussagen der Jugendlichen, Transkripte, Gedächtnisprotokolle und die Beurteilung von Situationen ein. Aus Respekt vor den Jugendlichen bleibt die Autorin bei ihrer Typenbildung eher vorsichtig und beschreibt lediglich Tendenzen; diese reichen von „eher offen“, „eher interessiert“, „desinteressiert“, „lernend“, „provozierend“ bis „dogmatisch“. Insgesamt ergeben sich sechs Gruppen, die vom „offen-empathischen“ (S. 145ff.) bis zum „dogmatisch denkenden“ Typ (S. 217) reichen. Jedoch bleibt jede Typenbildung problematisch und spannungsreich gegenüber dem Anspruch der Anerkennung biografisch und sozial bedingter Geschichtswahrnehmungen. Schließlich wird versucht, einem wissenschaftlich unhinterfragten Bedürfnis nach Einordnung zu entsprechen, das die Subjektivität der Beteiligten immer auch verfehlt.

Der Begriff des Typen evoziert die objektivierende Zuordnung der Beteiligten. Für die Anlage der Studie wäre es aus meiner Sicht stimmiger, hier von Zugangsformen zu sprechen. Zugänge machen auf Prozesse aufmerksam, während die Typisierung etwas Statisches hat. Gewinnbringend sind die dokumentierten Aussagen der Jugendlichen, die auf viele Alltagsphänomene im Sprechen über den Holocaust hinweisen und damit verdeutlichen, welche Sprechkonventionen in Bildungsinstitutionen bestehen. So erzeugt es etwa problematische Geschichtswahrnehmungen, wenn in der Schule vom „Judendenkmal“ statt vom Deportationsmahnmal in der Berliner Levetzowstraße die Rede ist. Die Studie hebt den Einfluss dieser Alltagskommunikation hervor, die die Bedeutung der Herkunftshintergründe relativiert. Daran anschließend skizziert die Autorin Einsichten zum Zusammenhang von sozialer Situation und Geschichtsbeziehungen und reflektiert ihre Erfahrungen in der Interaktion mit den Jugendlichen. In diesem Teil der Studie nimmt die Autorin sehr offen selbstkritische Reflexionen vor und geht zudem auf den Umgang mit antisemitischen Äußerungen ein.

Abschließend gibt die Autorin Empfehlungen für die Vermittlung der NS-Geschichte und insbesondere der Shoah. Dabei geht sie noch einmal auf die Besonderheiten ihrer beiden Zielgruppen ein und betont den Mangel an wertschätzenden Erfahrungen und daraus folgendem mangelnden Selbstvertrauen. Die Verantwortung dafür wird in der Öffentlichkeit häufig den Jugendlichen selbst angelastet, „was zu einer weiteren Verletzung und Perpetuierung des Minderwertigkeitsgefühls führen kann“ (S. 242). Es sind diese Hinweise, die die Lektüre für die Praxis ausgesprochen wertvoll machen.

Die Arbeit von Elke Gryglewski trägt zur Weiterentwicklung des erziehungswissenschaftlichen Diskurses um die Holocaust-Erinnerung in der Migrationsgesellschaft bei und enthält darüber hinaus Orientierungen für die Bildungspraxis. Dabei sollte sich die Aufmerksamkeit noch stärker auf das pädagogische Personal richten, dessen unreflektierte dominanzgesellschaftliche Positionierungen zur Verfestigung problematischer Geschichtsbilder beitragen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Viola Georgi / Rainer Ohliger (Hrsg.), Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Bonn 2009.
2 Vgl. Barbara Thimm / Gottfried Kößler / Susanne Ulrich (Hrsg.), Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik, Frankfurt am Main 2010.
3 Vgl. Paul Mecheril / Claus Melter, Rassismuskritik als pädagogische Querschnittsaufgabe, in: Paul Mecheril u.a., Migrationspädagogik, Weinheim 2010, S. 168–178.

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