K. Hermann (Hrsg.): Führerschule, Thingplatz, „Judenhaus“

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Titel
Führerschule, Thingplatz, „Judenhaus“. Orte und Gebäude der nationalsozialistischen Diktatur in Sachsen


Herausgeber
Hermann, Konstantin
Erschienen
Dresden 2014: Sandstein Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bert Pampel, Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft, Dresden

Was verbindet das Erzgebirge, das Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau und den kleinen Bahnhof Jacobsthal bei Riesa miteinander? Sie liegen in Sachsen und haben eine Vergangenheit in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, die im vorliegenden Band erzählt wird. Sein Herausgeber Konstantin Hermann, Referent im Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst und Vorsitzender des Vereins für Sächsische Landesgeschichte, ist bislang vor allem mit Veröffentlichungen zur DDR-Geschichte Sachsens bekannt geworden. Mit seinem neuen Buch will er Anstöße und Anregungen für die Auseinandersetzung mit bisher weniger bekannten „NS-Orten“ in Sachsen geben. Deren Wert sieht er nicht zuletzt darin, dass sie „daran erinnern, dass der Nationalsozialismus in weiten Bereichen eine Konsensdiktatur gewesen ist, deren Macht in sämtlichen gesellschaftlichen Feldern spürbar war (und sein sollte)“ (S. 8). In den 66 Beiträgen von insgesamt 46 Autoren – ganz überwiegend ausgebildete Historiker, aber auch ehrenamtlich tätige Ortschronisten, Architekten, Lehrer und Journalisten – soll die Bedeutung der Orte für das NS-System wie auch für die heutige Erinnerungskultur deutlich werden.

Das Konzept ist denkbar einfach und unterscheidet sich von früheren und aktuellen Sammelbänden zur Geschichte Sachsens im Nationalsozialismus1: Orte oder Bauwerke werden zum Anlass genommen, besondere Ereignisse der NS-Zeit zu vergegenwärtigen, mit ihnen verbundene Institutionen, Organisationen und Unternehmen zu beschreiben oder an einzelne Akteure im Nationalsozialismus zu erinnern.2 Zu den Orten im engeren topografischen Sinne zählen Regionen und Städte (allen voran Dresden und Chemnitz), zu den Bauwerken und baulichen Anlagen beispielsweise Bäder, Autobahnen oder militärische Anlagen. Beleuchtet werden politische Institutionen wie Landtag und Staatskanzlei, Bildungseinrichtungen, Kirchen, das „Heimatwerk Sachsen“, Kaderschulen sowie Unternehmen und Wirtschaftszweige. Zu den thematisierten Ereignissen zählen Bücherverbrennungen 1933 in Dresden, Hitlers Besuch in der „Gauhauptstadt“ 1934 und Ausstellungen wie die „Deutsche Kolonialausstellung“ 1939 ebendort. Der Olympiasieger im Modernen Fünfkampf, Karl Gotthard Handrick, der später Jagdflieger in der Legion Condor war, und der jüdische Musikdirektor am Schauspielhaus Dresden, Arthur Chitz, sind zwei der Personen, deren Schicksal in Verbindung mit ihren Wohn- oder Arbeitsorten im Buch beleuchtet wird.

Die Artikel werden im Anschluss an zwei einführende Beiträge nach chronologischen Aspekten („,Kampfzeit‘“, „Krieg und ‚Zusammenbruch‘“), nach gesellschaftlichen Feldern (zum Beispiel „Architektur und Städtebau“, „Kunst und Massenkultur“, „Wirtschaft und Verkehr“) sowie nach für die Diktatur charakteristischen Aspekten (zum Beispiel „‚Machtergreifung‘ und ‚Gleichschaltung‘“, „Inszenierung, Massenbegeisterung und Medien“, „Jüdisches Leben und Vernichtung“) geordnet präsentiert.

Nahezu alle Aspekte der NS-Herrschaft oder gesellschaftlichen Bereiche werden – wenngleich in unterschiedlichem Maße – beleuchtet. Stätten der Repression und des Leidens dominieren den Band nicht, sodass andere für das Verständnis der NS-Diktatur wichtige Dimensionen nicht zu kurz kommen. Die Zuordnung der einzelnen Beiträge zu den einzelnen Unterkapiteln wirkt mitunter allerdings beliebig, manchmal auch unverständlich. Nicht nur bei Bauten, die lange vor der Machtergreifung errichtet worden sind, ist der Untertitel des Bandes „Orte und Gebäude der nationalsozialistischen Diktatur“ unzutreffend, sondern mehr noch bei den Orten des Widerstands, der Opfer (jüdische Gemeindehäuser, „arisierte“ Kaufhäuser und „Judenhäuser“) und der Kirchen.

Einige Beiträge schöpfen aus bislang unerschlossenen Quellen, oft wird aber auch bereits Bekanntes und Publiziertes präsentiert. Neuigkeitswert besitzen, zumindest für den Rezensenten, die zentrale Bedeutung des Leipziger Raums für die Luftrüstungsindustrie im Nationalsozialismus, die Rolle, die das „Sächsische Logenmuseum“ Chemnitz bei der Bekämpfung der Freimaurer spielte, oder die Bedeutung von FOKORAD Niesky als zentraler Planungsbehörde und „Ursprungsort“ sämtlicher Baracken für Reichsarbeitsdienst-, Kriegsgefangenen-, Zwangsarbeiter- oder Konzentrationslager des „Dritten Reiches“. Aufschlussreich sind Beiträge, die bislang unterbelichtete Aspekte der Geschichte von bereits bekannten Orten erhellen. So war das Kaßberg-Gefängnis in Chemnitz nicht nur zentrale Drehscheibe des deutsch-deutschen Häftlingsfreikaufs zwischen 1966/67 und 1989, sondern zentraler Ort nationalsozialistischer Verfolgung in Stadt und Region. Während sich die öffentliche Wahrnehmung und erinnerungspolitische Aktivitäten derzeit auf die Funktion des Gefängnisses als „Tor zur Freiheit“ für DDR-Häftlinge fokussieren, begann für viele Insassen während der NS-Diktatur und in der unmittelbaren Nachkriegszeit (nun als Operativgefängnis der sowjetischen Geheimpolizei) eine Leidenszeit, die sie später in Konzentrations- bzw. Speziallager brachte. Pirna-Sonnenstein ist inzwischen vielen als Ort einer NS-„Euthanasie“-Tötungsanstalt 1940/41 ein Begriff, besitzt aber auch eine Geschichte als Reichsverwaltungsschule und somit historisches Aufklärungs- und Bildungspotenzial nicht nur für Beamte.

Der Wert des Bandes liegt aber insgesamt weniger im Neuigkeitswert einzelner Details und sicher nicht in bahnbrechend neuen Erkenntnissen zur Geschichte Sachsens in der NS-Zeit, sondern darin, dass bestimmte Aspekte der NS-Herrschaft beispielhaft veranschaulicht und verständlich gemacht werden. So verweist die NS-Geschichte der heutigen Hutbergbühne Kamenz auf die Bewegung zur Schaffung sogenannter Thingplätze als nationalen Naturtheatern zur Vermittlung von völkischer Ideologie und Propaganda. Die Beschreibungen von baulichen Ensembles wie der ehemaligen Platzanlage „Am Sonnenrad“ in Freiberg verdeutlichen die Indienstnahme von Architektur und Stadtplanung für die NS-Diktatur. In den Beiträgen über Wirtschaft und Verkehr zeigt sich mehrfach die immense Bedeutung des Zwangseinsatzes von KZ-Häftlingen, Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern in der Endphase der NS-Diktatur. Auf andere, bislang unterbelichtet gebliebene Bereiche, wie etwa das nationalsozialistische Schulungswesen für Funktionäre und die NS-Jugend, macht der Band aufmerksam. Außerdem werden die Besonderheiten Sachsens im Vorfeld der „Machtergreifung“ und während der NS-Zeit deutlich. Dass Adolf Hitler schon im April 1932 zum Ehrenbürger von Markneukirchen ernannt wurde, ist nur ein Beleg für die Bedeutung Südwestsachsens als frühe Hochburg der nationalsozialistischen Bewegung. Die zeitweise besondere Rolle Sachsens im „Volkstumskampf“ mit den slawischen Nachbarn im Osten, aber auch die Instrumentalisierung, die Indienstnahme und der Missbrauch noch heute gern betonter sächsischer Traditionen – Erfindergeist und Ingenieurskunst, Fleiß, Heimatverbundenheit, Sachsenstolz und Brauchtumspflege – kann der Band anschaulich machen. Schließlich scheinen auch Desiderata auf, wie die noch unerforschte Rolle von Stadtjubiläen und historischem Festen.

In den Beiträgen geht es überwiegend weniger um den Umgang mit den historischen Ereignissen und Orten in der Gegenwart, etwa um Auseinandersetzungen über deren Markierung und Gestaltung im Spannungsfeld zwischen historischer Bedeutung und gegenwärtiger Nutzung, sondern um das vergangene Geschehen. Ihre Bedeutung für Geschichtspolitik und Erinnerungskultur sowie die damit verbundene Frage „Abreißen, erhalten, markieren oder museal erschließen?“ werden abgesehen von einem einführenden Beitrag und vom Nachwort bedauerlicherweise kaum thematisiert. Insgesamt vermisst man eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Frage nach der Bedeutung historischer Orte für das Geschichtsbewusstsein im Anschluss etwa an Diskussionen um bereits vorhandene Konzepte wie dem der „Erinnerungsorte“ („Lieux de mémoire“), des „kollektiven Gedächtnisses“ oder der Geschichtskultur. Über die Gründe, warum gerade die ausgewählten Orte und Gebäude besonders geeignet scheinen, sich mit dem NS-System zu beschäftigen, welchen Zielen diese Annäherung dienen könnte oder sollte, und was sich über ihre individuelle wie öffentliche Rezeption sagen lässt, liest man zu wenig. Gegenüber dem im Vorwort formulierten Anspruch „repräsentativer Auswahl“ und einer Identifizierung „markanter Zeugnisse der Vergangenheit“ (S. 9) mit dem Schwerpunkt auf Orte, die bislang eher im Schatten bekannter Häuser und Stätten stehen, erweckt die Auswahl der Orte und Gebäude, die nirgendwo genauer begründet wird, den Anschein einer gewissen Beliebigkeit.

Insgesamt hinterlässt die Lektüre jedoch einen positiven Eindruck. Das abwechslungsreiche Potpourri informativer „Streiflichter“ ist eine Fundgrube und bietet anschauliche Einblicke in zahlreiche Aspekte des Nationalsozialismus in Sachsen. Die kursorischen „Spotlights“ sind ganz überwiegend gut lesbar und laden – auch wegen der zahlreichen Quellen- und Literaturhinweise – zur weitergehenden Forschung bzw. vertiefenden Lektüre, aber auch zur Besichtigung der beschriebenen Orte und Gebäude ein.3 Der Sammelband ist insbesondere allen an der sächsischen Landesgeschichte und der besonderen Rolle Sachsens in der NS-Zeit Interessierten zu empfehlen, nicht zuletzt Lehrern und allen in der historisch-politischen Bildungsarbeit Tätigen.

Anmerkungen:
1 Clemens Vollnhals (Hrsg.), Sachsen in der NS-Zeit, Leipzig 2002; Günther Heydemann / Jan Erik Schulte / Francesca Weill (Hrsg.), Sachsen und der Nationalsozialismus, Göttingen 2014.
2 Siehe hierzu den in ähnlicher Aufmachung und im selben Verlag erschienenen Sammelband von Christine Pieper / Mike Schmeitzner / Gerhard Naser (Hrsg.), Braune Karrieren. Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus, Dresden 2012.
3 Ergänzend sei hierfür der nahezu zeitgleich erschienene „Historische Reiseführer“ von Mike Schmeitzner und Francesca Weil, Sachsen 1933–1945, Berlin 2014, empfohlen.

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