S. Kinnebrock u.a. (Hrsg.): Theorien des Medienwandels

Cover
Titel
Theorien des Medienwandels.


Herausgeber
Kinnebrock, Susanne; Schwarzenegger, Christian; Birkner, Thomas
Reihe
Öffentlichkeit und Geschichte 7
Erschienen
Anzahl Seiten
325 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clemens Zimmermann, Kultur- und Mediengeschichte, Universität des Saarlandes

Der Band geht auf eine Jahrestagung der Fachgruppe Kommunikationsgeschichte der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaften (DGPuK) von 2013 zurück. Hier begegneten sich die Vertreterinnen und Vertreter einer theoretisch und historisch orientierten Kommunikationswissenschaft sowie der Kommunikations- und Mediengeschichte. Das Werk ist auf einer theoretischen, stark soziologisch geprägten Ebene angesiedelt, teils auf einer Metaebene der vertretenen Konzepte. Methodenfragen spielen keine Rolle und Bezüge auf aktuelle Fragestellungen der Medien- und Kommunikationswissenschaft sind selten, dienen indes der Exemplifizierung der vorgestellten Ansätze.

In ihrer Einleitung verdeutlichen Susanne Kinnebrock, Christian Schwarzenegger und Thomas Birkner ihr Interesse an einem künftigen zentralen Forschungsfeld des Medienwandels. Auch dem Fachfremden wird ohne Weiteres deutlich, dass man sich damit fundamental von bisherigen Paradigmen abwendet, die auf große Einzelerfindungen wie den Buchdruck als Auslöser, ja als Ursache aller weiterer Veränderungen abhoben, oder auf den Telegrafen als sensationelle Erfindung, das heißt man verabschiedet sich von den großen Medienrevolutionen. Überhaupt ist zu fragen, was das ‚Neue’, das in der Kommunikationswissenschaft und -geschichte ständig beschworen wird, denn ausmacht. Was ist also wirklich ‚neu’ an großen technologischen Erfindungen wie dem Internet, wie setzen sie sich durch, wie ‚evolutionär’ muss man sich die historischen Transformationen von Medienensembles vorstellen, und wie kann man die umlaufenden „Innovations-, Evolutions- und Komplexitätstheorien“ nicht nur auf theoretischer Ebene zusammenführen, sondern auch mit „geschichtlicher Evidenz“ verbinden (S. 20), denn daran mangelt es am meisten.

Dass sich schon bei der Aufgabe einer Annäherung theoretischer Konstrukte ein großer Diskussionsbedarf ergibt, ist evident, gilt es doch, akteurs- und systemtheoretische Ansätze zu verknüpfen (S. 21). Die von Jürgen Wilke im zweiten grundlegenden Beitrag identifizierten elf Theoriefamilien (unterschiedlichen Erklärungsanspruchs und epistemischer Konstruktion) sollten auf ihr gemeinsames Potenzial hinsichtlich des Metakonzeptes „Wandel“ hin geprüft werden. Jedenfalls wäre der Zustand zu überwinden, dass sich jede/r Forscher/in seine/ihre eigene, an Einzelmedien festgemachte Theorie von Entwicklungssprüngen oder Transformationen ad hoc zusammenbastelt. Statt dessen sollen Standards künftiger Forschung entworfen werden und diese liefen, so die Einleitung, auf eine systematische Historisierung, die Herausarbeitung des Gemeinsamen in der theoretischen und methodischen Vielfalt sowie die Überwindung „separierter Theorieimporte“ hinaus.

Zunächst sind sich die Beiträger/innen offensichtlich darin einig, dass Medienwandel ein komplexes Konzept ist, sodass monokausale Wirkungsannahmen auszuschließen sind. Es wird zwar von der Existenz systemischer Wirkungen ausgegangen, die über die jeweiligen intentionalen Akte hinausgehen; solche ergeben sich aber nicht als Kettenreaktionen einmaliger Ursachen, sondern emergierend. Anstelle strikter Kausalitäten präferiert man das Modell eines Zusammenspiels mehrerer, sich gegenseitig verstärkender Ursachen. Im Band werden zwar unterschiedliche Medienbegriffe zugrunde gelegt, stark gemacht wird allerdings der klassische Begriff von Verbreitungsmedien, und selbst wo unterschiedliche Begriffe bei den einzelnen Aufsätzen erkennbar werden, sollte man dies nicht als Mangel begreifen.

Rudolf Stöber, auf dessen Beitrag sich mehrere Autoren beziehen, macht historischen und medialen Wandel an den Begriffen der Innovation, der Institutionalisierung solcher Innovationen und ihres Erfolgs, das heißt an Kosten-Nutzen-Kalkülen (S. 60) fest. Das scheint dem Betrachter indes doch zu reduktiv zu sein: ging es bei Luthers Flugschriften um die Einsparung von „Zeit, Geld, Aufwand und nicht zuletzt Energie“ (S. 70)? Die klassische Unterscheidung von eigentlicher Erfindung, ihrer allmählichen Anpassung an die Nutzer und ihrer immer stärkeren Ausbreitung erscheint bei Stöbers Beitrag als gesetzt; dass wiederum dieses Modell mit dem biologischen Begriff der Evolution verknüpft wird, ist nicht unproblematisch.

Denn bei Evolution als weiteres Schlüsselkonzept gerät man leicht in die Abgründe biologistischer Evolutionstheorien, die sich bekanntlich auf Zeiträume ungeheurer Länge beziehen. Mehrere Autoren stellen zu Recht die Frage, ob zum Feld des Medienwandels, in dem offenkundig Ökonomie und Kultur die wohl größte Rolle spielen, ein quasi-evolutionistisches Modell passt. Auf die Kompromissformel, Medieninnovationen als „ko-evolutionäre, adaptive Zyklen der Erneuerung“ zu verstehen (Michael Latzer, S. 97), dürften sich freilich wohl die meisten der Tagungsteilnehmer geeinigt haben. Latzer bemerkt noch dazu (S. 97–99), dass es keine disziplinenübergreifende Evolutionstheorie gebe.

Dass sich mediale Innovationen auf der steten Suche nach Effizienz ergeben, wird von Stöber zwar gut ausgeführt, scheint aber ebenfalls zu reduktionistisch. Wie Andreas Ziemann, der unter Rückgriff auf Joseph Schumpeter und Max Weber auf die Rolle von Unternehmerpersönlichkeiten bei den Medienentwicklungen sowie auf die der „Mikroebene des Gebrauchs und der Aneignung“ (S. 85) verweist, überzeugend erklärt, führe erst die Aneignung durch Nutzer/innen und diskursive Verständigung dazu, dass sich neue Medientechnologien durchsetzen. Damit ist man beim Faktor der aktiven Rolle von Publiken und der sozialgeschichtlichen Dimension von Medienwandel, auf die man sich nun wieder etwas stärker zu besinnen scheint. Jedenfalls verweist Stefanie Averbeck-Lietz auf diese. Teils wird auch dem Staat eine aktive Rolle beim Medienwandel zugeschrieben, und dass sich Medienerfindungen im Zuge von nicht planbaren Selektionsprozessen durchsetzen, dürfte durchaus anschlussfähig sein, selbst wenn man kein Luhmann-Schüler ist (Latzer, S. 107–111).

Die in verschiedenen Beiträgen aufgegriffene Frage, wann man überhaupt von etwas Neuem sprechen könne und wie sich neue und alte Medien zueinander verhielten („old media change in contact with new media“, Gabriele Balbi, S. 240), erscheint als produktiv für künftige Forschungsansätze. Andreas Fickers hebt darauf ab, dass das angeblich völlig Neue, so bei der Einführung des Fernsehens, stets von einer Rhetorik begleitet gewesen sei, die letztlich auf der Rezeption von Marketingstrategien beruhe und auf dem Kult um große Erfinder; eine historisch argumentierende Kommunikationswissenschaft solle nicht ständig die „Logik des Neuen“ überbetonen (S. 281). Das Postulat, dass Wandel erst dann vorliege, wenn sich der Alltag von Menschen im Gesamtkontext der Medien ändert, und dass dieser Wandel eben nicht linear verläuft (Friedrich Krotz, S. 122, 131), kann für die Mediengeschichte ebenfalls hilfreich sein.

Krotz hebt ferner auf den Begriff der Mediatisierung ab, um das Gesamte des Feldes zu benennen, das eben über einen reinen medientechnologischen Ansatz weit hinaus geht (S. 129). Der Doppelbegriff von Medialisierung und Mediatisierung erhält im ganzen Band einen zentralen Stellenwert, um langfristige Wandlungen sowohl der Medien selbst als der dadurch ausgelösten gesellschaftlichen Veränderungen bzw. „Metaprozesse“ (Krotz, S. 130) zu benennen. Stefanie Averbeck-Lietz versteht unter Mediatisierung und Medialisierung komplementäre Begriffe (S. 263). Das wird wohl nicht jeder so sehen, aber zumindest scheint konsensfähig zu sein, dass solche Prozesse (im Englischen durchweg mediatization) nicht nur die Veränderungen von gesellschaftlicher und politischer Kommunikation oder die Medialisierung von Politik am Beispiel von Donald Trump umfassen, sondern dass auch die Tiefe der Durchdringung einer Gesellschaft mit Medien insgesamt gemeint ist. Beim gegenwärtigen Stand der Begriffsdiskussion bedeuten beide Begriffe jedenfalls nicht dasselbe (S. 21).

Ein Manko ist sicherlich, dass im Fach der Mediengeschichte genau das als Medialisierung bezeichnet wird, was die Kommunikationswissenschaft mit Mediatisierung benennt; freilich auch nicht durchgängig, denn Michael Meyen, Steffi Strenger und Markus Thieroff denken bei Medialisierung als Kommunikationswissenschaftler an „langfristige Medienwirkungen zweiter Ordnung“ (S. 143). Diese Autoren bewegen sich explizit im Zeitalter der Handlungslogiken von Massenmedien, was die Übertragbarkeit ihres Konzepts auf frühere Medienepochen einschränkt. Ungeachtet der Unklarheiten: Medialisierung und Mediatisierung sind starke Konzeptbegriffe zur Untersuchung von Langzeitprozessen. Andreas Hepp etwa sieht bei der Mediatisierung eine allgemeine „Theorie der Beziehung von Medien- und Kommunikationswandel“ (S. 165) angelegt und grenzt sich von einem evolutionstheoretischen Ansatz zugunsten sozialkonstruktivistisch gefasster Aneignung (allerdings nicht mehr bloß von Einzelmedien sondern ganzer Mediensysteme) deutlich ab.

Die Argumentation von Siegfried J, Schmidt, dass sich bei der „Durchsetzung jedes neuen Mediums strukturrelevante Faktoren […] wiederholt“ hätten (S. 299), wird Historiker/innen wohl weniger behagen. Jedenfalls lohnt es, sich nicht nur auf die Suche nach eventuell aufschlussreichen strukturellen Wiederholungen zu begeben, sondern auch auf die nach „disruptures“, nach der Enttäuschung überspannter Erwartungen, die häufig den Beginn von als neu wahrgenommenen Medien begleitet haben. Ein Beispiel ist die Einführung des Internets, von dem viele einmal erhofften, dass es der Demokratisierung der Welt dienen könne (Nelson Ribeiro).

Dass der Begriff der Interdependenz von Faktoren (Hepp, S. 181) den Minimalkonsens darstellen kann, liegt nahe, und dass man von den Klassikern der Kommunikationsforschung und ihren Diskursen Wichtiges lernen kann, ist ebenso evident (vgl. Stefanie Averbeck-Lietz, S. 264–267). Offen bleibt, wie stark man generell mit Modellen, die aus der gegenwärtigen Beobachtung hoch medialisierter Gesellschaft gewonnen wurden, historisch operieren kann. Jedenfalls zeigt Erik Koenen, wie sinnvoll ein rezeptionshistorischer Ansatz ist, der auf die Quellen historischer Zeitungs- und Kommunikationsforschung setzt, und damit auf zeitgenössische Erkenntniskategorien verweist.

Die Lektüre des Bandes mit seinen insgesamt 14 Beiträgen ist bisweilen etwas anstrengend, aber sehr lohnend, befindet man sich doch auf dem Weg zu konziseren Erkenntniskategorien. Zudem werden hier empirische und theoretische Forschungsansätze der Kommunikations- und Geschichtswissenschaften angenähert. Das ist keine geringe Leistung.

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