C. H. Stifter: Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration

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Titel
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration. US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Neuorientierung österreichischer Wissenschaft 1941–1955


Autor(en)
Stifter, Christian H.
Erschienen
Anzahl Seiten
755 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Heuer, Deutsches Institut für Erwachsenenbildung, Bonn

Diese Studie ist wissenschaftlich ambitioniert und politisch engagiert ausgerichtet. Beide Prädikate löst sie hervorragend ein. Ambitioniert ist sie, was den historischen Rahmen, den interdisziplinären Zuschnitt und den Deutungshorizont anbelangt. Dem Autor gelingt es, sowohl langfristige wechselseitige kulturelle Deutungsmuster in den USA als auch in Österreich herauszuarbeiten, eben auch als weiterwirkende Vor- und Nachgeschichte des beschriebenen Zeitraums, als auch die Re-Education- beziehungsweise, wie es nach der Lektüre angemessener heißen muss, Re-Orientation-Konzepte der US-Regierung während des II. Weltkrieges in ihrer Prozesshaftigkeit quellengesättigt und analytisch anspruchsvoll zu präsentieren. Erst danach wird die Entnazifizierung an ausgewählten österreichischen Universitäten auf empirischer Basis vorgestellt und bewertet. Deutlich wird dabei auch, dass es nur dieser breite gesellschaftshistorische und multipolare Rahmen und Zusammenhang ist, der die historischen Entwicklungen erklären kann. Damit wird die Arbeit den Ansprüchen einer Cold-War-Study in einem modernen Sinne gerecht.

Der Begriff der Re-Orientation – mit dem Bedeutungsfeld der Re-Culturalization – wird anhand des Materials überzeugend eingeführt und in seiner Spezifik vom alten, und geläufigen Begriff der Re-Education abgegrenzt. Re-Orientation beinhaltet dabei den Entwurf einer humanistischen Friedenssicherung durch geistige Abrüstung und als zivilisatorisches Experiment mit globaler Dimension. Zum Ziel hatte das Konzept die selbsterzieherische Einübung eines demokratischen Habitus. Grundlagen dafür sollten auf Humanisierung gerichtete bildungspolitische Maßnahmen und das marktwirtschaftlich organisierte Alltagsleben in Österreich sein.

Der Arbeit gelingt es, das US-Reorientierungs-Konzept und dessen Implementierung im Bereich des akademisch-universitären Wiederaufbaus in Österreich historisch zu rekonstruieren und dabei den Konnex der Diskurse und Interpretationen zu den politischen und militärischen Planungs- und Entscheidungsprozessen in Beziehung zu setzen. Die multipolare Herangehensweise umfasst dabei auch, dass neben der außen- und militärpolitischen Dimension auch die innenpolitische Herausforderung der Mobilisierung der US-Bürger für den Krieg gegen das NS-Regime dargestellt und abgewogen wird. Eingeführt wird dafür der eben auch stark innenpolitisch ausgerichtete Begriff der „education for victory“. Für die Nachkriegskonzeptionen der USA war es zentral, unter Beweis zu stellen, dass sich in diesem Krieg letztlich das überlegenere System einer auf humanistischen Prinzip beruhenden Bildung und Wissenschaft durchgesetzt hatte und es nicht nur galt den Krieg, sondern auch den Frieden nachhaltig zu gewinnen.

Die Darstellung Stifters selbst ist als eine große Erzählung angelegt und deshalb gut zu lesen. Das umfangreiche Quellenmaterial von unterschiedlichen US-Regierungsstellen, das ausgewertet wurde und in dieser Fülle und Systematik bislang in der wissenschaftlichen Literatur nicht aufgeführt wurde, wird beschreibend und flüssig, in den Text integriert. Dabei bleibt die Rahmung der Einzeldarstellungen durch die Gesamterzählung immer präsent. Das ist auch darin begründet, dass eine explizite Zuordnung der grundlegenden theoretischen Annahmen dieser Studie, eben auch weil sie zu einer starren Haltung verleiten würden, nicht stattfindet. Die historisch-kulturwissenschaftlichen Anleihen und auch die verwendeten soziologischen und ethnologischen Kulturtheorien werden erst im Fortgang und Verlauf der Arbeit durch die jeweiligen Perspektiven und Fragestellungen eingeführt. Methodologisch basiert die Arbeit auf einer spezifischen Mischung aus traditionell historisch-kritischer Verfahrensweise und sozialwissenschaftlichen und strukturgeschichtlichen Ansätzen.

Überzeugend herausgearbeitet werden damit: antiamerikanische Stereotype in Österreich, deren Kern die angenommene Suprematie der europäischen Kultur bildeten und die eben als Abwehr einer von den USA begleiteten Demokratisierung Österreichs nach 1945 zumindest in den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Eliten sehr präsent waren; und wie das Re-Orientation-Konzept zumindest in Ansätzen Ergebnis einer wissenschaftlichen Expertise war, das von den kritische Sozialwissenschaften und einer liberal ausgerichteten Pädagogik in einem längeren Prozess erarbeitet wurden und zumindest zeitweise Eingang in die Nachkriegsplanungen der USA fanden. Die angefragten Vertreter der Sozialwissenschaften versuchten eine wissenschaftlich gestützte Politikberatung zu entwickeln.

Wie die Anstrengungen eine unabhängige wissenschaftlichen Expertise im Kontext der Gewalt und Barbarei des 2. Weltkrieges, eben auch ihrer politischen Wirkungen prozessbezogen und die unterschiedlichen Akteure in der US-Regierung einbeziehend, dargestellt werden, gehört zu den großen Stärken der Arbeit. Deutlich gemacht wird, wie die beteiligten Wissenschaftler/innen ihre eigenen Vorurteile zu durchdringen und sich aus der Siegerhaltung zu lösen versuchten. Hier sind insbesondere die Auseinandersetzung zwischen Konzepten, die auf selbstorganisierte Lernprozesse bauten – von Pädagogen gestützt – und von anderen, die auf stärker auf eine Dekonditionierung aus waren – von Psychologen gestützt – aus waren, zu beachten.

Dass die pädagogischen Ansätze nach Kriegsende nicht umgesetzt wurden, war demnach den militärisch-strategischen, außenpolitischer Interessen der USA und ihrer Verbündeten geschuldet. Stifter gelingt es, auf der Basis empirisch belegter Fallbeispiele an österreichischen Universitäten nachzuweisen, dass die Re-Orientation selbst in seinem Kernbereich, der vollständigen Entnazifizierung der Universitäten, nur eingeschränkt wirksam war. Als mittel- und längerfristig erfolgreicher stellten sich demnach die nachhaltige ideologische Überzeugungskraft materieller und systemisch-technischer Überlegenheit sowie die – zunächst – zurückhaltende Propagierung des „American Way of Life“ heraus.

Diese moderne Cold-War-Study zeichnet sich durch Multipolarität, Multiperspektivität und Interdisziplinarität und durch ihre bis in die Gegenwart hineinreichende Langzeitperspektive aus. Neben soziologischen, sozialpsychologischen Betrachtungsweisen wird insbesondere auch der Stellenwert der Pädagogik in den US-amerikanischen Konzepten der nachhaltigen Friedensentwicklung fokussiert. Was den Grad der Durchdringung des Quellenmaterials und des historischen Deutungs-Horizonts anbelangt, ist dieses Grundlagenwerk für Österreich- und eingeschränkt auch für die Geschichtsschreibung dieses Zeitraums in Deutschland – singulär.

Politisch engagiert ist, weil sie auch die idealistischen Ambitionen der USA eine nachhaltige Demokratie in Österreich nach Kriegsende zu unterstützen darstellt und den bis heute andauernden stereotypen Anti-Amerikanismus kritisiert und auf der anderen Seite auch die so genannten „Opfer-Doktrin“ der Zweiten Republik grundsätzlich in Frage stellt. Der Austro-Faschismus wird als Pendant und Vorbereiter der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich benannt.

Irritierend und herausfordernd für das Lesepublikum aus Deutschland ist, dass es mit Parallelen, insbesondere aber auch mit Unterschieden in der historischen Entwicklung der beiden Länder konfrontiert wird. Der „German Character“, wie er im 2. Weltkrieg verwendet wurde, war dabei insbesondere von Charlotte Bühler, einer Österreicherin, die in die USA emigriert war, geprägt worden. Sie unterschied zwischen dem neurotischen Perfektionismus der Deutschen, mit der Bereitschaft sich bedingungslos höheren Idealen zu verschreiben, und der spezifisch österreichischen Ignoranz und Schlamperei. Diese sozialpsychologischen Zuschreibungen, die in ihrem empirischen Gehalt fragwürdig sind, könnten dennoch gute Anhaltspunkte für transkulturelle Reflexionen der wechselseitigen Fremd- und Selbstwahrnehmung liefern. Auch ist bemerkenswert, dass die USA gegenüber Österreich schon seit 1943 das Movens der Westintegration in den Mittelpunkt stellten und aus strategischen Gründen die Opfer-Doktrin Österreichs unterstützten, während sie gegenüber Deutschland den Bestrafungsaspekt, insbesondere auch wegen der Konzentrations- und Vernichtungslager, teilweise stärker in den Vordergrund rückten.

Abschließend ordnet Christian H. Stifter seine Forschungsergebnisse in den Kontext nachhaltiger politischer Bildung ein. Ihm ist der Gegenwartsbezug seiner Forschungsergebnisse wichtig und da öffnet seine Arbeit auch Ansatzpunkte für Kontroversen. So behauptet er, dass die aktuelle Krise unter Beweis stelle, wie wenig nachhaltig der kultivierend-zivilisatorische und friedenssichernde Aspekt der auf Humanisierung gerichteten Bildungsmaßnahmen der Nachkriegsentwicklung in ihrer Wirkung war. Inwieweit diese generalisierenden Aussagen auf Basis der historiographischen Forschungsergebnisse angemessen sind, ist kritisch zu hinterfragen.

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