Cover
Titel
Leben hinter Mauern. Arbeitsalltag und Privatleben hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR


Autor(en)
Krämer, Jenny; Vallendar, Benedikt
Erschienen
Anzahl Seiten
251 S.
Preis
€ 18,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Springer, Berlin

„Magdeburg im März 1989, an einem ruhigen Freitagnachmittag. Der Frühling naht, die Vögel zwitschern, alles scheint friedlich. Doch Oberstleutnant Siegmund Koch, Leiter der Abteilung Finanzen in der Bezirksverwaltung des MfS, ist sauer. [...] Es geht um Schäden an Dingen, die sich im Eigentum des Ministeriums befinden. [...] ‚So ein Scheißladen!‘, brüllt der Stasi-Offizier durch den Raum, so laut, dass es seine Büronachbarn durch die Wand hören können. [...] Und dann, nachdem er sich in einen speziellen Fall vertieft hatte: ‚Na, dieses kleine Arschloch kann was erleben.‘“ (S. 195)

Vielleicht hätten die Historikerin Jenny Krämer, die sich „wissenschaftlich mit Phänomenen deutscher Alltagsgeschichte seit der Frühen Neuzeit“ (S. 251) beschäftigt hat, und Benedikt Vallendar, der zu Alexander von Humboldts Südamerikareise in der deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts promoviert hat, auf diese romanhafte Weise weiterschreiben sollen und so eine ungewöhnliche und möglicherweise eindringliche Form für ein schwer zu greifendes Thema gefunden: den Alltag hauptamtlicher Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit. Stattdessen wechseln sie von derartigen, in ihrem Realismus offenbar weitgehend erfundenen Schilderungen zu wissenschaftlichen Passagen, geben im Stil von Reportagen Aussagen interviewter ehemaliger Hauptamtlicher wider, berichten über ihren Besuch in einem früheren Gebäude einer MfS-Kreisdienststelle, in dem heute eine Familie lebt (S. 145f.), stellen gewagte historische Vergleiche mit der NS-Zeit und der Gegenwart an und erzählen Anekdoten aus MfS-Akten. Nicht zuletzt wegen dieser stilistischen Vielfalt ist ein roter Faden in den 39, meist wenige Seiten langen Kapiteln nur schwer zu erkennen. Die große Zahl an Kapiteln täuscht zudem eine klare Struktur nur vor. Nahezu die Hälfte des Kapitels zum Thema „Die Stasi in der Provinz“ widmet sich beispielsweise der Nacherzählung der Selbstverbrennung des evangelischen Pfarrers Oskar Brüsewitz (S. 123–125) und hat nur am Rande etwas mit dem in der Kapitelüberschrift genannten Aspekt zu tun.

Dabei haben sich die beiden Autoren ein ungemein wichtiges, bislang allerdings von der Forschung weitgehend vernachlässigtes Thema vorgenommen. Zu Recht kritisieren sie, dass bisher zu wenig nach den Akteuren geheimpolizeilicher Repression in der DDR gefragt worden sei, „die den Apparat letztlich ausgemacht haben“ (S. 22). In der Tat mangelt es in der Erforschung des MfS an fundierten Studien über die hauptamtlichen Mitarbeiter. Die wegweisende Studie von Jens Gieseke1 fand in den letzten Jahren nur durch einige kleinere, aber durchaus wichtige Forschungsarbeiten ihre Ergänzung.2

Doch dem eigentlich interessanten alltagsgeschichtlichen Anspruch, den Krämer und Vallendar erheben, fehlt eine theoretische Durchdringung der Fragestellung. Der Begriff „Alltagsgeschichte“ wird beispielsweise mit einem Wikipedia-Zitat erläutert (S. 22), ohne auch nur ansatzweise auf Debatten um diesen Begriff und auf die Verknüpfung des eigenen Themas mit diesen Debatten einzugehen. Stattdessen entsteht durch die Aneinanderreihung von Alltagsthemen, die die Autoren für relevant halten, ein Panoptikum des MfS-Alltags. „Die Führung inoffizieller Mitarbeiter“ und das „Auftreten der Stasi“ werden dabei ebenso angeschnitten wie „Disziplinarstrafen gegen Mitarbeiter“ und der „Alkoholismus bei der Stasi“.

Die wissenschaftliche Literatur zu den hauptamtlichen Mitarbeitern, zur Staatssicherheit und zur DDR wurde – folgt man den Literaturnachweisen – nur begrenzt wahrgenommen. Nicht selten ersetzten offenbar Gespräche mit Historikern oder gar ein Email-Wechsel die Lektüre einschlägiger Darstellungen. Ein derartiges Vorgehen wäre nicht grundsätzlich zu kritisieren, wenn das Buch als journalistischer Beitrag – etwa in Form einer historischen Reportage – verfasst wäre. Doch tatsächlich geriert es sich als wissenschaftliche Studie, die eine „historische Lücke [...] ein wenig“ (S. 22) schließen möchte.

Nicht nur das Fehlen eines Literatur- und Quellenverzeichnisses, sondern vor allem auch der häufige Verzicht auf Quellennachweise schmälern den Wert der Untersuchung jedoch beträchtlich. Dies gilt etwa für die Behauptung, dass weibliche MfS-Kandidaten „schnell aussortiert“ wurden, wenn sie „nicht attraktiv“ aussahen (S. 42), oder für die Schilderung, dass im Frühjahr 1990 die „Lichtenberger Notambulanzen [...] im Dauereinsatz“ gewesen seien, als „Dutzende, zumeist ältere Mitarbeiter, einen Herzinfarkt erlitten und [...] noch vor Ort gestorben“ seien (S. 244). Ebenfalls unbelegt bleibt die Aussage, in „Plattenbausiedlungen“ an „Ausfallstraßen oder auf freiem Feld“ in der Nähe von „Orte[n] mit alter Bausubstanz“ hätten „häufig Stasi-Mitarbeiter mit ihren Familien“ gewohnt (S. 172). Auch die pauschale Behauptung, „oft“ hätte „ein SED-Funktionär seine schützende Hand über Mitarbeiter [gehalten], denen Vetternwirtschaft vorgeworfen“ worden sei (S. 138), wird nicht konkret und in ihrer Allgemeingültigkeit belegt. Ein solch laxer Umgang mit notwendigen Nachweisen überrascht umso mehr, als die für die Darstellung herangezogenen MfS-Akten in der Arbeit durchaus dokumentiert sind.

Ausgewertet wurden hauptsächlich Aktenbestände der MfS-Hauptabteilung PS (Personenschutz) und der MfS-Bezirksverwaltung Magdeburg. Auf eine Begründung für diese Auswahl verzichten die Autoren, doch wäre insbesondere im Fall der HA PS eine solche Begründung durchaus vonnöten gewesen. Denn eine Diensteinheit, die nicht operativ tätig war, lässt sich nicht unbedingt als Beispiel für eine typische MfS-Hauptabteilung betrachten. Da die Spezifik der HA jedoch nicht thematisiert und auch nicht vergleichend betrachtet wird, bleibt die Wahl rätselhaft. So beschränken sich die Erkenntnisse darauf, dass die MfS-Personenschützer „regelmäßig […] die schmutzige Kleidung von Honecker, Mielke und anderen hochrangigen SED-Größen“ in einer chemischen Großreinigung ablieferten und im Gebäude des SED-Zentralkomitees „gar einen eigenen Ruheraum“ hatten (S. 102).

Hinsichtlich der Quellengrundlage irritiert zudem die Aussage, dass „leider“ „Hinweise zum Alltag bei der Staatssicherheit“ „nirgends zentriert erfasst, sondern weit über Archive und andere Hinterlassenschaften der früheren DDR verstreut“ seien (S. 24). Tatsächlich ist die Überlieferung zur MfS-Geschichte im Archiv des BStU – einschließlich der Außenstellen – sehr wohl gut erfasst. Im Vergleich zu den Quellen für andere alltagsgeschichtliche Fragestellungen sind sie zudem verhältnismäßig leicht zugänglich.

In der Studie überrascht auch ein nicht selten klischeebeladenes und unreflektiertes Bild der DDR jenseits der MfS-Thematik: In den Krippen werden die Kinder „nur gefüttert und gewindelt, ohne emotionale Zuwendung, die in den ersten Lebensmonaten so wichtig ist“ (S. 186), die „Ödnis“ des Lebens ist „in der Provinz allgegenwärtig, schlimmer noch als in den Städten“ (S. 162), „eheliches Fremdgehen“ ist „mangels anderer Ablenkungsmöglichkeiten [...] ein beliebter Volkssport in der DDR“ (S. 199) und überhaupt ist der DDR-Alltag „grau“ (S. 187). Schließlich nehmen sich die Autoren auch angeblich „grotesk anmutende Berufsbezeichnungen wie ‚Diplom-Gesellschaftswissenschaftler‘ [...], ‚Traktorist‘ und ‚Diplom-Museologe‘“ vor – sie seien Ausdruck der Überlegung der „Regierenden“, „wie sie ihre Untertanen so beschäftigten, dass diese in der Überzeugung lebten, etwas Sinnvolles zu verrichten“ (S. 246). Dies ist nicht allein wegen des noch heute verbreiteten Studiengangs „Diplom-Museologie“ eine mehr als gewagte Interpretation der Autoren.

Ähnlich gewagt erscheint die These, MfS-Mitarbeiter hätten „wegen ihrer tendenziell eher wertkonservativen Grundeinstellung ein harmonisches Ehe- und Familienleben geführt“. Krämer und Vallendar schließen dies vor allem aus eigenen Erlebnissen: „Viele ehemalige Stasi-Mitarbeiter, denen wir begegnet sind, leben bis heute mit ihrer ersten Frau zusammen, die sie lange vor dem Mauerfall geheiratet haben – ein für DDR-Verhältnisse untypisches Phänomen.“ (S. 163) Abgesehen von der Frage, inwiefern solche Eindrücke statistische Relevanz besitzen: Hier fehlt nicht nur die generationelle Einordnung des behaupteten „Phänomens“, sondern auch eine Antwort auf die nahe liegende Frage, ob nicht der durch das MfS auch auf das Privatleben ausgeübte Druck dazu geführt haben könnte, dass die Ehen der Mitarbeiter länger Bestand hatten.

Trotz der Schwächen des Buches kommt den Autoren, die zudem offenbar ohne die Sicherheit einer institutionellen Anbindung forschten, der Verdienst zu, die Notwendigkeit einer weiteren und fundierten, möglichst auch vergleichenden Erforschung des Alltags der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter erneut aufgezeigt zu haben. Krämer und Vallendar liefern zudem eine Reihe von interessanten Quellenfunden, die zu weiteren Forschungen und Interpretationen einladen – nicht zuletzt den leider nur als Anekdote erzählten Bericht über mehrere junge MfS-Mitarbeiter, die im Mai 1989 vom Dach der MfS-Bezirksverwaltung Erfurt gekochte Eier warfen, „um vorbeilaufende Fußgänger zu erschrecken“ (S. 12). Das „Leben hinter Mauern“ bedarf weiterer Untersuchungen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Jens Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90, Berlin 2000.
2 Vgl. zum Beispiel Uwe Krähnke / Matthias Finster, „Für mich war wichtig, dass ich irgendwie dazu gehörte“. Die Fallstruktur der MfS-Mitarbeiterin Frau Dorsch, in: BIOS 19 (2006), 1, S.143–160; Katharina Lenski unter Mitarbeit von Agnès Arp, Die Hauptamtlichen der Stasi. Schattenriss einer Parallelgesellschaft, in: Lutz Niethammer / Roger Engelmann (Hrsg.), Bühne der Dissidenz und Dramaturgie der Repression. Ein Kulturkonflikt in der späten DDR, Göttingen 2014, S.237–328; Angela Schmole, Die Spitzenfrauen des MfS. Bei der Staatssicherheit diente das weibliche Personal nur selten in gehobenen Stellungen, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 18 (2005), S.107–114; Renate Ellmenreich, Frauen bei der Stasi. Am Beispiel der MfS-Bezirksverwaltung Gera, Erfurt 1999.

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