J. Veidlinger: In the Shadow of the Shtetl

Cover
Titel
In the Shadow of the Shtetl. Small-Town Jewish Life in Soviet Ukraine


Autor(en)
Veidlinger, Jeffrey
Erschienen
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
$35.00 / € 27,58
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simon Geissbühler, Oberwangen bei Bern/Schweiz

Yehuda Bauer gab seiner herausragenden Studie zum Holocaust in Nordostpolen, Wolhynien und Ostgalizien den Titel „Der Tod des Shtetls“.1 Bei seinen Besuchen von heute westukrainischen Ortschaften, wo einst Juden die Bevölkerungsmehrheit stellten, fand Omer Bartov kaum noch Spuren jüdischen Lebens. Alles Jüdische, ja selbst die Erinnerung an die frühere jüdische Präsenz erschien Bartov wie „ausgelöscht“.2 Tatsächlich wurden das Schtetl als wichtiger Lebensraum des osteuropäischen Judentums sowie seine jüdischen Bewohner im Holocaust nahezu komplett vernichtet. Eine der ganz wenigen Ausnahmen bildeten die Schtetl im rumänisch kontrollierten Transnistrien. Zwar wurde auch in Transnistrien die Mehrheit der in über 200 Ghettos und Arbeitslagern zusammengepferchten lokalen Juden und der dorthin deportierten Juden vor allem aus der Bukowina und aus Bessarabien umgebracht oder starb an Krankheiten, Hunger oder Erschöpfung. Aber die Überlebenschancen waren für die Juden in Transnistrien ungleich höher als im deutschen Machtbereich im Osten.

Interviews mit diesen Überlebenden des Holocausts in Transnistrien, die nach dem Krieg in den vormaligen Schtetl blieben, sind die wichtigsten Quellen Veidlingers. Die meisten dieser Zeitzeugen wurden in den 1920er-Jahren geboren, erlebten an der sowjetischen Peripherie die Zwischenkriegszeit, überlebten den Holocaust und lebten bzw. leben im Oblast Vinnitsa. Befragt wurden diese Menschen zwischen 2002 und 2012 im Rahmen des AHEYM-Projekts, das unter anderem von Dov-Ber Kerler (Indiana University), Moisei Lemster (Hebräische Universität Jerusalem) und Jeffrey Veidlinger (University of Michigan) durchgeführt wurde.3 Fast alle Interviews wurden auf Jiddisch geführt, denn das Ziel des AHEYM-Projekts war es, linguistische Daten zu sammeln (S. xx). Veidlinger erkannte rasch, dass diese Interviews einen Quellenschatz darstellten, der es erlaubte, einmalige Einblicke in die Geschichte des Schtetls zu gewinnen.

Veidlinger bringt seinen Gesprächspartnern und ihren Geschichten (zu Recht) viel Vertrauen entgegen. Aber er kennt die Fallstricke der Oral History. Daher ergänzt er die aus den Interviews gewonnenen Erkenntnisse durch diverse andere Quellen. Daraus entsteht ein dichtes und differenziertes Bild der Entwicklung des Schtetls an der Peripherie der Sowjetunion bzw. der Ukraine vom Russischen Bürgerkrieg bis zur Gegenwart.

Veidlinger zitiert einleitend zustimmend Ben-Cion Pinchuk, dass das Schtetl sehr wohl eine historische Realität war und keineswegs eine literarische Erfindung oder ein Mythos (S. 4), und lehnt sich an den Definitionen des Schtetls von Samuel D. Kassow und von Adam Teller an (S. 5). Er stellt alsdann fünf ehemalige Schtetl im heutigen Oblast Vinnitsa vor, nämlich Bratslav, Bershad, Teplyk, Tulchin und Shargorod.

In vielen Schtetl in der Region Vinnitsa kam es während des Bürgerkriegs zu Pogromen, die von den verschiedenen Faktionen, vor allem aber von Truppen der Weißen Armee angezettelt wurden. Die Situation stabilisierte sich erst um 1920. Doch in vielen Schtetl lag die Wirtschaft darnieder, wer konnte, war ausgewandert, die Armut wurde durch exzessive Besteuerung noch verschärft. Elektrizität war in den Schtetl der 1920er-Jahre eine Seltenheit. Die Gesprächspartner, die sich noch an diese Zeit erinnerten, bringen die 1920er-Jahre mit Armut und Not in Verbindung, aber auch mit gemeindlicher Solidarität und gegenseitiger Hilfe (S. 47). Den Zugriff der sowjetischen Zentralmacht auf die peripheren Schtetl erlebten die meisten Interviewten erst in den 1930er-Jahren (S. 48).

Mitte der 1920er-Jahre waren 69 Prozent aller Handwerker im Distrikt Vinnitsa Juden (S. 58). Auch im Handel und im Kreditwesen waren Juden stark präsent. Dass die Juden in diesen Sektoren tätig waren, gereichte ihnen in der frühen Sowjetunion zum Nachteil. Gerade die jüdisch dominierten, so genannt „bürgerlichen“ Berufsgattungen waren der Sowjetmacht suspekt. In der Landwirtschaft und bei der Fabrikarbeiterschaft hingegen waren die Juden deutlich unterrepräsentiert (S. 66). Die Jüdischen Sektionen der Kommunistischen Partei starteten in der Mitte der 1920er-Jahre eine massive Kampagne, um mehr Juden für die Fabrik- und Landarbeit zu gewinnen (S. 67). Doch all diesen Maßnahmen zum Trotz blieb die traditionelle Sozialstruktur der Schtetl im Distrikt Vinnitsa weitgehend erhalten, auch wenn Modernisierung und Industrialisierung allmählich Fuß fassten.

Viele ältere Jüdinnen und Juden im Oblast Vinnitsa sprechen noch heute Jiddisch – und sie sind stolz darauf. Dies hängt damit zusammen, dass die sowjetische Regierung Jiddischunterricht in den 1920er- und 1930er-Jahren systematisch förderte, während alles Religiöse aus dem Unterricht verbannt, das Hebräische geächtet und die Chadarim sowie die meisten Synagogen geschlossen wurden. Allerdings hatten die jiddischen Schulen einen schlechten Ruf (S. 88), und ab der Mitte der 1930er-Jahre wurden viele Schulen wieder geschlossen. Die antireligiöse Kampagne der Jüdischen Sektionen hatte nur beschränkt Erfolg (S. 111). Gläubige Juden gingen einfach nicht mehr in die Synagoge, sondern trafen sich zu Hause und bildeten dort einen Minjan. Breslover Chassidim sollen sich bis mindestens 1936 regelmäßig in Teplyk, Tulchin und Bershad zum Gebet und zu Pilgerfahrten getroffen haben (S. 126).

Während die Religiosität in den Städten zurückging und für viele Jüdinnen und Juden zunehmend irrelevant wurde, präsentierte sich die Lage in den vormaligen Schtetl in der Region Vinnitsa anders: Hier entstand eine Art amalgamierter jüdischer Volksglaube (S. 155), der sich an den jüdischen Traditionen und Ritualen orientierte, aber gleichzeitig nichtjüdische Glaubenselemente und Praktiken übernahm. Religion wurde domestiziert, sie verschwand zwar nicht, wurde aber „abgeschliffen“.

Anfang Juli 1941 marschierten deutsche und rumänische Truppen an der Südfront in die Sowjetunion.4 Der südliche Teil des heutigen Oblasts Vinnitsa wurde 1941 dem rumänisch kontrollierten Transnistrien einverleibt, der westliche und nördliche Teil mit der Stadt Vinnitsa dem Reichskommissariat Ukraine. Die Überlebenschancen der Jüdinnen und Juden in Transnistrien waren signifikant höher als im deutschen Gebiet. Während in Nemirov im Reichskommissariat das jüdische Leben vollkommen ausgelöscht wurde, überlebten im 20 Kilometer entfernten Bratslav in Transnistrien rund 300 Juden. Nach dem Krieg entstand in Bratslav wieder eine funktionierende jüdische Gemeinde, die sich bis vor wenigen Jahren halten konnte (S. 189).

Die Erinnerung an den Holocaust wurde in den sowjetischen Schtetl der Region um Vinnitsa – wie überall in der UdSSR – verdrängt. Viele Überlebende integrierten ihre eigenen Erinnerungen nicht etwa in den übergeordneten Erinnerungsstrang des Holocausts, sondern in das sowjetische Narrativ vom Großen Patriotischen Krieg (S. 231). Sie begriffen ihr Leiden im Zweiten Weltkrieg auch kaum als ein integrales Element des Holocaust, sondern als Episoden eines lokalen Genozids. Weil der sowjetische Staat Opfer nicht als Juden, sondern pauschalisierend als „Opfer des Faschismus“ anerkannte, war die öffentliche Betonung ihrer jüdischen Identität für die Überlebenden kontraproduktiv (S. 285).

Viele Überlebende in den ehemaligen Schtetl blieben mit den informellen Formen des Judentums verbunden, mit der jiddischen Sprache, mit der jüdischen Küche und dem jüdischen Kalender. Der sowjetische Staat wird in den Erzählungen der Überlebenden weniger als eine Einheit gesehen, die alle Belange des Lebens kontrollierte, sondern als eine ziemlich ineffiziente Bürokratie, die sich sporadisch einmischte (S. 283).

Die Struktur des Schtetls verfiel auch dort, wo sie den Holocaust nahezu unbeschadet überstanden hatte. Synagogen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg anderweitig genutzt, jüdische Friedhöfe nicht mehr gepflegt, nicht selten wurden Grabsteine als Baumaterial verwendet, und vormals von Juden bewohnte Quartiere und Häuserzeilen verfielen oder wurden abgerissen. Hatte 1989 noch beinahe eine halbe Million Juden in der Ukraine gelebt, waren es 2012 noch rund 67.000.

In den ehemaligen Schtetl an der einstigen sowjetischen Peripherie sind nur noch wenige, meist betagte Jüdinnen und Juden zurückgeblieben. Noch erlauben einige der ehemaligen Schtetl im Süden von Vinnitsa, zum Beispiel Shargorod, einen Blick zurück: Da steht noch die mächtige Wehrsynagoge aus dem 16. Jahrhundert, noch gibt es auf dem alten jüdischen Friedhof einige Grabsteine, noch existieren Straßenzüge mit alten Häusern, die einst Teil des vibrierenden Schtetls waren, noch kann man – wenn man fragt und sucht – Jüdinnen und Juden antreffen.

Jeffrey Veidlinger widmet den jüdischen Menschen „im Schatten des Schtetls“ an der sowjetischen Peripherie eine beeindruckende Studie. Er findet die richtige Mischung zwischen wissenschaftlicher Distanz zu seinem Forschungsgegenstand und Einfühlungsvermögen und Sympathie für seine Gesprächspartner. Veidlingers Studie erweitert unser Wissen über das Schtetl im Allgemeinen und das jüdische Leben in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg im Besonderen substanziell.

Anmerkungen:
1 Yehuda Bauer, The Death of the Shtetl, New Haven 2009.
2 Omer Bartov, Erased. Vanishing Traces of Jewish Galicia in Present-Day Ukraine, Princeton 2007.
3 Archives of Historical and Ethnographic Yiddish Memories: <http://www.aheym.org/> (31.03.2014).
4 Simon Geissbühler, Blutiger Juli. Rumäniens Vernichtungskrieg und der vergessene Massenmord an den Juden 1941, Paderborn 2013; Jean Ancel, The History of the Holocaust in Romania, Lincoln 2012; Herwig Baum, Varianten des Terrors. Ein Vergleich zwischen der deutschen und rumänischen Besatzungsverwaltung in der Sowjetunion 1941–1944, Berlin 2011.