J. Rothenstein u.a. (Hrsg.): Schatzkammer der Revolution

Titel
Schatzkammer der Revolution. Russische Kinderbücher von 1920–1935: Bücher aus bewegten Zeiten


Herausgeber
Rothenstein, Julian; Budashevskaya, Olga
Erschienen
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gertraud Marinelli-König, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akdemie der Wissenschaften

„Was für ein Schatz! […] Haben die zuständigen Volkskommissare und Parteisekretäre damals geschlafen? Warum ließen sie zu, dass direkt vor ihren Augen ein solches Wunderland der modernen Kunst florierte?“, urteilt der britische Schriftsteller Philipp Pullman im Vorwort zu diesem Buch. Das vorliegende Werk ist eine Übersetzung von „Inside The Rainbow. Russian Children’s Literature 1920–35. Beautiful Books, Terrible Times“ (London: Redstone Press, 2013). Hier wird das sowjetische avantgardistische Bilderbuch im Format eines prächtigen Coffee Table Book präsentiert. Das Interessante der frühen sowjetischen Bilderbücher erschließt sich für ein „westliches“ Publikum in erster Linie über die graphische Gestaltung. Die Herausgeber bedanken sich im Impressum bei Sasha Lurye, aus dessen Sammlung die Abbildungen stammen. Exponate aus dieser Sammlung waren bereits 2007 auf einer Ausstellung in Charlotteville1 gezeigt worden, und in Moskau erschien 2009 ein zweibändiges Werk über diese Kollektion.2

Man wird hier mit Bilderbüchern berühmter Schriftsteller wie Osip Mandelstam, Wladimir Majakowskij, Daniil Charms sowie vieler bedeutender Künstler und Illustratoren, wie El Lissitzky, David Sterenberg, Wladimir Tatlin, Wladimir Konaschewitsch, Eduard Krimmer, Alexander Deineka, die Schwestern Galina und Olga Tschitschagowa, Tatjana Glebowa oder auch Lidija Popowa bekannt gemacht. Die Mehrzahl der abgebildeten Werke entstand im ersten Jahrzehnt der Sowjetunion. In vielen graphischen Umsetzungen des Textes wird eine naive Fortschritts- und Modernisierungssprache erkennbar. Das Kind wird nicht nur mehr in eine Märchenwelt entführt, sondern auch in eine mustergültige, moderne Umwelt und Arbeitswelt. In manchen Fällen wird es über das Bilderbuch mit den sozialistischen Idealen und Programmen bekannt gemacht, was vor allem das Paradigma einer technischen Modernisierung umfasst. Dazu zählen auch die Gegner dieser neuen Gesellschaft, wie die Figur des dickbäuchigen, mit Frack, Zylinder und goldener Uhrkette bekleideten, kettenrauchenden Kapitalisten. Die frühen sowjetischen Kinderbücher sind Teil des kollektiven Gedächtnisses über jene Zeit. Arkadij Ippolitow spricht in seinem fulminanten Beitrag im Einleitungsteil mit dem Titel „Fantasieland UdSSR“ diesen Aspekt an. Nachdem die vorrevolutionäre Kinderwelt, verkörpert unter anderem in den Büchern von Lidija Tscharskaja, vernichtet worden war, sei in den Kinderbüchern der 1920er-Jahre ein neues Phantasieland erschaffen worden: „Von talentierten Künstlern und Schriftstellern entworfen, war [es] ebenso spekulativ und abstrakt wie die Idee des Kommunismus.“ Die Mitherausgeberin Olga Budashevskaya bezieht sich in ihrem Begleitwort „Unter dem Regenbogen“ auf den legendären Kinderbuchverlag „Raduga“ (= Regenbogen), der von 1922–1930 existierte und aus dessen Produktionspalette − neben Büchern aus dem Staatsverlag „Giz“ und dem Verlag „Junge Garde“ − zahlreiche Produkte abgebildet sind. Sie rückt Kornej Tschukowskij ins Licht. Der Journalist, Literaturkritiker, Übersetzer und Philologe brachte das Absurde, das Groteske in die russische Kinderliteratur ein. Als Vorbild dienten ihm die Nonsensgedichte der englischen Kinderfolklore, was ihm mitunter scharfe Kritik einbrachte. Seine Kinderbücher wurden zu Klassikern, auch deshalb, weil es in ihnen nicht um Ideologie ging. Ihm zur Seite gestellt ist Samuil Marschak, der zweite Kinderbuchklassiker, welcher in den 1920er-Jahren seine einzigartigen, meist mit satirischen Untertönen instrumentalisierten Kinderbuchtexte zu schreiben begann und englische Kinderliteratur übersetzte. Von beiden Autoren sind Teile von Bilderbüchern, teils nur deren Umschlag, teils einzelne Seiten mit Illustrationen und Zeichnungen, teils auch ganze Texte, abgebildet. Marschaks „Eiscreme“ (1925) zum Beispiel wurde vom Kubofuturisten Wladimir Lebedew illustriert, einem der prominentesten avantgardistischen Künstler im Bereich der Kinderbuchgestaltung jener Zeit. Oder es finden sich Seiten aus der englischen Übersetzung (ca. 1935) seines Tierbilderbuchs „Kinderchen im Käfig“ (1923) mit Originalillustrationen von Evgenij Tscharuschin. Dieses Bilderbuch, anfänglich von Cecil Aldin illustriert, wurde bereits 1930 ein achtes Mal mit zwei Millionen Exemplaren aufgelegt. Sieben Bilderbücher des Futuristen Wladimir Majakowskij finden sich in diesem Band. In dessen „Tiergarten“ (1928) ist der Löwe nicht König der Tiere, sondern deren Vorsitzender!

Die Abbildungen sind in zehn Abschnitte gebündelt. Jeweils zu Beginn eines Abschnitts finden sich Zitate aus historischen Zeitdokumenten. In manchen Fällen verhalten sich diese Zitate symbiotisch zu den nachfolgenden Illustrationen, jedoch nicht immer. Im ersten Abschnitt („Kleine Genossen“) folgt auf ein Zitat aus Majakowskijs „Offenem Brief an die Arbeiter“ (1918) das Diktum Nikolaj Bucharins: „Die Befreiung der Kinder von den reaktionären Einflüssen ihrer Eltern bildet eine wichtige Aufgabe des proletarischen Staates“ (S. 31) sowie ein autobiographischer Text über die Aufführung eines „progressiven“ Märchens anlässlich des Jahrestages der Oktoberrevolution. Auch findet sich hier eine Erzählung über Kinder und die Rote Armee von Arkadij Gajdar, einem sowjetischen Jugendbuchklassiker der Zwischenkriegszeit. Es folgen Seiten aus Bilderbüchern zu „klassenbewussten“ Themen wie die ‚Internationale‘ der Kinder, dem 1. Mai oder dem Thema ‚Streik‘. Bei dem Buch „Wie die Kapitalisten bewaffnet sind“ (B. Schukow, 1931) scheint es sich um einen sehr seltenen Titel zu handeln, der in Bibliographien nicht auffindbar ist. Aus dem Bilderbuch „Wie die Revolution gewonnen wurde“ (Nikolaj Sabolozkij, 1930), illustriert von Alisa Poret, finden sich mehrere Seiten abgebildet, mit denen veranschaulicht wird, wie „Zeitgeschichte“ in die Kinderstuben Eingang finden kann.

Die in diesem prachtvollen Band vorgestellten Bilderbücher mit avantgardistischen Illustrationen im Stil des Konstruktivismus und Suprematismus zeigen kostbare Raritäten, aber auch kinderliterarische Klassiker aus der frühen Sowjetzeit. Das Hauptinteresse gilt den Illustrationen und Bildern. Daher findet sich am Schluss des Buches zwar ein Künstlerverzeichnis mit 64 Namen, jedoch kein Autorenverzeichnis. Des Weiteren wurden einige zeitgenössische Dichter- und Kinderfotos aufgenommen. Julian Rothenstein und Olga Budashevskaya haben die Bilderbücher mit unkommentierten Zitaten aus historischen Dokumenten zur sowjetischen Gesellschaft gekoppelt, indem sie prominente politische Akteure, Zeitzeugen und Dichter begleitend zu Wort kommen ließen. Die Bilderbücher werden mit ihrer Entstehungszeit konfrontiert, und es wird dabei der radikale gesellschaftlichen Wandel vorgeführt. Das erhöht die ihnen anhaftende poetische Strahlkraft. Die Ausstattung der 118 abgebildeten Bilderbücher ist generell herausragend. Das Bemerkenswerte ist, dass es hier nicht um bibliophile Bilderbücher geht, die es zu jeder Zeit in allen Literaturen gegeben hat, sondern um gewöhnliche. Philipp Pullman mutmaßt, dass Kinderliteratur, wie überall, eine wenig beachtete Nische gewesen sei, in welcher Experimente möglich waren. Tatsache ist, dass sich zu Beginn der Sowjetzeit viele begabte Künstler und Schriftsteller in diesem scheinbar sekundären Sektor der Gebrauchsliteratur betätigten, darunter auch viele Frauen. Ein zweiter wichtiger Faktor war die Alphabetisierungskampagne, zu der auch eine verstärkte Produktion auf dem Kinderbuchsektor gehörte. Diese Mixtur entfesselte eine Kreativität, die bis Ende der 1920er-Jahre währte. Nein, die Kommissare haben nicht geschlafen.

Anmerkungen:
1 Bislang waren frühsowjetische Kinderbücher vor allem in Ausstellungen zu sehen: zum Beispiel im Wiener MAK (2004), in Charlotteville (2007), in Valencia (2010) oder im Museum Meermanno in Den Haag (2013), wozu auch jeweils Kataloge hergestellt wurden.
2 Dmitrij Fomin / E. Piggot, Kniga dlja detej, 1881–1939: Detskaja illjustrirovannaja kniga v istorii Rossii, iz kollekzii Aleksandra Lurye (Bücher für Kinder, 1881–1930: Historische russische Bilderbücher aus der Sammlung von Aleksandr Lurye), Moskau 2009. Von dem in Helsinki lehrenden Slawisten Ben Hellman erschien vor kurzem eine Geschichte der russischen Kinderliteratur: Ben Hellmann, Fairy Tales and True Stories. The History of Russian Literature for Children and Young People (1574–2010), Leiden 2013.