C. Meier: Der Historiker und der Zeitgenosse

Cover
Titel
Der Historiker und der Zeitgenosse. Eine Zwischenbilanz


Autor(en)
Meier, Christian
Erschienen
München 2014: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 16,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winfried Schulze, Mercator Research Center Ruhr, Essen

Mit 85 Jahren eine „Zwischenbilanz“ anzukündigen, klingt entweder überheblich oder verrät eine unbändige Lust, sich einzumischen und den Lauf der Welt weiterhin unerschrocken zu kommentieren. Wer Christian Meier kennt, wird sich schnell für die zweite Diagnose entscheiden, und er tut gut daran. Als Meier 2012 nach über 50-jähriger Tätigkeit als Hochschullehrer seine Lehrtätigkeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einer Abschiedsvorlesung beendete, war dies nicht nur ein intellektuelles Ereignis, das weit über München hinaus zur Kenntnis genommen wurde, sondern auch Anlass für eine spezifische Form der Rückschau auf ein spannendes Leben als Professor für Alte Geschichte und als öffentlich wirksamer Intellektueller.

Ohne jeden Zweifel ist Christian Meier ein ungewöhnlicher Althistoriker, aber das kommt ja bei Althistorikern nicht ganz selten vor. Ungewöhnlich in seinem Fall, weil er sich – nach eigenem Bekenntnis – nie sonderlich um den fachinternen Diskurs gekümmert hat (und umfängliche Literaturlisten verabscheut), sondern sich immer darum bemüht hat, Anregungen von außen aufzunehmen und davon für sein eigenes Fach und seine interpretatorischen Ansätze zu profitieren. Davon zeugen zunächst einmal sein Engagement in Diskussionsgruppen wie „Poetik und Hermeneutik“ und „Theorie der Geschichte“ oder seine aus der Bekanntschaft zu Reinhart Koselleck herrührende Mitarbeit an den „Geschichtlichen Grundbegriffen“, um nur diese zu nennen. Zum anderen aber speist sich daraus auch der starke Impetus, sich in die öffentliche Diskussion über historisch relevante Themen einzumischen. Solche Debatten haben ihn zu jener spezifischen Instanz werden lassen, als die er heute angesehen wird. Eine der schönsten Einsichten des Bandes ist der Nachweis der Entwicklung, wie man zu einem öffentlichen Intellektuellen wird.

Das Buch besteht aus drei unterschiedlichen Teilen. Es beginnt – gleichsam verkehrt herum – mit der Münchener Abschiedsvorlesung (S. 11–55), die eigentlich nur den Abschluss von Meiers letzter Vorlesung im Sommersemester 2012 über „Griechische Geschichte im 5. Jahrhundert“ bildete, sich dann aber zu einer weit darüber hinausreichenden Bilanz seiner Tätigkeit entwickelte. Der Schlussteil des Buchs ist die berühmte, zum ersten Mal schon 1970 gedruckte Basler Antrittsvorlesung vom 6. Juni 1968 (S. 189–221), in der Meier nach der „Wissenschaft des Historikers und der Verantwortung des Zeitgenossen“ fragte. Dazwischen liegt – beide Vorlesungen klug verbindend – die Dokumentation langer Gespräche, die Georg Frühschütz, einer seiner letzten Studenten (geboren 1986), mit Christian Meier führte. So ist ein Band entstanden, der einen besonderen Reiz ausstrahlt, eine spannende Verbindung von wissenschaftlichen Ortsbestimmungen und dem Versuch, das Werden und das Wesen einer Persönlichkeit zu erklären. All dies liest sich zudem leicht und spannend.

Die Abschlussvorlesung rundet zunächst den Stoff des Semesters ab, knüpft aber zugleich an die erste Vorlesung Meiers im Heidelberg des Jahres 1963 über die späte römische Republik an und versucht daraus, eine sich durch den ganzen Band ziehende Grunddiskussion zu entwickeln: über das Verhältnis von menschlicher Freiheit und strukturellen Bedingungen, die diese Freiheit begrenzen. Hier scheint der Kern von Meiers historischem Interesse zu liegen. In immer neuen Annäherungen werden die Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Handelns in diesen beiden historischen Formationen aufgeworfen – der griechischen und der römischen Antike –, aber keineswegs nur in diesen. Man könnte geradezu sagen, dass sich dabei Meiers Geschichtstheorie – wenn man es denn so nennen will – offenbart. Hier von Theorie zu sprechen, scheint erlaubt zu sein, denn Meier hatte ja 1968 in Basel dezidiert gefordert: „Um es zusammenzufassen: Wir brauchen eine Theorie.“ Was er damals und danach immer wieder verlangte, war freilich keine von den historischen Gegenständen abgehobene Theoriediskussion, sondern ein flexibles systemisches Nachdenken über sachadäquate Begrifflichkeiten und über die ebenso notwendige Einbeziehung der für den Historiker nützlichen Nachbarwissenschaften in sein Handwerkszeug. Diese Theoriearbeit sollte zugleich von den Perspektiven der Gegenwart partizipieren und sich damit der Wirksamkeit des Historikers in seiner Gegenwart versichern; sie sollte die Gegenwart „beleuchten“. Genau dies wurde dann das Erfolgsrezept für seine großen Darstellungen über „Caesar“ und „Athen“, die ihn zu einem vielgelesenen Autor machten. Aber auch hier blieb er der „denkende Historiker“ – Gadamers auf Koselleck gemünztes Wort erscheint hier ganz angemessen.

Das waren Ideen, die 1968 vorgetragen wurden, in einer Zeit des großen Aufbruchs, und natürlich näherte sich Meier damals bestimmten Theorieforderungen an, die auch von kritischen Studenten aufgestellt wurden – sicher ein weiterer Grund dafür, dass seine Reputation in bestimmen althistorischen Fachkreisen durchaus begrenzt war, was Meier immer wieder mit erkennbarer Freude konstatiert. Gleichwohl ist hier kein Siegesjubel zu vernehmen. Er beendet seine Abschiedsvorlesung mit dem leisen Zweifel am Erfolg all dieser frühen Ideen, die sowohl die Lösung der Theoriefragen betreffen wie auch die institutionellen Hoffnungen, die in den späten 1960er-Jahren gehegt wurden. Das selbstkritische „frustra docui“ übernimmt er gerne von Thomas Hobbes und Carl Schmitt und begrenzt damit vielleicht etwas zu stark seine tatsächliche Wirkung. Implizit liegt hier auch der Grund für Meiers immer stärkere publizistische Aktivität, zu der die aktuelle deutsche Geschichte vielfachen Anlass bot. Er hat sich mit bemerkenswerter Gründlichkeit in ein ihm fachfremdes Gebiet eingearbeitet, wie es etwa sein berührender Nachruf auf Martin Broszat von 1990 beweist.

Für den Rezensenten, der das Glück hatte, Meier sowohl in Bochum (dort allerdings sehr kurz) wie auch in München als Kollegen zu haben, ist das in fünf Abschnitte gegliederte lange Gespräch – Interview wäre der falsche Ausdruck – der ergiebigste Teil des Buchs. Hier erschließt sich, durch kluge und bei Bedarf auch nachbohrende Fragen von Georg Frühschütz – der dafür nicht genug gelobt werden kann – der Wissenschaftler und Mensch Christian Meier in neuer Weise. Gerade wenn man diese Gesprächsreihe mit einigen neueren autobiographischen Schriften anderer bedeutender Geisteswissenschaftler vergleicht, wird man leicht den Zugewinn feststellen können, der hier erreicht wird. Es gibt hier keine Namenslisten berühmter Zeitgenossen, die schmückend erwähnt werden, sondern es bietet sich im Spiel von kritischer Frage und unprätentiöser, zuweilen von Zweifeln geprägter Antwort ein tiefer Einblick in das Leben und die Arbeit eines Wissenschaftlers des Jahrgangs 1929, der das Glück hatte, dem Zweiten Weltkrieg ausweichen, den Zumutungen der beiden deutschen Diktaturen relativ leicht widerstehen und eine sehr erfolgreiche Laufbahn in einer Wachstumsphase des bundesrepublikanischen Wissenschaftssystems beginnen zu können. Wenn das in der Verkürzung allzu problemlos erscheint, dann ist es hilfreich, auf Meiers für den Notfall angedachte Laufbahn als Straßenbahnhilfsschaffner in Heidelberg hinzuweisen, die ihm glücklicherweise aber doch erspart blieb.

Besonders spannend wird das Gespräch zum einen da, wo es um Meiers Ringen um die Dissertation „Res publica amissa“ geht sowie um seine spezifische Arbeitsmethode und Darstellungsform; zum anderen da, wo der Gesprächspartner nach dem Beginn jener Phase fragt, in der Meier zum öffentlichen Intellektuellen wurde. Meier sieht eher Zufälligkeiten und äußere Anregungen wirken, keine planvolle Absicht, auch wenn er die Freude daran, mehr gelesen und gehört zu werden, nicht leugnet. Auch hier kann sich der Rezensent noch gut an die auslösenden Zusammenhänge erinnern, die eng mit Meiers Rolle als Vorsitzender des Historikerverbands verbunden waren, den er acht Jahre lang in einer durchaus schwierigen Zeit gesteuert hat (1980–1988). Allerdings basiert diese Einmischung auf einer sehr klaren Vorstellung von der „Verantwortung des Zeitgenossen“. Meier neigt selbst nicht dazu, diese Phase als Erfolg herauszustellen, was aber der historischen Gerechtigkeit halber doch getan werden muss. Im Übrigen ist natürlich festzuhalten, dass Meier zwar immer gerne auf Distanz zu seinen engeren Fachkollegen der Alten Geschichte geht, dass dies freilich in einem merkwürdigen Gegensatz zu der Anerkennung steht, die er als Vorsitzender gefunden hat. Das belegen nicht zuletzt seine ausgleichende Rolle im „Historikerstreit“, die Durchführung des Internationalen Historikerkongresses in Stuttgart 1985 und vor allem die von ihm programmatisch betriebene Hinwendung der deutschen Geschichtswissenschaft zu globalgeschichtlichen Fragen (etwa in seinem Schlussvortrag des Bamberger Historikertags 1988). Gerade Meiers organisatorische Leistungen sollten hier noch einmal in den Mittelpunkt gerückt werden – das betrifft seine Rolle als Vorsitzender des Historikerverbands und die damit verbundenen politischen Kontakte ebenso wie seine Tätigkeit als Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (1996–2002).

Der Band ist eine erfreuliche Bereicherung unserer Kenntnisse über diesen seine Fachgrenzen immer wieder produktiv überschreitenden Historiker, der eine absolut moderne Aufgeschlossenheit für neue Fragen und Themen mit einer zuweilen obsessiven Ablehnung moderner Kommunikationsformen verbindet und dem es zudem geradezu diebische Freude bereitet, die offensichtlichen Sachzwänge einer Universitätsverwaltung bloßzustellen. Wer den letzten Absatz seiner Abschiedsvorlesung liest, könnte gar auf den Gedanken kommen, dass Christian Meier mit 85 Jahren eigentlich nur deshalb seine Lehrtätigkeit einstellte, weil die Verwaltung der Ludwig-Maximilians-Universität ihm den Platz im Parkhaus entziehen wollte. Man sollte sich vielleicht darum bemühen, seine Parkberechtigung doch noch zu verlängern, damit aus der „Zwischenbilanz“ einmal eine veritable „Schlussbilanz“ werden kann.