B. Diestelkamp: Vom einstufigen Gericht zur obersten Rechtsmittelinstanz

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Titel
Vom einstufigen Gericht zur obersten Rechtsmittelinstanz. Die deutsche Königsgerichtsbarkeit und die Verdichtung der Reichsverfassung im Spätmittelalter


Autor(en)
Diestelkamp, Bernhard
Reihe
Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 64
Erschienen
Köln 2013: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
159 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hendrik Baumbach, Institut für Mittelalterliche Geschichte, Philipps-Universität Marburg

Das Jahr 1495 wird unter dem Bezug auf die Beschlussfassungen des Wormser Reichstages, zu denen auch die Entstehung des Reichskammergerichts (RKG) gehörte, in der Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches immer wieder als Grenzmarke zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit hergenommen. Dass sich die in der Tätigkeit des RKG manifestierende Jurisdiktion nur geringfügig auf den Reichsabschied von Worms zurückführen lässt, sondern diese gerade Wirkung von mehrschichtigen und langfristigen Entwicklungsprozessen war, beweist einmal mehr die von Bernhard Diestelkamp vorgelegte Analyse der deutschen Königsgerichtsbarkeit des 14. und 15. Jahrhunderts. Diestelkamp geht hierin der von ihm aufgeworfenen These nach, die königliche Gerichtsbarkeit habe sich im Verlauf des Spätmittelalters von einem „einstufigen Gericht“ auf der Grundlage der römisch-rechtlichen Appellation hin zu einer „obersten Rechtsmittelinstanz“ gewandelt, woran die spätere Gerichtsbarkeit des RKG anschließe.

Der in der Reihe „Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich“ erschienene 64. Band gliedert sich in fünf Teilkapitel unterschiedlicher Länge. Anstelle einer Einleitung beginnt Diestelkamp im ersten Kapitel mit einer systematischen Vorstellung aller „Formen der Königsgerichtsbarkeit“ (S. 17–31), mit dem Ziel, den Forschungsstand zu den einzelnen Instrumenten königlicher Jurisdiktion knapp zusammenzufassen. Hieran schließen zwei umfangreichere Textteile in chronologischer Abfolge an, die jeweils für das 14. und 15. Jahrhundert „neue Anforderungen an die Königsgerichtsbarkeit“ (S. 32–54; S. 55–139) behandeln. Ohne eigens abgefassten Schlussteil endet die Monographie mit zwei kurzen Stellungnahmen Diestelkamps: Einmal antwortet er auf die nach wie vor offene Forschungsfrage nach den Gründen für das Verschwinden des königlichen Hofgerichts zur Mitte des 15. Jahrhunderts (S. 140–145); im fünften Kapitel bezieht er die zuvor erarbeiteten Befunde auf das von Peter Moraw vorgeschlagene, nach wie vor als aktueller Forschungsstand geltende Konstrukt der Verfassungsverdichtung am Ende des 15. Jahrhunderts (S. 146–152).1

Ausgangspunkt seiner Überlegungen, die weitergehende Ausarbeitungen eines im Jahre 2011 an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gehaltenen Vortrags darstellen, bildet die Stellung des Königs als oberster Richter. Diestelkamp erklärt zu Recht, dass die von der Forschung immer wieder bemühte Textstelle aus dem Sachsenspiegel ungenügend sei, das königliche Gericht den übrigen Gerichten innerhalb des Reiches als hierarchisch übergeordnet zu betrachten. Unbestritten sei einzig, „dass der König als Inhaber einer nicht abgeleiteten Jurisdiktionsgewalt Richter sein konnte, wenn und wo er es wollte. Er konnte seine Gerichtsbarkeit sowohl persönlich alleinentscheidend als auch in der Form dinggenossenschaftlicher Rechtsfindung ausüben“ (S. 18). Im Laufe des 14. Jahrhunderts habe die bestehende „konsensuale Urteilsfindung“ (S. 26) – dazu zählten persönliche Streitentscheidungen des Königs genauso wie die oft auf Hoftagen vorgenommenen gerichtlichen Handlungen mit Rat der versammelten Fürsten – gegenüber der von gelehrten Juristen betriebenen Ableitung der Urteile aus Rechtstexten an Bedeutung verloren. Ganz analog zu Jürgen Weitzels Vorstellung einer sich wandelnden Rechtskultur2 argumentiert Diestelkamp und erklärt: „Der Übergang vom dinggenossenschaftlichen Verfahren zum gelehrten Prozessrecht verursachte und bedingte also die Ausbildung von Instanzenzügen. Diese neue Form der iurisdictio überzog das Reich mit einem System unter- und übergeordneter Instanzen, an deren Spitze das Gericht des Königs stand […]“ (S. 26). Die Zeit der luxemburgischen Könige und Kaiser, Karl IV., Wenzel und Sigismund, erscheint dabei als Übergangszeit, die durch ein Nebeneinander einstufiger und erster mehrstufiger Gerichtsbarkeit gekennzeichnet war.

Der Rechtszug an den König reduzierte sich auf wenige Ausnahmen (S. 32–36), dagegen traten erstmals Appellationen zutage (S. 36f.) – auf letztere, die Diestelkamp als paradigmatisch für das mehrstufige Verfahren versteht, läuft die Argumentation im weiteren Verlauf der Monographie zu. Nichtigkeitsbeschwerde, Rechtsverweigerungsbeschwerde und die Vidimierungstätigkeit des Hofgerichts seien genau wie der Rechtszug nämlich den einstufigen Verfahren zuzurechnen (S. 37, 42, 51). Um die zeitgleich aufgekommene Appellation noch stärker von diesen Formen abzugrenzen, führt Diestelkamp auch die Bezeichnung der „echten Appellation“ (S. 36) ein, die sich nicht aus den zeitgenössischen Quellen ergibt, von ihm aber benötigt wird, um die deutlich ältere Verwendung des Appellationsbegriffs vom römisch-rechtlichen Rechtsmittel zu unterscheiden. Ohnehin bleiben der Aufbau des Bandes und die Erzählrichtung von juristischer Vorstellung und Theorie zu den historischen Phänomenen geleitet.

Die von Diestelkamp für seine Grundthese eingebrachten Belege sind in besonderem Maße vom Überlieferungstand und der Aufarbeitung der Quellen abhängig. So gelingt im zweiten Kapitel anhand der von ihm selbst begründeten und herausgegebenen „Urkundenregesten zur Tätigkeit des Deutschen Königs- und Hofgerichts“3 eine Systematisierung der Hofgerichtsquellen unter juristischen Gesichtspunkten. Die Intensivierung der Gerichtstätigkeit im Reich ab der Mitte des 14. Jahrhunderts mit dem von Friedrich Battenberg bearbeiteten Quellenkorpus der Gerichtsstandsprivilegien4 zu begründen (S. 52–54), kann nur bis zu einem gewissen Grade als Beleg gelten, da diese, als rechtsnormativ anzusehenden Quellen nicht vollends die rechtspraktische Gerichtstätigkeit des Königtums widerspiegeln. Der Zusammenhang von Gerichtsstandsprivilegien und Bevölkerungszunahme, wie ihn Diestelkamp herstellt (S. 52), wäre noch kritisch zu prüfen, zumal die Adressaten der privilegia de non evocando die Herrschaftsträger im Reich waren, deren Anzahl an der Grenze zwischen 14. und 15. Jahrhundert wohl als weitgehend konstant einzuschätzen ist.

Im systematischen Teil der Arbeit (bis S. 63) fällt für das Königtum Sigismunds auf, dass Diestelkamp den älteren Band der Regesta Imperii von Wilhelm Altmann kaum verwendet5, obwohl wesentliche Aussagen der Arbeit gerade für die Zeit zwischen 1410 und 1437 eingehender zu verifizieren wären. So habe sich „die Position des Königsgerichts als eine über den Gerichten im Reich stehende Kontrollinstanz“ bis zu Kaiser Sigismund „gefestigt“ und sich eine „neue Rangordnung der Gerichte im Reich mit dem Königsgericht an der Spitze“ ausgebildet (S. 45). Richtig an Diestelkamps Beobachtung ist, dass in dieser Zeit die verschiedenen Gerichtsbarkeiten zueinander mehr und mehr in Beziehung getreten sind und damit Fragen nach sachlichen sowie räumlichen Zuständigkeiten und der vertikalen Ordnung von Gerichtsbarkeit gegenständlich wurden. Einer ausführlicheren Darlegung bedarf jedoch die prononcierte Kontrollfunktion des Königtums. Diesem verblieb zwar die Möglichkeit, Privilegien zu vergeben, in der großen Vielzahl der Konflikte war der König jedoch ganz davon abhängig, ob die Streitparteien den Weg an seinen Hof fanden und welches Ziel sie dort verfolgten. Gegenüber dem Spektrum an individuellen Entwicklungen in den zahlreichen geistlichen und weltlichen Herrschaften des Reiches verhielt sich der König passiv und reagierte meist nur auf Anliegen aus dem Reich; zugleich nahm im 14. und 15. Jahrhundert mit dem Kurfürstenkollegium und der Formierung des Reichstags die Bedeutung der Großen des Reiches an den Entscheidungsprozessen sukzessive zu.

Dass der König von den historischen Vorgängen des Reiches freilich nicht ausgeschlossen war, arbeitet Diestelkamp schließlich anhand zahlreicher Einzelfälle aus der Regentschaft Friedrichs III. heraus, indem er einige der 28 bisher erschienen Regesta Imperii-Bände6 auswertet (S. 63–139). Den für das 15. Jahrhundert typischen, um die Femegerichtsbarkeit und die kaiserlichen Landgerichte entstandenen Fragen nach Zuständigkeit und Einordnung im gerade anders funktionierenden System von Instanzen widmen sich eigene Teilkapitel. Die vielen Beispiele erscheinen als anregender Steinbruch für von der Forschung noch zu leistende Detailstudien, auf deren Grundlage dann auch eine Systematisierung und umfassende Bewertung dieser Einzelfälle möglich werden wird.

Das Verschwinden des königlichen Hofgerichts im Jahre 1451 erklärt Diestelkamp als Ergebnis seiner Grundthese. Die Königsgerichtsbarkeit als oberste Rechtsmittelinstanz im 15. Jahrhundert habe in ihrer mehrstufigen Form des nach wie vor traditionell arbeitenden Hofgerichts nicht mehr bedurft. Eine Reform desselben habe Friedrich III. also nicht mehr vornehmen müssen, sodass es abgestorben sei (S. 31, 140–145). Dies setzt voraus, dass das Hofgericht als einstufige Form der königlichen Gerichtsbarkeit den mehrstufigen Verfahren als geeignetere Alternative gewichen sei. Tatsächlich entstand durch das Rechtsmittel der Appellation eine verrechtlichte Form mehrstufiger Verfahrensführung, die von den Parteien während des 15. Jahrhunderts zunehmend mehr genutzt wurde – einstufige Verfahren im Sinne Diestelkamps blieben aber in Gebrauch, wie die Vielzahl direkter Hinwendungen an das Reichsoberhaupt ohne Appellation und die Streitentscheidungen auf Reichstagen nach dem Vorbild der Urteile cum consilio principum belegen. Das Argument, dass 72% der späteren RKG-Verfahren auf Appellationen der Streitparteien fußen (S. 62), trägt wenig zur Frage nach dem Verbleib der einstufigen Verfahren bei. Es könnte als Hypothese mithilfe landeshistorischer Befunde geprüft werden, inwieweit die Landesherren in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts durch die Reform ihrer Gerichtsbarkeit, ihren Untertanen eine regionale und sukzessive besser funktionierende Jurisdiktion boten. Diese wiederum waren derart im Instanzenzug verortet, dass das königliche Gericht von dort möglichst nur mittels der formalisierten Rechtsmittel angegangen werden konnte und sollte.

Mit dem Band von Bernhard Diestelkamp liegt der Forschung erstmals eine Rechtsmittelgeschichte des Spätmittelalters aus der Perspektive des römisch-deutschen Königtums vor. Diese schließt ganz an den seit den 1970er-Jahren forcierten, maßgeblich von den Arbeiten Weitzels getragenen Diskurs zum Rechtsmittel der Appellation an, zu welchem auch die jüngsten Studien von Peter Oestmann gehören.7 Die Monographie zeigt, wie wirkmächtig und nachhaltig die Appellation die spätmittelalterliche Gerichtsordnung beeinflusste. Die Rechts- und Verfassungsgeschichte zum spätmittelalterlichen Reich wird daher künftig diesen Befund noch stärker innerhalb der verschiedenen Formkräfte gewichten müssen.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu grundlegend Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung, Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490, Berlin 1985. In zahlreichen weiteren Veröffentlichungen des Autors wird dieser Ansatz weiter ausgebreitet, konkretisiert und mit Beispielen angereichert.
2 Jürgen Weitzel, Oralität und Literalität in der europäischen Rechtskultur: Bruch oder Übergang?, in: Heino Speer (Hrsg.), Wort – Bild – Zeichen. Beiträge zur Semiotik im Recht, Heidelberg 2012, S. 193–202.
3 Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Urkundenregesten zur Tätigkeit des deutschen Königs- und Hofgerichts bis 1451, Köln 1986ff. Gegenwärtig liegen 15 der geplanten 17 Bände bis in das Jahr 1407 vor.
4 Friedrich Battenberg, Die Gerichtsstandsprivilegien der deutschen Kaiser und Könige bis zum Jahre 1451, Köln 1986.
5 Wilhelm Altmann (Bearb.), Regesta Imperii XI. Die Urkunden Kaiser Sigmunds 1410–1437, Innsbruck 1896–1900.
6 Regesten Kaiser Friedrichs III. (1440–1493). Nach Archiven und Bibliotheken geordnet, Köln 1982ff.
7 Peter Oestmann, Rechtsverweigerung im Alten Reich, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 127 (2010), S. 51–141; Ders., Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich. Zuständigkeitsstreitigkeiten und Instanzenzüge, Köln 2012.

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