H. Kraay: Days of National Festivity in Rio de Janeiro

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Titel
Days of National Festivity in Rio de Janeiro, Brazil, 1823–1889.


Autor(en)
Kraay, Hendrik
Erschienen
Stanford, California 2013: Stanford University Press
Anzahl Seiten
576 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Haußer, Instituto de Estudios Humanísticos ‚Juan Ignacio Molina‘, Universidad de Talca

Der Nationalstaat ist keine natürliche Entität, sondern eine Konstruktion, die zunächst hergestellt und gefestigt werden muss. Erinnerungsorte und -zeremonien spielen hierbei eine besondere Rolle. Der Historiker Hendrik Kraay, ein ausgewiesener Kenner des brasilianischen Kaiserreichs, analysiert in seiner Monographie die symbolische Konstituierung des 1822 von Portugal unabhängig gewordenen Staates Brasilien im Lichte nationaler Feiertage. Zentral ist der Begriff „civic ritual“, der bei Kraay Gedenktage, Feiern, Zeremonien und monarchische Rituale wie den Handkuss umfasst. Galt die Aufmerksamkeit der Forschung bislang vor allem der brasilianischen Republik ab 1889, wendet sich Kraay dem Kaiserreich (1822–1889) zu und beleuchtet, wie nationale Feiertage in dieser Zeit etabliert, umgesetzt, aber auch diskutiert wurden. Hieraus entwickelt er eine umfangreiche Studie zur politischen Kulturgeschichte Brasiliens im 19. Jahrhundert.

Im ersten von insgesamt zehn Kapiteln (plus Einleitung und Epilog) werden die Ursprünge des bis heute begangenen Unabhängigkeits-Feiertages, dem 7. September, beschrieben. An diesem Tag soll 1822 Kronprinz Pedro (I.) am Ufer des Ipiranga-Flusses die Unabhängigkeit Brasiliens und den Bruch mit Portugal beschlossen haben. In der bis heute populären, jedoch unbelegten Version schrie Pedro die Loslösung Brasiliens vor seinen Truppen mit den Worten „Unabhängigkeit oder Tod!“ als Reaktion auf die Forderung der Lissaboner Ständeversammlung, nach Portugal zurückzukehren. Der 7. September stand zunächst in Konkurrenz zum 12. Oktober, dem Tag der Akklamation Pedros zum Kaiser, und zudem der Geburtstag des Monarchen. Daneben waren im offiziellen Kalender des Kaiserreiches noch weitere Feiertage festgelegt, an denen der Kampf um die Deutungshoheit über das, was die junge konstitutionelle Monarchie ausmachte, zum Ausdruck kam. Besondere Bedeutung hatte dabei das Verhältnis von Parlament und Kaiser.

Der Nationalfeiertag am 7. September war jedoch nicht unumstritten. In den 1830er-Jahren wurde etwa der 7. April zu einem wichtigen Datum, markierte es doch die Abdankung Pedros I., dem die Liberalen (moderados) absolutistische Tendenzen unterstellten. Die Abdankung des Kaisers und dessen Rückkehr nach Portugal wurde entsprechend von ihnen begrüßt und zu einer Art „zweiten Unabhängigkeit“ Brasiliens stilisiert. Doch selbst während der Vakanz des Thrones (1831–1840) blieben Stimmen, die für die Abschaffung der Monarchie plädierten, in der Minderheit. Die Monarchie schien – insbesondere angesichts der Autonomiebewegungen in den Provinzen, die als Bedrohung für die Einheit der Nation angesehen wurden – immer noch am besten geeignet, die Zentralmacht in Rio de Janeiro durchzusetzen. Die Thronbesteigung durch den minderjährigen Pedro II. hatte deshalb bereits im Vorfeld die Hoffnung auf zentralisierende und stabilisierende Impulse genährt. Öffentliche Geburtstagsfeiern der königlichen Familie und insbesondere der Handkuss (beija-mão) als Reverenzerweisung für den Thronanwärter stellten im Jahr 1837 wieder ein gängiges Ritual dar.

Mit der Erklärung der Volljährigkeit Pedros (II.) im Jahre 1840, die auch von Liberalen unterstützt wurde, und den aufwändig begangenen Krönungsfeiern im Jahr darauf (1841) war die brasilianische Monarchie endgültig wiederhergestellt. Bis zum Paraguaykrieg Mitte der 1860er-Jahre boten Nationalfeiertage und die Art, wie sie begangen werden sollten, kaum Anlass zum Streit. Neben Ereignissen wie Hochzeiten und Taufen in der kaiserlichen Familie beruhte der nationale Gedenkkalender auf einer Trias von Verfassung (25. März [1824, Verfassungserlass]), Unabhängigkeit (7. September [1822, Erklärung der Unabhängigkeit]) und Monarchie (2. Dezember [1825, Geburtstag Pedros II.]). Nationalfeiertage geronnen zu einer Routine, die immer weniger Begeisterung beim Militär, dem diplomatischen Korps und sogar dem Kaiser selbst hervorrief (S. 112-123). Lediglich sporadisch auftauchende Konflikte wie der Praieira-Aufstand (1848–1850) unterbrachen die Gedenkroutine.

Im besonders gründlich recherchierten fünften Kapitel zeigt Hendrik Kraay anhand der Errichtung einer Reiterstatue Pedros I. im Jahre 1862 die Bandbreite politischer Strömungen im Kaiserreich auf. Für die Konservativen war es die Bestätigung des brasilianischen Einheitsstaates unter monarchisch-konstitutionellen Vorzeichen: Pedro hielt in seiner rechten Hand die Verfassung und im Sockel waren die vier großen Flüsse Brasiliens (Amazonas, Madeira, São Francisco, Paraná) durch indigene Figuren symbolisiert. Republikanische und liberale sowie einige konservative Kritiker lehnten das Denkmal indes ab, weil es die Unabhängigkeitsbewegungen im 18. Jahrhundert beiseitelasse. Zudem schien es, da es einem portugiesischen Prinzen huldigte, kaum geeignet zu sein, die brasilianische Nation zu repräsentieren; überdies hob es die geteilte Souveränität zugunsten des Monarchen und zum Nachteil des Volkes hervor. Die Debatte um das Denkmal nahm gewissermaßen die zwei Monate später folgende Einsetzung eines gemäßigten Kabinetts unter Beteiligung der Liberalen durch Pedro II. vorweg (S. 166–177).

Gegen Ende des Kaiserreiches konstatiert der Autor im letzten und mit mehr als 40 Seiten auch längsten Kapitel ein Nachlassen monarchischer Rituale. Es gab kaum jemanden, der die Unabhängigkeit noch selbst erlebt hatte; die großen Auseinandersetzungen um die politische Ausrichtung des Staates waren entschieden und die auf dem Kontinent einmalige Regierungsform Brasiliens etabliert. Nach dem siegreich geführten Paraguaykrieg deutete dagegen das sich abzeichnende Ende der Sklaverei an, dass das Festhalten am Erreichten auch in kommemorativer und ritueller Hinsicht nicht mehr nötig war und womöglich auch nicht mehr genügen konnte. Gleichwohl konnte sich die Monarchie behaupten und gegen Ende der achtziger Jahre sogar noch an Popularität gewinnen. Mittel- und Unterschichten nahmen zunehmend am öffentlichen Leben teil, was etwa bei der Feier zur Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1888 keinem Betrachter mehr entging.

Henrik Kraays Arbeit beeindruckt vor allem durch die gründliche Analyse einer Vielzahl von heterogenen Quellen: diplomatische Berichte, Gedichte, Te Deums, Reden, Zeitungsartikel, Reiseberichte, politische Essays und Parlamentsdebatten. Nationalfeiertage nicht – wie üblich – mit der Identitätsfrage zu befrachten, sondern als Teil politischer Kontroversen zu verstehen, stellt einen originellen Zugriff dar. Dass sich die Geschichte des Kaiserreiches nur schwer als ‚Aufstieg-Höhepunkt-Fall‘-Erzählung fassen lässt und der republikanische Militärputsch weniger auf die Schwäche denn auf die Stärke und Popularität der Monarchie reagierte (S. 360), ist nur ein Beispiel. Die Argumente überzeugen, weil der Autor den historischen Zusammenhang immer präsent hält und es dadurch vermeidet, sich bloß auf der Ebene des Diskurses zu bewegen. Allerdings wäre eine intensivere Diskussion um „civic rituals“ als Erinnerungsorte – das Konzept erwähnt Kraay lediglich kurz in der Einleitung – erhellend gewesen. Möglicherweise liegt der Grund für die nur lapidare Erwähnung darin, dass die Bedeutung der politischen Institutionen und ihrer „civic rituals“, die zwischen 1822 bis 1824 in der Gründungsphase der konstitutionellen Monarchie etabliert worden waren, zwar kontrovers geführt wurden (S. 2), jedoch letztlich die Monarchie selbst (von einer kleinen Minderheit radikaler Republikaner abgesehen) nicht angetastet wurde.

Die Geschichte der brasilianischen Monarchie geht sicherlich nicht in der Diskussion über deren Gedenkfeiern auf. Kraays Verdienst liegt aber darin zu zeigen, dass im Symbolischen das Verständnis zum Ausdruck kam, das die politischen Akteure vom neu geschaffenen Staat hatten. Bedauerlich ist, dass nicht thematisiert wird, wie die Debatte um nationale Gedenkfeiern in den Regionen geführt wurde. Dies erstaunt doch ein wenig, denn erst um die Jahrhundertmitte hatte sich der Rio de Janeiro-Zentralismus auch de facto im Kaiserreich durchgesetzt. Lediglich am Schluss wird hierauf kurz eingegangen (S. 384–386).

Ungeachtet dessen leistet Kraays Arbeit einen wichtigen Forschungsbeitrag zur politischen Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen und der Monarchie im Besonderen. Dem Buch ist deshalb über den engeren Kontext der Lateinamerikaforschung hinaus eine breite Leserschaft zu wünschen.

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