T. Junggeburth: Stollwerck 1839–1932

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Titel
Stollwerck 1839–1932. Unternehmerfamilie und Familienunternehmen


Autor(en)
Junggeburth, Tanja
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 225
Erschienen
Stuttgart 2014: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
604 S.
Preis
€ 82,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Lesczenski, Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Nachdem Studien zur Geschichte des Bürgertums seit den 1980er-Jahren über rund zwei Jahrzehnte in den Bibliotheken Regalmeter um Regalmeter gefüllt haben, ist es in der Bürgertumsforschung zuletzt etwas geruhsamer zugegangen. An Argumenten, Bildungs- und Wirtschaftsbürgern in Politik, Ökonomie und Gesellschaft weiter auf der Spur zu bleiben, mangelt es freilich keineswegs. Es gibt, von einigen Aufsätzen abgesehen, immer noch viel zu wenig Abhandlungen, die zeitlich deutlich über das Ende des Ersten Weltkriegs hinausreichen und einen Bogen bis in die Bundesrepublik schlagen. Es gibt vor allem auch noch zu wenige Arbeiten, die Perspektiven der Bürgertums- und Unternehmensgeschichte miteinander verknüpfen.

Auf den reizvollen Brückenschlag lässt sich Tanja Junggeburth mit ihrer Dissertation zum Familienunternehmen Stollwerck 1839 bis 1932 ein. Damit rückt zugleich eine Unternehmensform in den Mittelpunkt, die von der Wirtschaftsgeschichte lange vernachlässigt worden war, zurzeit allerdings als Untersuchungsgegenstand immer mehr an Aufmerksamkeit gewinnt. Die Arbeit verfolgt das Ziel, das Wechselverhältnis von Familie und Unternehmen nachzuzeichnen, die familiären Prägungen der Unternehmensgeschichte über drei Generationen hinweg zu rekonstruieren und „familienunternehmerisches Handeln“ (S. 27) zu erklären. Dabei sollen drei methodische Zugänge die Verzahnung von Bürgertums- und Unternehmensgeschichte sicherstellen: Junggeburth berücksichtigt die Überlegungen von Manfred Hettling und Stefan Ludwig-Hoffmann zum „bürgerlichen Wertehimmel“, zieht die Ausführungen Pierre Bourdieus zu unterschiedlichen Kapitalformen heran und greift auf institutionentheoretische Ansätze zurück.

Die ausgesprochen umfangreichen Quellenbestände (unter anderem aus dem Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv, dem Historischen Archiv der Deutschen Bank und dem Eigentum der Familie Stollwerck) bändigt die Autorin mit einer etwas überraschenden Gliederung. Tanja Junggeburth untersucht „aus darstellungspraktischen Gründen“ (S. 39) zunächst in einem ersten Hauptteil „Die Unternehmerfamilie“ und anschließend in einem zweiten großen Block „Das Familienunternehmen“. Erst so lasse sich das „komplexe Wechselverhältnis“ zwischen der Sozialisation in einer wirtschaftsbürgerlichen Familie und der Unternehmensentwicklung analytisch erfassen. Um den eigenen Anspruch eines „integrierenden Ansatzes“ (S. 27) einzulösen, wäre es überzeugender gewesen, beide Untersuchungsebenen gerade nicht strikt zu trennen, sondern miteinander zu verschränken, zumal die eigentliche wirtschaftliche Entwicklung Stollwercks bisweilen etwas zu kurz kommt.

Auch wenn sich über die narrative Struktur streiten lässt, steht außer Frage, dass die Untersuchung zu klaren Ergebnissen kommt. Die Verfasserin geht einem eigentümergeführten Unternehmen nach, dem es immer schwerer fiel, die familiären Ressourcen und Bedürfnisse mit den geschäftlichen Interessen in Balance zu halten und dem schließlich in der dritten Generation sprichwörtlich die Luft ausging. Der Unternehmensgründer Franz Stollwerck (1815–1876) wurde entlang der normativen Vorgaben des „bürgerlichen Wertehimmels“ sozialisiert und gab auch seinen Söhne Albert Nikolaus (I), Peter Joseph, Heinrich, Ludwig und Carl jenes Set an „Fixsternen“ weiter, die Orientierungshilfen für die ‚richtige‘ wirtschaftsbürgerliche Lebensführung boten: Die hohe Wertschätzung von Arbeit, Leistung, Ehrgeiz, Pflichterfüllung und vor allem der Familie mit ihren klar definierten Rollenbildern. Die Sakralisierung des Familienverbands musste gerade in Unternehmerfamilien einen zentralen Platz einnehmen, ging es doch darum, „die Verbindung von Familie und Unternehmen zu festigen und in jedem einzelnen Familienmitglied das Gefühl zu verankern, einer überindividuellen Gemeinschaft anzugehören“ (S. 519). In der dritten Generation ging die Verbindlichkeit des Wertekanons hingegen spürbar verloren. Hedonistische Lebensstile ließen für Pflichterfüllung, Maß und Sparsamkeit nur noch wenig Raum. Überdies galt der enge Konnex zwischen Familie und Unternehmen nicht mehr als Gravitationszentrum des eigenen Lebensentwurfs. Das alles ist freilich nicht ganz neu, wird allerdings an einem konkreten Fallbeispiel aus den Quellen heraus eindrücklich beschrieben.

Ausführlich und überzeugend argumentierend widmet sich Tanja Junggeburth der bislang zu wenig beachteten Frage, wie die Nachfolge im Unternehmen – und mit ihr der Transfer von Verfügungs-, Eigentums- und Handlungsrechten von Generation zu Generation – vorbereitet und abgewickelt wird. Hier liegt zweifellos einer der Vorzüge der Arbeit. Die akribische Ausbildung der männlichen Nachfahren, die darauf angelegt war, Schlüsselqualifikationen für die Leitung des Unternehmens zu vermitteln, gehörte ebenso wie die Gesellschafts- und Privatverträge zum Bündel „proaktiver Regelungen“ (S. 529), die eine reibungslose Weitervergabe von Führungsverantwortung und Eigentum gewährleisten sollten. Lesenswert arbeitet die Autorin heraus, wie sehr bei jedem Generationswechsel Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklafften. Trotz aller Versuche, die Nachfolgeregelungen langfristig und gewissenhaft zu planen, wurde das Unternehmen stets „zum Kriegsschauplatz von teils privaten, teils geschäftlichen Differenzen“ (S. 525). Die Ängste der Väter vor einem Autoritätsverlust, ihr Unvermögen, von der Macht zu lassen und ihre Zweifel an der Kompetenz ihrer Nachkommen kollidierten mit den Autonomieansprüchen der Söhne. Falsche Entscheidungen bei Nachfolgeregelungen kamen hinzu und ließen die Familie von einem Erfolgsfaktor langsam zu einem Hemmschuh für das Geschäft werden. In der Absicht, möglichst allen Nachfahren Verantwortung im Unternehmen zu übertragen, „stellten Peter Joseph, Heinrich und Ludwig Stollwerck den Faktor Herkunft vor den Faktor Kompetenz“ (S. 549) und blendeten ferner manche Charakterschwächen ihrer Nachfahren aus.

Bei allen familiären Streitigkeiten erlebte Stollwerck bis in den Ersten Weltkrieg hinein einen nahezu kontinuierlichen Aufstieg von einer kleinen „Conditorei und Bonbon-Fabrik“ zu einem international aufgestellten Unternehmen der Schokoladenindustrie. Die Kriegsfolgen, der fortschreitende Wertewandel, ungelöste Familienstreitigkeiten und strategische Fehlentscheidungen verdichteten sich zu einer Last, die das Familienunternehmen überforderte: Vermögensverluste in Großbritannien und den USA sowie die hohe Verschuldung im Ausland setzten ihm zu. Beträchtliche Summen externen Kapitals schränkten das Eigentum der Familie am Unternehmen ein. Darüber hinaus schwächte der Tod Ludwig Stollwercks 1922 den Familienverband erheblich. Die Übernahme des Hamburger Reichhardt-Konzerns 1930 erwies sich wirtschaftlich als zu großes Abenteuer und rief die Banken im Aufsichtsrat auf den Plan. Unter Federführung von Karl Kimmich (Deutsche Bank) trieben die Kreditinstitute ein Sanierungskonzept voran, das darauf hinauslief, die Unternehmensleitung nicht mehr der Familie, sondern 1931 familienfremden Managern zu übertragen.

Die Dissertation von Tanja Junggeburth steuert zu den bisherigen Kenntnissen über das Unternehmen Stollwerck neue interessante Ergebnisse bei und lädt dazu ein, weiter über eine Verknüpfung von Bürgertums- und Unternehmensgeschichte nachzudenken, die sich etwa auch bei einer Analyse der Geschäftsmoral von Unternehmern vermutlich mit Gewinn anbringen ließe. Ob ein derartiger Ansatz über das Ende der Weimarer Zeit hinaus trägt, ist zumindest zweifelhaft. Der Erfolg oder Misserfolg von (Familien-)Unternehmen hing wohl weniger denn je von einer konsistenten bürgerlichen Lebensführung ab. Auch wenn einzelne Werte wie das Arbeits- und Leistungsethos den Alltag mitbestimmten, fehlte es nunmehr an einem homogenen, verbindlichen „Wertehimmel“ mit hoher normativer Kraft. Außer Frage stehen die hohe Bedeutung der Familie und ihrer Sozialisationsmuster gerade für eigentümergeführte Unternehmen. An der Aufgabe, die Unternehmensleitung samt den Eigentums- und Verfügungsrechten für alle Beteiligten zufriedenstellend an die nächste Generation zu übergeben, scheiterten in der Vergangenheit nicht wenige Familienunternehmen. Erkenntnisgewinne versprechen daher in erster Linie Ansätze, die familienhistorische, -soziologische, und -psychologische Theorien mit dem methodischen Rüstzeug der Unternehmensgeschichte verbinden.

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