B. Heyberger: Les chrétiens au Proche-Orient

Titel
Les chrétiens au Proche-Orient. De la compassion à la compréhension


Autor(en)
Heyberger, Bernard
Erschienen
Paris 2013: Edition Payot
Anzahl Seiten
160 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Schmoller, Fachbereich Geschichte / Zentrum zur Erforschung des Christlichen Ostens, Universität Salzburg

Die Christen in den Ländern des Nahen Ostens interessierten lange Zeit weder die wissenschaftliche Fachwelt noch die mediale Öffentlichkeit. Die Beschäftigung mit den Christen, ihren verschiedenen Konfessionen und liturgischen Traditionen beschränkte sich auf ein spezifisch christlich-europäisches Milieu, das sich auf die Suche nach den Ursprüngen des Christentums machte (S. 8). Die „Christen des Orients“, bereits der Terminus rekurriert darauf, fungierten als ideelle Projektionsfläche eigener – oftmals brüchig gewordener – Religiosität: „Ce n’est pas l’altérité qu’ils recherchent dans le christianisme oriental, mais une sorte d’accomplissement de leur propre identité et de leur propre foi“ (S. 8), heißt es dementsprechend in der Einleitung des zu rezensierenden Bandes.

Lange Zeit war die Erforschung der Christen des Nahen Ostens, ihrer Geschichte und Gegenwartslage nur eine Angelegenheit des gebildeten Klerus der orientalischen Kirchen selbst, ehemaliger westlicher Diplomaten oder etwa der Theologie, die sich vormals primär mit der präislamischen Phase des Oriens Christianus beschäftigte. Seit den 1990er-Jahren nahmen einzelne Disziplinen der Sozial- und der Geisteswissenschaften vermehrt Notiz von den christlichen Minderheiten in den Ländern des Nahen Ostens. Darunter sind in diesem Kontext Ägypten, Syrien, Libanon, Israel, Palästina, Jordanien, Irak, Iran sowie die Türkei zu verstehen. Bernard Heyberger vertritt in diesem Feld als einer der wenigen die Geschichtswissenschaft. Die jahrzehntelange Forschungserfahrung des an der École Pratique des Hautes Études in Paris lehrenden Historikers trifft nunmehr auf markant geänderte politische Realitäten und öffentliche Wahrnehmungsmuster in Bezug auf die Christen im Nahen Osten. Sie bilden den Ausgangspunkt für dieses knappe Büchlein, das problemlos während einer längeren Zugfahrt auch von Interessierten jenseits der akademischen Welt mit Gewinn gelesen werden kann.

Heyberger geht es mit seinem an der Aktualität orientierten Überblick darum, die Betrachtung der orientalischen Christen aus einem fast ausschließlich viktimologischen Blickwinkel zu problematisieren, politisch zu verorten und durch eine Perspektive zu ersetzen, die die Betroffenen als Akteure versteht, die auf politische und kulturelle Veränderungen in der Region reagierten und reagieren. Alleine die Diagnose – die für Frankreich aber auch für Länder wie Deutschland und Österreich Geltung beanspruchen kann – tut wohl: Nicht an Mitgefühl (compassion) mit den orientalischen Christen fehlt es, sondern am Verstehen (compréhension) ihrer komplexen Situation. Dieser Umstand wirft für Heyberger die Frage auf, ob es Aktivist/innen, die sich für den Schutz der Christen im Nahen Osten im Speziellen oder in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit im Allgemeinen einsetzen, heute wirklich um die Christ/inn/en geht oder diese nicht für politische Motive missbraucht werden, die im Dunstkreis von Islamophobie aufbereitet werden (S. 7–13).

Fünf kurze Kapitel reichen Heyberger, um elementare Verständnishilfen für die gegenwärtigen Innen- und Außenwahrnehmungen der orientalischen Christen bereitzustellen. Brennpunktartig arbeitet er die zentralen Fragen der historischen Identität ab, indem er jeweils unterschiedlich weit – und oft nur in kursorischem Stil – in die Epochen der Geschichte zurückgreift.

Dies gilt zunächst für den sensiblen Bereich einer Demografie des orientalischen Christentums, die als „politische Waffe“ (S. 15) von Bedeutung ist und mangels verlässlicher Zählungen je nach Interessenlage höchst divergierende Schätzungen hervorbringt. Fest steht, dass sich ihr Anteil mit Ausnahme des Libanon im einstelligen Prozentbereich bewegt, in der Türkei übersteigt er nicht einmal die Ein-Promille-Grenze. Das Zahlenwerk deutet einerseits auf einen unaufhaltbar scheinenden Niedergang des Christentums in seinen Ursprungsregionen hin, andererseits ist orientalisches Christentum heute global verbreitet und durch transnationale Gemeinschaften vernetzt und durch eine dementsprechende Mobilität geprägt. Heyberger kontextualisiert auch die Migrationsströme, um dem Kurzschluss zu entgegnen, dass der Anstieg des Islamismus der ausschließlich Push-Faktor für Auswanderung wäre. Die wirtschaftsbedingte Emigration der gebildeten Mittelschichten ist indes ein Phänomen, das in das 19. Jahrhundert zurückreicht. Das historische Panorama Heybergers zu Migrationen und demografischen Entwicklungen – nicht zuletzt durch die Massentötungen und Vertreibungen während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg dramatisch beeinflusst – ist frei von einem fatalistischen Pathos. Es führt jedoch anhand von Beispielen auch vor Augen, dass in naher Zukunft sich das Christentum des Orients auf eine présence de témoignage und damit in einen „Themenpark für westliche Touristen“ verwandeln könnte (S. 39).

Der Streifzug durch die Geschichte der konfessionellen Ausgliederung und Spaltungen im zweiten Kapitel vermittelt neben den Narrativen, die die offiziellen Kirchen zu ihrer Geschichte pflegen, auch die Einsicht, dass die orientalischen Kirchen mit ihrer verwirrenden institutionellen Vielfalt seit ihren Anfängen stets in der Rolle einer Minderheit waren. Deswegen wurde ihre Dauerhaftigkeit nicht durch territoriale und politische Rahmenbedingungen begünstigt, und sie agierten somit unter ganz anderen Vorzeichen als die Kirchen im Westen. Heyberger verweist auch darauf, dass die interkonfessionellen Rivalitäten historisch weitaus stärker ausgeprägt waren als jene zum Islam.

Im dritten („État et Nation“) und vierten („Millet et citoyenneté“) Kapitel beschäftigt sich Heyberger mit dem Verhältnis der Kirchenhierarchien zu den politischen Machthabern und geht damit auch auf die Rolle der Kirchen im Ägypten des „arabischen Frühlings“ und im Bürgerkrieg in Syrien ein. Auch hier sind die von Heyberger aufgezeigten Entwicklungslinien und Differenzierungen für das Verständnis des aktuellen Geschehens hilfreich. Dies gilt etwa für das religiöse Wiedererstarken der Kopten Ägyptens unter den Patriarchen Kyrill VI. und Shenuda III., das an eine innerägyptischer Isolation und Autoritarisierung der Kirchenführung gekoppelt war. Die Allianz zwischen Shenuda und dem Langzeitpräsidenten Hosni Mubarak stieß bereits vor dem arabischen Frühling auf innerkoptischen Widerstand. Das starre Festhalten an Mubarak in der Umbruchphase verstärkte diesen (S. 96–101).

Die innerreligiöse Macht der Kirchenführung basiert auch auf dem in osmanischer Reform-Zeit eingeführten Millet-System, das in bestimmten Bereichen bis heute weiterexistiert. Die Persönlichkeitsrechte (vor allem Ehe-, Familien- und Erbrechte) werden so innerhalb jeder der großen religiösen Gruppen nach den spezifischen Traditionen geregelt. Damit scheint ein allgemeines Zivilrecht außer Reichweite. Heyberger sieht darin auch ein Hindernis für die individuelle Gewissensfreiheit und das Prinzip der citoyenneté, (S. 119) ohne sich dabei als besserwisserischer Europäer aufzuspielen. Ihm geht es darum, die Verzerrungen aufzuzeigen, die entstehen, wenn monolithisch aus der Opferperspektive das Christentum gegenüber einem auf der Scharia gestützten Islam als Freiheitsreligion stilisiert wird, die zum Beispiel frei von einer Diskriminierung der Frauen wäre. Am weitesten scheint diesbezüglich noch der Libanon, doch auch dort sind die langwierigen Kämpfe um die Einführung einer Zivilehe bislang gescheitert.

Im letzten Abschnitt nimmt Heyberger die Religionspraxis in den Blick und kontrastiert diese mit den Essenzialismen von Kirchenführern oder Orientalisten, die auf die jeweils spezifischen Wurzeln pochen. An Kult- und Pilgerorten, Ritualen und Bräuchen zeigt sich auch ein synkretistisches Miteinander der Religionen, das sich vor allem im ruralen Bereich teils bis heute bewahrt hat, wenngleich diese geteilten Praktiken theologisch unterschiedlich aufgeladen werden können: als harmonisierendes Miteinander oder als kompetitives Nebeneinander verschiedener Glaubenssysteme (S. 143).

Dem Buch mögen kritische Leser/innen all das vorwerfen, was sie vermutlich jedem Buch vorwerfen können, das auf wenigen Seiten ein hochkomplexes und mit Emotionen besetztes Thema behandelt: nämlich dass vieles nur in Grundlinien dargelegt oder überhaupt ausgespart wird und Quellen- und Literaturverweise häufig fehlen. Demgegenüber kann man Heyberger attestieren, dass er exakt jene historischen Betrachtungen anstellt, die den Nerv der aktuellen Diskursgeflechte in Orient wie Okzident treffen, und dazu auffordert, die Rolle der Christen im und aus dem Nahen Osten neu zu denken. Es geht letztlich nicht darum, ihr derzeitiges Schicksal zu ignorieren, sondern um ein globales Verstehen ihrer unterschiedlichen Existenzformen in den jeweiligen historischen Kontexten. Mit einem Buch dieses Formats ist den Betroffenen mitunter mehr gedient als mit den unzähligen alarmistischen, den Untergang der „Christen des Orients“ heraufbeschwörenden Buchtiteln.

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