Vertrauen – Theorie und Geschichte

Baberowski, Jörg (Hrsg.): Was ist Vertrauen?. Ein interdisziplinäres Gespräch. Frankfurt am Main 2014 : Campus Verlag, ISBN 978-3-593-50062-1 154 S. € 29,90

: Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne. München 2013 : C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-65609-5 259 S., 28 SW-Abb. € 17,95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manuel Schramm, Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz

„Vertrauen“ genießt seit einigen Jahren eine auffällige Konjunktur – sowohl in der Alltagssprache, in der nicht erst seit der Finanzkrise permanent um Vertrauen geworben wird, als auch in den Wissenschaften, wo sich Vertreter verschiedener Disziplinen darum bemühen, das Phänomen einzugrenzen, zu definieren und empirisch fassbar zu machen. Diese Vorliebe für einen keineswegs neuen Begriff hat offenbar unterschiedliche Gründe und Ausdrucksformen. So gibt es zum einen die Propheten des Niedergangs, die für die Gegenwart eine schwere Vertrauenskrise diagnostizieren und meinen, Vorschläge für ihre Überwindung machen zu müssen. Ein Hauptexponent dieser Richtung ist der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Putnam, der mit „Bowling Alone“ einen modernen Klassiker zum Thema veröffentlichte.1 Darin stellte er die These auf, das „Sozialkapital“ der US-amerikanischen Gesellschaft als Ganzes sei ab 1950 dramatisch zurückgegangen, was sich unter anderem im Niedergang der Bowling-Vereine manifestiere.

In den Wirtschaftswissenschaften steht das Interesse an Vertrauen eher in einem Zusammenhang mit dem Aufschwung der Neuen Institutionenökonomie, die Vertrauen als einen möglichen Mechanismus begreift, um Transaktionskosten zu senken und damit Beziehungen zu ermöglichen, die sonst als zu riskant gelten würden.2 Vertrauen erscheint hier vor allem als Begriff, der bestimmte fachinterne Probleme der neo-klassischen Theorie lösen soll. In der deutschen Geschichtswissenschaft schließlich erwuchs das Interesse an Vertrauen im Allgemeinen aus der kulturalistischen Wende und im Besonderen aus der Geschichte der Emotionen. Vertrauen wurde hier, vor allem in Ute Freverts Arbeiten, weniger funktional als Mechanismus zur Reduktion von Transaktionskosten gesehen, sondern als eine scheinbar anthropologisch konstante, in Wahrheit aber historisch veränderliche Emotion wie Liebe, Hass, Angst und viele andere mehr.3

Die gemeinsame Konjunktur des Vertrauensbegriffs bei unterschiedlichen Zugängen lässt in der Tat ein „interdisziplinäres Gespräch“ als reizvoll erscheinen, und gespannt greift der Leser zu dem von dem renommierten Osteuropahistoriker Jörg Baberowski herausgegebenen Sammelband. Leider entpuppt sich der Untertitel schnell als irreführend. Zum einen handelt es sich nicht um ein Gespräch, sondern um eine Sammlung von Vorträgen; zum anderen ist die Interdisziplinarität doch etwas eingeschränkt: Vier Vorträgen aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive folgt jeweils einer aus den Rechts- und Politikwissenschaften. Andere Disziplinen, die zu dem Begriff wichtige Arbeiten geleistet haben, bleiben unberücksichtigt – wie die Philosophie, die Wirtschaftswissenschaften oder die Soziologie. Überwindet man jedoch die erste Enttäuschung, so bietet der Band durchaus einige Anregungen zum Nachdenken, gerade weil die Beiträger sich in zentralen Punkten nicht unbedingt einig sind.

Baberowski gibt einen allgemein gehaltenen Überblick über die soziologischen Theorien zum Thema. Er unterscheidet zwischen dem vormodernen konkreten Vertrauen in Personen und dem modernen abstrakten Regelvertrauen. Vertrauen erscheint hier als eine zentrale Kategorie, als „Grund, auf dem die Unsterblichkeit der Welt ruht“ (S. 29). Der Beitrag enthält für Experten wenig Neues, mag aber als theoriegesättigter Einstieg empfehlenswert sein. Leider vergisst Baberowski zu erwähnen, dass es sich bei der doch recht schematischen Unterscheidung zwischen modernem und vormodernem Vertrauen lediglich um mehr oder weniger plausible Modellannahmen handelt und nicht um empirisch abgesicherte Ergebnisse. Ute Frevert wirft in ihrem Beitrag einen historisch-kritischen Blick auf die gegenwärtige Konjunktur der Vertrauenssemantik. Der Vertrauensbegriff wurde im 18. und 19. Jahrhundert stark moralisch aufgeladen. Zwar verblasste der moralische Begriffsinhalt im 20. Jahrhundert, ist aber als Erinnerung immer noch vorhanden und wird von unterschiedlichen Akteuren mit unterschiedlichen Interessen benutzt („V-Waffe“). Als Augenwischerei bezeichnet es Frevert – im Kontrast zu Baberowski –, dass der Begriff von Personen häufig umstandslos auf Institutionen übertragen wird. Das Vertrauen in Institutionen sei kein wirkliches Vertrauen, sondern eher ein Sich-Darauf-Verlassen. Methodisch plädiert Frevert für eine Historische Semantik des Vertrauens, da eine „Realgeschichte“ aus methodischen und Quellengründen unmöglich sei.

So gesehen ist Thomas Welskopps Beitrag ein Versuch, das Unmögliche möglich zu machen. Er versucht aus einer „praxistheoretischen“ Perspektive, Vertrauen in situ und in actu, also bei der Arbeit aufzusuchen. Dazu präsentiert er drei sehr unterschiedliche Beispiele: das Vertrauen der Arbeiter eines Stahlwerks untereinander während des Arbeitsprozesses, das Selbstvertrauen von Rednern in sozialdemokratischen Versammlungen und Vertrauen in Netzwerken an der Grenze der Legalität während der amerikanischen Prohibitionszeit. Welskopp kann überzeugend darlegen, dass Vertrauen auch und gerade dort eine wichtige Rolle spielt, wo es nicht explizit thematisiert wird. Zudem zeigt sich in den Beispielen, dass personelles Vertrauen auch in der Moderne dauerhafter und belastbarer war (und ist) als anonymes Regelvertrauen. Jakob Tanner widmet sich in seinem Beitrag dem Vertrauen an den Finanzmärkten, das dort ebenso häufig beschworen wie enttäuscht wird. Ähnlich wie Frevert sieht Tanner Vertrauen als „Catch-all-Term“ (S. 98) und lehnt es ab, darüber nachzudenken, was Vertrauen eigentlich sei. Seine diskurstheoretische Modellierung fasst Vertrauen vielmehr als diskontinuierliches Momentum, das zyklisch in Misstrauen umschlägt, dann als Vertrauen zurückkehrt und damit die Abfolge von Prosperitätsphasen und Krisenlagen am Laufen hält.

Diese überwiegend skeptische Haltung gegenüber dem Vertrauensbegriff wird interessanterweise von den Beiträgern der anderen Disziplinen nicht geteilt. Ann-Katrin Kaufhold referiert in ihrem Aufsatz den Stand der Diskussion in der Rechtswissenschaft. Recht und Vertrauen werden dabei nicht als einander ausschließende Kategorien angesehen; vielmehr bedarf das Recht zu seiner Durchsetzung des Vertrauens. Letzteres kann Voraussetzung, Gegenstand und Inhalt des Rechts sein. Kaufhold demonstriert das am Beispiel der justiziellen Zusammenarbeit in der Europäischen Union, die ohne wechselseitiges Vertrauen in die Gleichwertigkeit der Rechtsordnungen und Rechtsanwendungen nicht funktionieren könnte. Gleichzeitig versucht der Europäische Gerichtshof, eine vertrauensgenerierende Dogmatik zu entwickeln, die das Maß des nötigen Vertrauens begrenzt. Aber solange der europäische Rechtsraum nicht vollständig harmonisiert ist, wird wechselseitiges Vertrauen einen zentralen Platz einnehmen. Der Politikwissenschaftler Thomas Risse schließlich richtet als einziger Beiträger den Blick auf außer-europäische Gesellschaften und untersucht „Vertrauen in Räumen begrenzter Staatlichkeit“. Ähnlich wie Kaufhold argumentiert Risse, dass Vertrauen eine zentrale Ressource für den Aufbau stabiler Ordnungen sein kann. Sein Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Frage, wie in Abwesenheit funktionierender formalisierter Institutionen generalisiertes Vertrauen geschaffen werden kann. Er sieht dabei im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: die Ausweitung persönlichen Vertrauens über „Schneeball-Effekte“ (S. 144) oder durch informelle Institutionen als funktionales Äquivalent. Allerdings erkennt er die Gefahr, dass die soziale Exklusion durch ethnisierte Identifikationsprozesse eher zu- als abnimmt.

Der Band bietet interessante Perspektiven auf ein faszinierendes Thema. Dass er ein wenig heterogen wirkt, liegt einerseits an der unterschiedlichen disziplinären Verankerung der Autoren, andererseits am Diskussionsstand, der eben immer noch keine einheitliche Verwendung des Vertrauensbegriffs produziert hat. Es wäre zu wünschen gewesen, dass die Autoren stärker aufeinander eingehen, also in ein wirkliches Gespräch miteinander treten. So bleibt es doch bei einem gewissen Spannungsverhältnis zwischen denjenigen, die den Begriff als zu vage einschätzen und ihn deshalb nur diskursanalytisch fassen wollen, und denjenigen, die Vertrauen jenseits aller Semantik für eine unverzichtbare gesellschaftliche Ressource halten.

Zu den ersteren gehört ohne Zweifel die Historikerin Ute Frevert, die das Vertrauen in ihrer Monographie als „Obsession der Moderne“ bezeichnet. Das Buch gliedert sich neben Einleitung und Schluss in fünf Hauptabschnitte, die neben dem lexikalischen Wandel die Historische Semantik des Vertrauens in den Bereichen der Liebe, der Freundschaft, Kameradschaft und Pädagogik, der Wirtschaft und schließlich der Politik untersuchen. In der Einleitung definiert die Autorin Vertrauen als Gefühlshaltung oder affektive Einstellung, die sich nicht vollständig rational erklären lasse. Als „Obsession der Moderne“ erscheint diese Disposition, da sie seit dem späten 18. Jahrhundert zunehmend zu einem „Leitmotiv sozialen Handelns“ geworden und ins „Zentrum individueller und kollektiver Selbstbeschreibungen“ gerückt sei (S. 24). Vertrauen, so die Grundthese des Buches, sei eine moderne Erscheinung, deren Konjunktur ihren Höhepunkt im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erreicht habe. Heute werde der Begriff so inflationär gebraucht, dass seine Konturen zu verschwimmen drohten. Diese Grundthese wird mit Hilfe einer historisch-semantischen Analyse für verschiedene gesellschaftliche Bereiche durchexerziert.

Der lexikalische Befund zeigt, dass Vertrauen seit dem 18. Jahrhundert nicht nur säkularisiert, sondern auch zunehmend positiv aufgeladen wurde und sich auf immer entferntere Personenkreise richtete, also nicht mehr nur auf Freunde und Familie, sondern auch auf das Verhältnis zwischen Arzt und Patient, Unternehmer und Arbeiter etc. Im Bereich der Liebe war der Aufschwung des Vertrauens an das bürgerliche Liebesideal der Romantik gebunden, das eine Verschmelzung der Seelen propagierte. Es bleibt nach Frevert bis heute aktuell, auch im Zeitalter hoher Scheidungsraten und Online-Partnerbörsen, da das Ziel der Suche in der Regel immer noch die romantische Liebesbeziehung ist. Das Kapitel über Freundschaft, Kameradschaft und pädagogisches Vertrauen spricht zu viele Themen an, um an dieser Stelle adäquat zusammengefasst werden zu können. Hier macht sich die gedrängte Darstellungsweise negativ bemerkbar. Auf weniger als 30 Seiten wird eine Vielzahl von Themen abgehandelt – wie eben Freundschaft, Vertrauen in bündischen Gemeinschaften, Kameradschaft, Vertrauen im pädagogischen Diskurs bis hin zum sexuellen Missbrauch von Kindern. Der rote Faden geht hier allzu leicht verloren. Gelungener sind die beiden verbleibenden Kapitel über Wirtschaft (mit den Schwerpunkten Kredit, Vertrauensmänner und -räte sowie Werbung) und Politik (mit der wichtigen Unterscheidung zwischen Treue und Vertrauen). Für das politische Feld sieht Frevert die Gefahr der moralischen Überlastung, da durch das inflationäre Werben um Vertrauen Erwartungen geweckt würden, die die Politik häufig gar nicht erfüllen könne. Am Ende kommt Frevert auf die Frage zurück, ob persönliches Vertrauen in der Moderne tatsächlich durch Systemvertrauen ersetzt worden sei. Ihre Antwort lautet: ja und nein. Vertrauen blieb zwar einerseits an konkrete Personen gebunden (zum Beispiel in der Politik); andererseits wurde es zunehmend an Funktionen, Kompetenzen und objektivierbare Leistungen gekoppelt.

Insgesamt handelt es sich um ein anregendes Buch, das alle diejenigen zur Kenntnis nehmen sollten, die mit dem Vertrauensbegriff operieren. Natürlich hat der von Frevert gewählte Ansatz auch Grenzen. Das Buch widmet sich vorrangig der Historischen Semantik im deutschsprachigen Raum seit dem 18. Jahrhundert. Die von Welskopp angesprochenen Phänomene wie Vertrauen im Arbeitsprozess oder in kriminellen Netzwerken werden infolge der Konzentration auf die Semantik nicht angesprochen. Trotz dieser nachvollziehbaren Beschränkungen wirkt das Buch stellenweise immer noch sehr gedrängt, was zeigt, wie facettenreich das Thema ist. Der Band ist angenehm zu lesen und argumentiert erfreulich unaufgeregt, im Gegensatz zu manchen alarmistischen Darstellungen über angebliche Vertrauenskrisen.

Anmerkungen:
1 Robert Putnam, Bowling Alone. America’s Declining Social Capital, in: Journal of Democracy 6 (1995), S. 65–78; ders., Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community, New York 2000.
2 Friedrich Sell, Vertrauen. Auch eine ökonomische Kategorie, in: Gerold Blümle u.a. (Hrsg.), Perspektiven einer kulturellen Ökonomik, Münster 2004, S. 399–410; Rudolf Richter / Eirik G. Furubotn, Neue Institutionenökonomik. Eine Einführung und kritische Würdigung, 3. Aufl. Tübingen 2003, S. 28.
3 Vgl. Ute Frevert (Hrsg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003; siehe dazu die Rezension von Ralf Stremmel, in: H-Soz-u-Kult, 13.01.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=6335> (17.05.2014).

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