H. Ahlheim (Hrsg.): Kontrollgewinn – Kontrollverlust

Cover
Titel
Kontrollgewinn – Kontrollverlust. Die Geschichte des Schlafs in der Moderne


Herausgeber
Ahlheim, Hannah
Erschienen
Frankfurt am Main 2014: Campus Verlag
Anzahl Seiten
229 S., 4 SW-Abb.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franziska Rehlinghaus, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Dass der Schlaf, der rund ein Drittel eines jeden menschlichen Lebens einnimmt, in der Neuzeit zum Objekt gouvernementaler Praktiken geworden ist, mag kaum verwundern. Erstaunlicherweise hat sich die deutsche Geschichtswissenschaft dem historischen Wandel des Schlafs allerdings erst in jüngster Zeit gewidmet. Hannah Ahlheim hat nun einen Sammelband vorgelegt, der den Schlaf in der Neuzeit gleichermaßen als Objekt und Subjekt von Herrschaft entdeckt. Damit fügt sie den zahlreichen Forschungen zu modernen Subjektivierungsprozessen im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdregierung einen weiteren Baustein hinzu. Der Schlaf zeichnet sich jedoch durch eine Eigenschaft aus, die in den bisherigen Untersuchungsobjekten der Governmentality Studies zwar vielfach eingefordert wurde, aber erst mühsam gesucht werden musste: In seiner Unausweichlichkeit und Unhintergehbarkeit ist er von sich aus widerständig und eigensinnig. Deshalb scheiterten Rationalisierungsbemühungen immer wieder an der Natur des Schlafs, selbst wenn sie sich modernster Regierungstechniken bedienten.

Ahlheim erläutert diese „Ambivalenz des Schlafens“ in einem gut durchdachten Einführungsbeitrag als einen dialektischen Prozess, in dem die permanente Erfahrung des Kontrollverlusts im Schlaf Versuche seiner Beherrschung provozierte, und das von zwei Seiten: Einerseits verweist sie auf die modernen Wissenschaften, die mit der Erforschung des Schlafs zugleich die Disziplinierung des Individuums verbanden. Andererseits verhieß der Versuch, den Schlaf individuell zu steuern, auch immer wieder Wege der Befreiung von der eigenen Körperlichkeit und von der Herrschaft des Unbewussten. Dieses merkwürdige Verhältnis von Determination und Freiheit fand sich ebenso für den Schlaf, dem man sich bewusst hingab, gerade um den Kontrollverlust zur Quelle der Emanzipation von gesellschaftlichen Erfordernissen und eigenen Zwängen werden zu lassen (S. 14f.). Alle Texte – für einen Sammelband fast ungewöhnlich – setzen sich mit dieser programmatisch formulierten Ambivalenz des Schlaf(en)s auseinander.

Der Band ist chronologisch gegliedert und deckt einen Untersuchungszeitraum von der Aufklärung bis ins 21. Jahrhundert ab. Die Beiträge nähern sich dem Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven: Neben literaturwissenschaftlichen Einzelstudien, die sich der Verarbeitung des Schlafs in fiktionalen Werken widmen (Marie Guthmüller, Benjamin Reiss, Hans-Walter Schmidt-Hannisa und Ingo Uhlig), stehen ideen- und wissenschaftshistorische Aufsätze, die historische Diskurse über den Schlaf rekonstruieren (Sonja Kinzler, Philipp Osten) oder den Schlaf aus einer praxeologischen und körpergeschichtlichen Perspektive betrachten (Matthew Wolf-Meyer, Hannah Ahlheim).

Diejenigen Beiträge, die sich mit dem Schlaf seit dem späten 18. und im 19. Jahrhundert beschäftigen, kommen zu recht ähnlichen Periodisierungen und Ergebnissen. In philosophischen, literarischen oder wissenschaftlichen Quellentexten wandelte sich das Verhältnis der Gesellschaft zum Schlaf analog zu den gängigen epochenspezifischen Zäsuren. Der Übergang von der Aufklärung zur Romantik, der Aufstieg der Naturwissenschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts und das Fin de Siècle um 1900 bilden für mehrere Autoren die zentralen analytischen Fluchtpunkte. Hier ließe sich fragen, ob die Kontextualisierung des Schlafs in die etablierten Narrative nicht den Blick für eine eigene Zeitlichkeit der Geschichte des Schlafs verstellt.

Kinzler und Schmidt-Hannisa stellen gleichermaßen fest, dass die Gesellschaft der Aufklärung den Schlaf zwar an physiologische und dabei mechanistisch verstandene Vorgänge zurückband, sich gleichzeitig jedoch darum bemühte, den Schlaf der Kontrolle des Individuums zu unterstellen. Mäßigung und Selbstdisziplin im Wachzustand, so die zeitgenössische Annahme, vermochten Auswege aus der Unmündigkeit im Schlaf aufzuzeigen. Über eine Art „Vorstellungshygiene“ (Schmidt-Hannisa, S. 58) könne der menschliche Wille nicht nur den Prozess des Einschlafens steuern, sondern auch die Inhalte von Träumen.

Dass die Romantik dieser aufgeklärten Angst vor dem Kontrollverlust eine neue Lust am Schlaf als inspirierender Grenzerfahrung entgegensetzte, ist nicht weiter erstaunlich. Bemerkenswert ist jedoch, wie sich der Übergang vollzog. Ingo Uhlig gelingt es durch die Analyse literarischer Werke um 1800, das Bild einer an sich selbst ermüdeten Epoche zu zeichnen. In Theaterstücken und Romanen flüchten sich die alternden Protagonisten resigniert in einen traumlosen Schlaf, um dem Diktat einer finalen Zweckrationalität und der Last des freien Willens zu entkommen. Uhlig deutet den Verweis auf den Schlaf scharfsinnig als eine Metapher für die an den eigenen Ansprüchen gescheiterte Aufklärung. Damit wurde der Schlaf zu einem Sehnsuchtsort, der dem Tod näher stand als dem Leben.

Die kommende Generation wertete diese Sehnsucht um. Die jungen Träumenden der Romantik verzichteten auf jede finale Sinngebung ihres Denkens und Handels; so meinten sie durch den Traum eine geniale künstlerische Produktivität entwickeln zu können. Die Einbettung des Schlafs „in den Gesamtorganismus von Natur und Kosmos“ (Kinzler, S. 33) machte den Menschen zu einem Wandler zwischen den Welten von Innen und Außen. Die Kraft der Phantasie offenbarte sich in „Halbschlafbildern“ und im Traum als einem kaum steuerbaren Naturgesetz. Schmidt-Hannisa zeigt für die Folgezeit bis 1900, wie der Übergang vom Wachen in den Schlaf im ästhetisch-literarischen Diskurs als inspirierender Kontrollverlust künstlerischen Schaffens funktionalisiert und damit wieder eingehegt wurde. Die Ohnmacht im Schlaf wurde in eine kreative Macht verwandelt. Leider bleibt der Autor dabei die Antwort auf die Frage schuldig, welche gesellschaftlichen Faktoren diese Umdeutung des Schlafs letztlich bedingt und hervorgebracht haben. Besser gelingt die Verbindung von „Real-“ und Schlafgeschichte bei Reiss und Guthmüller, die in den literarischen Werken von Henry David Thoreau (1817–1862) und Italo Svevo (1861–1928) Auseinandersetzungen mit zeitspezifischen gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen und medizinischen Schlafdiskursen entdecken.

Die Frage nach Kontrollgewinn oder Kontrollverlust erhält in Wolf-Meyers und Ahlheims Analysen amerikanischer Schlafexperimente im 20. Jahrhundert eine neue Qualität. Beide beschreiben sehr überzeugend, dass das moderne Wissen über den Schlaf sich aus Untersuchungen speiste, die sich dem Zustand der Schlaflosigkeit widmeten. Experimente mit Schlafentzug unterlagen zunächst Produktivitätsparadigmen, die der industriellen Arbeitswelt und militärischen Interessen entsprungen waren. Hier ging es um Utopien einer unbegrenzten Leistungsfähigkeit des wachen Menschen, die jedoch sehr bald revidiert werden mussten. Die Experimente zeigten stattdessen, dass Wachen und Schlafen eine fluide Grenze aufwiesen, was auch die herkömmlichen Definitionen von Gesundheit und Krankheit ins Wanken brachte, und dass der Schlaf sich in verschiedene Phasen gliederte, die sämtlich für die Regeneration des Menschen notwendig waren. Dass aus diesen Erkenntnissen neue Begehrlichkeiten erwuchsen, die in der Etablierung des Schlafentzugs als Folterinstrument kulminierten, verweist auf eine weitere Dimension der Fremdbeherrschung. Die interessante Frage, ob der Schlaf im 20. Jahrhundert umgekehrt nicht auch als Mittel zur Wiedererlangung von Kontrolle über das eigene Ich hätte interpretiert werden können, erwähnen beide Autoren leider nur am Rande. Aus dieser Perspektive hätten die Experimente den Schlaf nicht nur als einen körperlichen und seelischen Zustand identifiziert, der sich dem menschlichen Zugriff entzog, sondern ihn vielmehr als die unverzichtbare Vorbedingung und Möglichkeit menschlicher Autonomie neuentdeckt.

Im Schlussbeitrag zeigt der Mediziner Thomas Penzel einerseits auf, wie sehr sich das Bedürfnis nach dem „gesunden“ Schlaf in der heutigen Gesellschaft an den Erfordernissen der Leistungsgesellschaft orientiert. Andererseits beschreibt er die zunehmende Thematisierung, Technisierung und Kontrollierbarkeit des Schlafs als klare Erfolgsgeschichte. Die wissenschaftliche Durchdringung des Phänomens wird als Dienst am Menschen dargestellt. Die Ambivalenzen dieses Prozesses diskutiert Penzel ebensowenig wie Seitenwege, Sackgassen und Rückschläge der medizinischen Schlafforschung. Hier hätte man sich eine größere analytische Tiefenschärfe gewünscht.

Insgesamt macht der Band dennoch deutlich, dass die Vorstellungen, die sich in der Neuzeit um den Schlaf rankten, dem Interesse am Wesen und an der Lebensgestaltung der Wachenden entsprungen waren. Der Schlaf wird in den behandelten ästhetischen, wissenschaftlichen, politischen oder militärischen Diskursen als großes Experimentierfeld der Moderne kenntlich. Er besitzt dabei eine Spiegelfunktion für gesellschaftliche Problemlagen und soziale Verhältnisse. So erfährt der Leser durch das Medium des Schlafs nicht nur etwas über Kontrollgewinn und Kontrollverlust, sondern Essentielles über das historisch wandelbare Verhältnis von Anlage und Umwelt, Freiheit und Determination, Körper und Geist, Wissenschaft und Öffentlichkeit. In dieser Hinsicht hat der Schlaf, auf den ersten Blick eine anthropologische Konstante, tatsächlich eine (moderne) Geschichte.

Einer Gefahr vermag der Band bei allen Leistungen trotzdem nicht zu entgehen: In der Zusammenstellung und Chronologie der Beiträge schimmert die von Ahlheim in der Einleitung vehement abgelehnte These einer zunehmenden Rationalisierung des Schlafs immer wieder durch. Für das 19. Jahrhundert scheinen ästhetisch-literarische Debatten zu dominieren, während der Schlaf für das 20. Jahrhundert nur noch im Modus wissenschaftlicher Kontrollversuche thematisiert wird. Dieses Ungleichgewicht müsste durch weitergehende Studien geprüft und eventuell korrigiert werden, die über breitere Vergleiche Kontinuitäten und Brüche des modernen Schlafs tatsächlich systematisch und möglichst auch für nichtwestliche Kulturräume erfassen könnten. Man darf gespannt sein, was die Historiographie des Schlafs in Zukunft noch herausfinden wird.