E. Hebeisen u.a. (Hrsg.): Kriegs- und Krisenzeit

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Titel
Kriegs- und Krisenzeit. Zürich während des Ersten Weltkriegs


Herausgeber
Hebeisen, Erika; Niederhäuser, Peter; Schmid, Regula
Reihe
Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 81
Erschienen
Zürich 2014: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
239 S.
Preis
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Anja Huber, Universität Bern

Am 1. August 1914 brach der Erste Weltkrieg aus und beendete das „lange 19. Jahrhundert“ (E. Hobsbawm). Obwohl die neutrale Schweiz sich nicht an den Kampfhandlungen beteiligte, war das Land vom Krieg und seinen Auswirkungen betroffen. Die militärdienstpflichtigen Männer wurden zum Aktivdienst eingezogen, die Bevölkerung litt unter Versorgungsschwierigkeiten und es kam zu sozialen Unruhen. Die Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg ist bis anhin noch wenig erforscht worden; insbesondere die kantonale Perspektive, die den Blick auf regionale Entwicklungen und den Kriegsalltag der Bevölkerung legt, wurde bisher vernachlässigt.1

Das aktuelle Neujahrsblatt der Antiquarischen Gesellschaft Zürich nimmt den hundertsten Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges zum Anlass, die vielfältigen Auswirkungen des Krieges auf den Kanton Zürich zu thematisieren. Die 18 Beiträge werfen einen regionalgeschichtlichen Blick auf Wirtschaft, Alltag, Militär und Kultur sowie auf das Gedenken an die Kriegsjahre. Das Ziel der Herausgebenden ist es „einen ersten Eindruck dieser vielstimmigen und vielgestaltigen Geschichte“ (S. 9) zu vermitteln. Dazu gliedert sich das Buch nach einem Einleitungsteil in vier thematisch orientierte Kapitel: Krieg und Wirtschaft, Krieg und Alltag, Krieg und Kultur, Krieg und Klassenkampf. Ein kürzerer Abschnitt über „Konsequenzen und Erinnerungen“ schliesst den Sammelband ab.

Der erste Abschnitt konzentriert sich auf die wirtschaftlichen Folgen des Krieges für die Bevölkerung, insbesondere die Arbeiterschaft, und die Unternehmen im Kanton Zürich. Tobias Straumann arbeitet in seinem Beitrag den Widerspruch zwischen dem guten Geschäftsgang und der bedrückten Stimmungslage innerhalb der Unternehmensleitung als typisch für das Unternehmerverhalten im Krieg heraus. So hätten die Unternehmen nicht aus einer Position der Stärke die Forderungen der Gewerkschaften nach Lohnanpassungen zurückgewiesen, sondern aus Überforderung eine vorsichtige Finanzpolitik betrieben. Straumann statuiert, dass die Forschungsergebnisse der Unternehmergeschichte im Ersten Weltkrieg damit auch Folgen für die Interpretation des Landesstreiks von 1918 hätten, den er mehr als „Unfall“ interpretiert und „weniger als Kulminationspunkt eines lange währenden Klassenkampfes zwischen Kapital und Arbeit, wie die Forschung bisher postuliert hat.“ (S. 30) Diese Ansicht scheint angesichts der deutlichen Zunahme der Streikaktivitäten im Verlauf des Krieges etwas verkürzt und einseitig zu sein.

Ein sehr interessanter Beitrag ist Adrian Knoepfli zur Stadt Winterthur gelungen. Auf Basis einer fundierten Quellenforschung zeigt er die vielgestaltigen Anstrengungen einer Stadt auf, die Bevölkerung während den Kriegsjahren mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen zu versorgen. Gerade die städtische Förderung der Kaninchenhaltung, die einem grösseren Bevölkerungskreis ein günstiges Stück Fleisch oder eine Nebeneinnahme ermöglichte, konnte als Erfolg bezeichnet werden. In Knoepflis Beitrag wird veranschaulicht, dass der Umgang mit der Kriegssituation die Schaffung zahlreicher neuer Ämter und Kommissionen nötig machte und die grundsätzliche Zentralisierung der städtischen Verwaltung vorantrieb.

Der zweite Abschnitt des Sammelbands widmet sich dem Alltagsleben im Krieg. Die Beiträge konzentrieren sich nicht nur auf die Stadt, sondern auch auf ländliche Regionen des Kantons wie das Zürcher Oberland oder die Grenzgemeinde Rafz. Thomas Neukom beschreibt die Situation an der Landesgrenze in Rafz, die insbesondere durch den Schwarzhandel geprägt war. Interessant ist hier vor allem der Blick auf die Entwicklungen während der Nachkriegszeit, in der die Grenzkontrolle aus Angst vor der Einwanderung von Leuten „zweifelhafter Existenz“ (S. 96f.) verstärkt und auch in Rafz eine Bürgerwehr organisiert wurde. In Neukoms Beitrag wird die diffuse und zugleich ausgeprägte Angst vor dem Bolschewismus und einem sozialistischen Umsturz deutlich, welche die bürgerliche Schweiz seit der Oktober Revolution in Russland 1917 prägte und durch die Erfahrungen im Landesstreik von 1918 verstärkt wurde. Zwei weitere Beiträge beschäftigen sich mit dem humanitären Engagement im Kanton Zürich, der Ermittlungsstelle für Vermisste in Winterthur sowie der Internierung verletzter Soldaten und Offiziere der kriegführenden Nationen in der Schweiz.

Der dritte Abschnitt ist einer kulturhistorischen Perspektive auf die Kriegsjahre verpflichtet. Nicole Billeter thematisiert in ihrem Beitrag die Aktivitäten von Schriftstellerinnen und Schriftstellern im Zürcher Exil. Im Gegensatz zu ihren Heimatländern hatten sie hier die Möglichkeit, ihre Meinung zu äussern und teilweise sogar zu publizieren. Die Autorinnen und Autoren fühlten sich durch ihr gemeinsames Engagement gegen den Krieg miteinander verbunden, zur lokalen Bevölkerung hatten sie dagegen wenig Kontakt. Im Gegensatz zu den ausländischen Deserteuren, Refraktären oder den internierten Soldaten der kriegführenden Nachbarländer, die oft auch nach dem Waffenstillstand in der Schweiz blieben, sahen sie das Land nur als vorübergehenden Zufluchtsort.

Ein besonders innovativer Beitrag ist Adrian Gerber über die Bedeutung des Kinos im Ersten Weltkrieg gelungen: Er beschreibt darin die Entdeckung des Kinos als Propagandamittel im Krieg und die damit verbundenen Austauschprozesse. Der Krieg führte in verschiedenen Ländern zum Aufbau von staatlichen Filmanstalten, die sich vor allem der Produktion von Propagandafilmen widmeten. Am Beispiel der schweizerischen Aufführungsgeschichte des bekannten deutschen Propagandafilms „Graf Doha und seine Möwe“ zeigt Gerber auf, dass die Wirkungsmöglichkeiten solcher Filme eng an den historischen Rezeptionskontext gebunden und deshalb sehr unterschiedlich waren.

Im Zentrum des vierten Abschnittes stehen der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, General Ulrich Wille, die Zürcher Sozialdemokratie und der Landesstreik von 1918. Rudolf Jaun und Thomas Buomberger behandeln den Landesstreik aus zwei entgegengesetzten Perspektiven: Jaun ortet in der Zürcher Arbeiterunion und in General Wille die bestimmenden Akteure der Jahre 1917 bis 1918. Er interpretiert den Ausbruch des Landesstreiks als keineswegs zwingend, sondern dem Oltener Aktionskomitee vielmehr von der Armee und der Zürcher Arbeiterunion aufgedrängt und beschreibt ihn als „Revolutionsversuch, der keiner war“ (S. 196). Buomberger hingegen betont die prekäre Lage der Arbeiterschaft aufgrund der tiefen Löhne sowie der knappen und teuren Lebensmittel während des Krieges und sieht den Landesstreik als Kulminationspunkt der gärenden Unzufriedenheit der Arbeiter und Angestellten. Er beschreibt den Landesstreik zudem als allgemeinen Kampf der Arbeiterschaft um „Mitwirkung in Staat und Gesellschaft, um Einfluss auf Dinge, die für sie elementar waren“ (S. 204). Trotz unterschiedlicher Ansätze sind sich beide Autoren in dem Punkt einig, dass der Industrie- und Bankenplatz Zürich als Gravitationszentrum des Landesstreiks gesehen werden kann.

Im fünften und letzten Abschnitt stehen die Frage nach Frieden und das Gedenken an den Ersten Weltkrieg im Vordergrund. Regula Schmid schliesst den Band mit einer Analyse der Kriegsdenkmäler im Kanton Zürich ab. Sechs Denkmäler erinnern an die Kriegsjahre, wobei nur das kantonale Wehrmännerdenkmal von 1922 auf der Forch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt ist. Schmid sieht die Gedenkjahre deshalb als Gelegenheit, „Geschehenes in Erinnerung zu rufen und mit dem Denkmal Verständnis für die dahinterstehenden Ereignisse zu schaffen“ (S. 235).

Insgesamt handelt es sich beim vorliegenden Sammelband um eine lesenswerte Untersuchung über den Kanton Zürich im Ersten Weltkrieg. Das Buch eignet sich gut für eine breitere Leserschaft, zeigt aber auch Historikerinnen und Historikern interessante Aspekte des Alltags im Ersten Weltkrieg auf. Da die Beiträge jedoch häufig auf früheren Arbeiten der Autorinnen und Autoren basieren, bieten sie nur wenig Neues. Innovativ ist der Band dort, wo weniger bekannte Themen wie etwa die Bedeutung des Kinos im Krieg und das Gedenken an den Krieg aufgegriffen oder aufgrund fundierter Quellenforschung in Privat-, Stadt- und Gemeindearchiven neue Aspekte des Alltagslebens aufgezeigt werden. Zudem sind vor allem der Einleitungs- und der Schlussteil nicht ganz gelungen. So fehlt in Eva Maeders einleitendem Beitrag, der sich Zürich im Ersten Weltkrieg visuell annähert, oft der grössere Bezugsrahmen zu den Bildern, sodass die Zusammenstellung beliebig wirkt. Zum Schluss des Bandes wäre die Einordnung Zürichs in einen nationalen oder gar europäischen Kontext wünschenswert, um die Spezifika der Situation im Kanton herauszustreichen. Ausserdem fehlt eine thematisch sortierte Bibliographie, die den Band sinnvoll abgerundet hätte. Eine ansprechende Zusammenstellung von Texten und Fragestellungen zum Kanton Zürich im Ersten Weltkrieg ist aber allemal gelungen.

Anmerkung:
1 Einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zur Schweiz im Ersten Weltkrieg bietet das jüngst erschienene Buch von Georg Kreis, Insel der unsicheren Geborgenheit. Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914–1918, Zürich 2014.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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