Cover
Titel
Altered Pasts. Counterfactuals in History


Autor(en)
Evans, Richard J.
Reihe
The Menahem Stern Jerusalem Lectures
Erschienen
Anzahl Seiten
XVIII, 150 S.
Preis
$ 29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Timothy Goering, Fakultät Geschichtswissenschaft / Neuere Geschichte III und Theorie der Geschichte, Ruhr-Universität Bochum

Was wäre passiert, wenn an der Westfront des Ersten Weltkriegs der explodierende Granatsplitter nicht nur die Wade von Adolf Hitler getroffen hätte, sondern seine Hauptschlagader? Vielleicht hätte die NSDAP keine politischen Erfolge gefeiert. Vielleicht hätte der Zweite Weltkrieg nicht stattgefunden, und der Kalte Krieg wäre nie ausgebrochen. Die Ungeduldigen unter uns sind vielleicht an dieser Stelle versucht, gegen solche Spekulationen zu dem beliebten Spottargument zu greifen: „Hätte, hätte, Fahrradkette“. Denn das, was nicht geschehen ist, fällt für den Historiker eigentlich aus dem Rahmen des zu untersuchenden Gegenstands. Der Historiker kann sich schließlich nicht um Unwirkliches kümmern: So werden zumindest viele Historiker denken, wenn zu viele kontrafaktische Mutmaßungen angestellt werden. Aber nicht alle Historiker denken heute so. Es gibt mittlerweile eine beachtliche kontrafaktische Geschichtsschreibung, die sich mit wissenschaftlicher Sorgfalt und historischem Ernst der Frage „Was wäre wenn...“ widmet und dabei auf eine eigene Tradition zurückblicken kann. Der wohl frühste Versuch die kontrafaktische Geschichtsschreibung auf die Beine zu stellen, findet sich schon in „Uchronie“ (1876) von Charles Renouvier, der als Autor „écrit l'histoire, non telle qu'elle fut, mais telle qu'elle aurait pu être, à ce qu'il croit“.1 Vor allem aber seit der Veröffentlichung von Niall Fergusons Sammelband „Virtual History“ (1997) wurden Stimmen laut, die insistieren, dass kontrafaktische Geschichtsschreibung wichtige, historische Forschungsarbeit darstelle.

Dem Thema der kontrafaktischen Geschichte widmet sich Sir Richard J. Evans, Regius Professor für Neuere Geschichte an der Universität Cambridge, der vor allem als Autor einer dreibändigen Geschichte des Dritten Reiches bekannt ist. Das kleine Buch besteht aus vier Vorlesungen, die er als Menahem Stern Jerusalem Lectures im April letzten Jahres vorgetragen hat. In der ersten Vorlesung wird das Genre der kontrafaktischen Geschichtsschreibung vom 19. Jahrhundert bis heute dargestellt. Demonstriert wird die Tendenz zur Darstellung von „großen Männern“ sowie der häufig anzutreffende Unterhaltungswert. Die meisten kontrafaktischen Geschichtsschreiber können es nicht lassen, beobachtet Evans, ihre Leser in erster Linie „entertainen“ zu wollen. Für die Zeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts stellt er fest: „Historians have traditionally been suspicious of speculation, so their reaction to 'what-if' scenarios has generally been hostile or indifferent“. (S. 24) Doch zum Ende des 20. Jahrhunderts habe sich dieser Skeptizismus etwas gelegt. Das erklärte Ziel der neuen kontrafaktischen Geschichtsschreiber sei „to restore free will and contingency to history and to reenthrone the individual actor in a history too often studied in terms of impersonal forces“ (S. 31). Evans interessiert sich als Kritiker mitunter für die kontrafaktische Geschichtsschreibung als eigenes historisches Phänomen. Er beobachtet nämlich, dass „there are indeed few, if any, counterfactuals written from a left-wing point of view, […] counterfactuals have been more or less a monopoly of the Right“. (S. 33f.). Kontrafaktische Geschichtsschreibung entspringe aus dem Wunsch, einer anderen Gegenwart angehören zu wollen. „Wishful thinking“, resümiert er, „is everywhere in the world of historical counterfactuals“ (S. 63). Evans konzentriert sich dann in seiner zweiten Vorlesung fast ausschließlich auf den Sammelband von Ferguson. Er geht Punkt für Punkt die kontrafaktischen Thesen von Fergusons eigenem Beitrag durch und widerlegt sie empirisch, indem er die „extremely empirical shaky basis“ (S. 50) des Aufsatzes aufzeigt.

In den letzten beiden Vorlesungen tritt Evans als no-nonsense Kritiker der kontrafaktischen Geschichtsschreibung auf, der seinen Gegnern eine faire Chance geben, aber zugleich streng taxieren möchte. Er kommt zu dem Schluss, dass kontrafaktische Geschichtsdarstellungen prinzipiell nicht sinnfrei aber zumeist „banal in the extreme“ (S. 94) seien. „If the only thing that can be said in their favor is that they 'make us much more aware of the role of the contingent', that is not very much“ (S. 95). Zu häufig betrete man „thin evidential ice“ (S. 122). Sein Gesamturteil in der letzten Vorlesung lautet somit: „A counterfactual can illuminate the choices that confronted individual politicians and statesmen […]. But the further away it gets from the starting point the less useful it becomes. […] It can be useful under certain strictly limited conditions and with strictly limited purposes, […] but [it is] of little real use in the serious study of the past“. (S. 124f.)

Leider geht Evans nur selten auf philosophische Aspekte kontrafaktischer Aussagen ein. So tauchen geschichtsphilosophische Überlegungen zu Kausalität, Notwendigkeit oder Kontingenz in seinem Gedankengang eher disparat und unvermittelt auf. Das ist bedauerlich, denn gerade in Bezug auf ihre geschichtsphilosophischen Schlussfolgerungen versprechen kontrafaktische Überlegungen einen größeren Erkenntnisgewinn als für die praktische Geschichtsschreibung. Leider offenbart sich an dieser Stelle einmal wieder die scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen Geschichtstheorie und gegenwärtiger (analytischer) Philosophie. Über Modallogik wurde viel Bedeutendes geschrieben, und sie bildet heute eines der wichtigsten Fundamente der analytischen Philosophie, so dass ihre Bedeutung für Geschichtstheorie kaum von der Hand gewiesen werden kann.2 Mit seiner fehlenden Auseinandersetzung mit theoretisch-philosophischen Fragen steht Evans aber keineswegs allein. Insgesamt ist das Gros der kontrafaktischen Geschichtsschreibung über die vielen wichtigen Parallelen zur Modallogik gar nicht im Klaren. Schon Max Weber monierte vor fast hundert Jahren – und man könnte es unverändert weiter monieren: „Wie sehr die Geschichtslogik noch im argen liegt, zeigt sich u.a. auch darin, daß über diese wichtige Frage weder Historiker, noch Methodologen der Geschichte, sondern Vertreter weit abliegender Fächer die maßgebenden Untersuchungen angestellt haben.“3

Welchen Gewinn könnten kontrafaktische Argumente für geschichtsphilosophische Überlegungen haben? Ein wichtiger Themenkomplex kreist um Kausalität. Weber schrieb dazu pointiert: „Um die wirklichen Kausalzusammenhänge zu durchschauen, konstruieren wir unwirkliche.“4 Kausale Aussagen wären ohne die Beimischung von implizit postulierten kontrafaktischen Zusammenhängen, die gewissermaßen eine Hintergrundfolie für die hervorgehobenen Kausalzusammenhänge bilden, ein äußerst unzuverlässiger Bündnispartner für die Geschichtswissenschaft. Denn der vermeintlich klare Kausalzusammenhang, nämlich dass A die Ursache für B gewesen sei, ist in Wirklichkeit eine metaphysische Aussage, die ohne Kontrafaktizität gar nicht aus der Taufe gehoben werden könnte. Schon David Hume wies darauf hin: „every effect is a distinct event from its cause.”5 Es hilft also nicht, akribischer an die Quellen heranzutreten, um eine Ursache eines Ereignisses zu finden. Kausalität ist den Quellen nicht eingeschrieben, da sie kein empirisches, sondern ein metaphysisches Phänomen ist. Zum historischen Urteil müsste demnach ein Abstraktionsprozess hinzugezogen werden, der kontrafaktisch danach fragt, welche Veränderung eines Ereignisses durch das Fehlen eines bestehenden Elements festgestellt werden könnte. Die weiteren Gedankenschritte und Schlussfolgerungen dieser philosophischen Argumentation können an dieser Stelle nicht ausgeführt werden.6 Es kann hier nur angedeutet werden, dass kontrafaktische Überlegungen durchaus für die Geschichtsphilosophie von Bedeutung sein können, auch wenn sie meist für die praktische Geschichtsdarstellung nur implizite Relevanz besitzen. Leider fehlt aber eine ernste Auseinandersetzung mit dem möglichen Mehrwert dieser geschichtsphilosophischen Fragen in Evans' Überlegungen: eine vertane Chance, wie ich meine.

„Altered Pasts“ konzentriert sich damit auf Kosten der Geschichtsphilosophie ausschließlich auf die Praxis der kontrafaktischen Geschichtsschreibung, gibt dafür aber über diese ein präzises und treffendes Urteil. Der meist magere Erkenntnisgewinn von kontrafaktischen Geschichtsbüchern wiegt insgesamt weniger als die unzähligen, erkenntnisarmen Ausführungen, die angefertigt werden müssen, um überhaupt kontrafaktische Überlegungen zu Papier zu bringen. Kontrafaktische Geschichtsschreibung ist damit ein zahnloser Tiger im Dschungel historischer Fakten. Wer also als Historiker/in darüber nachdenkt, kontrafaktische Überlegungen anzustellen, kann dies zwar prinzipiell tun, so lautet zusammengefasst der behutsame Ratschlag von Evans, sollte sich aber kurz halten und lediglich auf das Gewinnbringende zielen. Und ansonsten: get back to business as usual.

Anmerkungen:
1 Charles Renouvier, Uchronie (l'utopie dans l'histoire), Paris 1876, S. II.
2 Man denke nur an Saul Kripke, Name und Notwendigkeit, Frankfurt am Main 1993. Siehe auch den Ansatz, Modal- und Temporallogik zusammen zu denken: Max Cresswell / Adriane Rini, The World-Time Parallel. Tense and Modality in Logic and Metaphysics, Cambridge 2012.
3 Max Weber, Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung (1906), in: ders. / Johannes Winckelmann (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 266–291, hier S. 268f.
4 Ebd., S. 287.
5 David Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding (1748), Mineola 2004, S. 17.
6 Siehe ausführliche Besprechungen zu dieser Problematik: Doris Gerber, Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichten und ihre Erklärung, Frankfurt am Main 2012, S. 117–136; Elazar Weinryb, Historiographic Counterfactuals, in: Aviezer Tucker (Hrsg.), A Companion to the Philosophy of History and Historiography, Oxford 2011, S. 109–119.

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