K. Bartikowski: Der italienische Antisemitismus im Urteil des NS

Titel
Der italienische Antisemitismus im Urteil des Nationalsozialismus 1933–1943.


Autor(en)
Bartikowski, Kilian
Reihe
Dokumente – Texte – Materialien 77
Erschienen
Berlin 2013: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Carlo Moos, Historisches Seminar, Universität Zürich

Die vorliegende Studie schließt, dies vorweg, eine lange erkannte erstaunliche Forschungslücke. Wer immer sich mit der Rassenpolitik des italienischen Faschismus und ihrer Entwicklung beschäftigt, muss sich fragen, wie der deutsche Achsenpartner sie gesehen und beurteilt hat. Die differenziert argumentierende Arbeit von Kilian Bartikowski, eine an der Technischen Universität Berlin entstandene Dissertation, zeigt freilich, dass die Frage nicht einfach zu beantworten ist. Dies dürfte einer der Gründe sein, weswegen man sich ihrer bisher nur rudimentär angenommen hat.

Die Studie folgt quellengestützt und unter Beizug der neuesten Literatur fünf ineinander verzahnten Phasen. In der nicht sehr glücklich mit „Vorgeschichte“ überschriebenen ersten geht es um die frühe Wahrnehmung des Faschismus durch die NS-Bewegung und um die Bedeutung des unterschiedlich gewichteten latenten italienischen Antisemitismus in den Beziehungen zwischen Faschismus und Nationalsozialismus bis zum krisenhaften Jahr 1934, welches im Juni die erste (verunglückte) Begegnung zwischen Mussolini und Hitler in Venedig brachte. Die zweite Phase dreht sich um die im Kontext des brutalen italienischen Überfalls auf Abessinien erfolgte Annäherung zwischen den beiden Regimen und um die von Italien zunehmend apartheidmässig betriebene Kolonialpolitik, anlässlich welcher Mussolini in der Rassenfrage einen Meinungswechsel vollzog, während NS-Rassenpolitiker in seiner Bevölkerungspolitik „ein Feld der Konvergenzfindung“ erkannten (S. 49). Dem gegenüber beinhaltet die zentrale dritte Phase die rassenpolitische und antisemitische Wende von 1938 in Italien mit ihrer legislativen Ausgrenzung der Juden aus der italienischen Gesellschaft, die unter anderem aus der Optik deutscher Opfer und Gegner des Nationalsozialismus beleuchtet wird. Von Bedeutung sind hier das am 14. Juli 1938 erschienene Rassenmanifest faschistischer Wissenschaftler, an dem Mussolini beteiligt war, und das antijüdische Gesetzeswerk vom 17. November 1938, bei dem sich immer wieder die Frage stellt(e), wie weit es mit den Nürnberger Gesetzen vergleichbar war. Schon allein wegen der Rücksichtnahme auf die katholische Kirche ergaben sich Differenzen etwa in Bezug auf die Ehe-Beschränkungen zwischen Juden und Nichtjuden, bei deren Kritik sich die deutsche Seite im Willen, das „empfindliche Nationalgefühl“ des Bündnispartners nicht zu reizen, zurückhielt (S. 115). Für die vierte Phase wird die Zusammenarbeit auf rassenpolitischem Gebiet 1938–1942 zwischen deutschen und italienischen Rassenhygienikern vor dem Hintergrund zunehmender Differenzen analysiert, die sich unter anderem als Folge der desaströsen italienischen Kriegsführung einstellten, welche die Wahrnehmungsparameter veränderte. In diesem Kontext wird insbesondere auf das Rassenpolitische Amt der NSDAP sowie auf das Institut für Kulturwissenschaften an der Bibliotheca Hertziana in Rom fokussiert, dessen rassenpolitische Vorträge von italienischer Seite aber nur schwach besucht wurden. Schließlich wird, fünftens, die deutsche Fremdwahrnehmung des „italienischen Freundes“ bis zum Sturz Mussolinis am 25. Juli 1943 auf der Basis der SD-Ausland-Berichte und im Zusammenhang mit den Internierungs-Maßnahmen in Italien und Libyen (ein Thema, das verglichen mit seiner Bedeutung und Komplexität eher zu kurz kommt) untersucht und auf das Verhalten der Italiener als brutale Besatzer und vermeintliche Judenretter in Jugoslawien eingegangen.

Deutlich zeigt sich, dass sich die zunehmende Radikalisierung der NS-Rassenpolitik in eine exterminatorische Richtung auf die Beurteilung der faschistischen Rassenpolitik, welche den entscheidenden Vernichtungs-Schritt nicht mitmachte, von deutscher Seite negativ auswirkte. Die „Ungleichzeitigkeit der Radikalisierung“ (S. 161) von Nationalsozialismus und des sich seinerseits (aber anders) radikalisierenden Faschismus führte dazu, dass die stärker radikalisierten NS-Beobachter die antisemitischen Äußerungen und Umsetzungsversuche in Italien, so den Komplex der „Arisierungen“ oder die zunehmende Gewalt gegen Juden und jüdische Einrichtungen, in ihrer Tragweite unterschätzten und deren Radikalisierung, auch wenn sie sich nicht bis zum Massenmord steigerte, ignorierten. Wie weit in der faschistischen Rassenpolitik im Achsenkontext letztlich nur politisches Kalkül oder tatsächlich eine ideologische Affinität gesehen werden muss, bleibt auch nach Lektüre der vorliegenden Studie als Kernfrage offen. Oder besser: es dürfte gerade ihre grundsätzliche Ambivalenz sein, die der faschistischen Politik jenes Schillern verlieh, das von deutscher Seite wahrgenommen wurde.

Das ständige zeitliche Vor und Zurück der Überlegungen des Autors macht den Überblick über den Gedankengang seines Buches und das Verfolgen eines roten Fadens schwierig und mag mit ein Grund sein, weshalb die Schilderungen bisweilen sprunghaft erscheinen und es immer wieder zu Redundanzen kommt. Auch sonst sind einige Vorbehalte anzubringen. So wirkt das Betonen der Transnationalität der Studie leicht euphemistisch, denn sie ist im Wesentlichen eben doch perzeptionsgeschichtlich angelegt, weil es um die Sicht des Nationalsozialismus auf den Faschismus und nicht um eine gegenseitige Wahrnehmung geht. Weiter ist trotz der vom Verfasser angeführten Begründung (vgl. S. 17f.) nicht ganz ersichtlich, warum die Untersuchung nur bis zum Sturz Mussolinis im Sommer 1943 geführt wird. Möglicherweise weil – wie mir scheint – das Potential und die Möglichkeiten der Salò-Phase unterschätzt werden. Schließlich wären einige insgesamt aber unerhebliche Versehen zu erwähnen, so die Entstellung der Namen von Bocchini und Senise (S. 163, Anm. 67).

Trotz des eher schmalen Umfangs handelt es sich um ein gewichtiges Buch. Nebst den vielen beigebrachten Einzelbeispielen, welche die Heterogenität der NS-Sicht auf die faschistische Rassenpolitik belegen, liefert es (indirekt) eine mögliche Erklärung für die erstaunliche Verharmlosung, die dem italienischen Faschismus, trotz vielen gegenteiligen Bemühungen der Forschung, bis heute widerfährt, nämlich dass gerade die rabiaten NS-Rassenbeobachter den Faschismus, auch wenn aus einer gegenteiligen, stärker radikalisierten Position als harmlos und in der Rassenfrage (im Gegensatz zu den Betroffenen) als nicht ernst zu nehmend interpretierten. Die italienische Nachkriegsdiplomatie hat davon intensiv Gebrauch gemacht und auf diesem Muster aufbauend die von italienischen Verantwortungsträgern praktizierten Judenrettungen betont, denen aber – wie das vorliegende Buch klar erweist – viele mögliche, aber in der Regel nicht humanitäre Beweggründe zugrunde lagen. Ein Beleg findet sich im Jüdischen Museum Griechenlands in Athen, wo eine von der italienischen Botschaft herausgegebene italienisch/griechische Schrift erhältlich ist. Sie ist der Judenrettung von 1943 in Saloniki gewidmet, die nur für die rund 300 italienischen Juden (von insgesamt rund 50.000) in dieser Stadt erfolgreich war.1 Wenn sich ein in den letzten zwei Jahrzehnten mehrmals aktiver Regierungschef Italiens nicht entblödet, Mussolini als Politiker hinzustellen, der niemanden umgebracht, sondern die Gegner auf schöne Inseln in die Ferien geschickt habe, so führt er genau diese zweifellos populäre, aber falsche interpretatorische Linie weiter.2

Anmerkungen:
1 Ambasciata d’Italia in Atene, Ebrei di Salonicco – 1943. I documenti dell’umanità italiana, a cura di Jannis Chrisafis, Alessandra Coppola, Antonio Ferrari, o.O. (aber Athen), o.D. (wohl 2006).
2 Vgl. zur Verharmlosung des Faschismus unter Berlusconi Aram Mattioli, „Viva Mussolini!“ Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis, Paderborn-Zürich 2010.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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