Titel
Moskau, 11. März 1985. Die Auflösung des Sowjetischen Imperiums. 20 Tage im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Huber, Mária
Reihe
dtv - Kultur und Geschichte 30616
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 10,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Giese

Ein Tag im März und das Ende einer Weltmacht
Mária Huber beschreibt die Auflösung des sowjetischen Imperiums

Im Juni 1989 geschah Eigenartiges: Der Staats- und Parteichef der Sowjetunion besuchte die Bundesrepublik und wurde dort nicht – wie alle seine Vorgänger – als Führer einer bedrohlichen, gegnerischen Macht wahrgenommen, sondern von den Westdeutschen begeistert begrüßt. Zur gleichen Zeit waren aus der Sowjetunion scharfe Töne der Kritik an seiner Politik zu vernehmen, obwohl doch dort seit der Entmachtung Chruschtschows Kritik am Generalsekretär stets ein Tabu gewesen war.

Auch im Rückblick wird Michail Gorbatschow noch so unterschiedlich beurteilt, wie er damals gesehen wurde: Während ihn die Deutschen als großen Staatsmann feiern, der Osteuropa die Freiheit und Deutschland die Einheit brachte, betrachten ihn viele frühere Sowjetbürger als den Zerstörer eines Weltreiches, der die wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die er zu lösen vorgab, ins Unermeßliche potenzierte. Dementsprechend unterschiedlich dürfte auch der 11. März 1985 bewertet werden, an dem Gorbatschow vom ZK der KPdSU zum Nachfolger des tags zuvor verstorbenen greisen Sowjetführers Tschernenko gewählt wurde.

Dieses Datum ist Ausgangspunkt eines Buchs über die Auflösung des sowjetischen Imperiums, das jüngst in der dtv-Reihe „20 Tage im 20. Jahrhundert“ erschienen ist, sich also nicht in erster Linie an ein Fachpublikum, sondern an eine breitere Leserschaft wendet. Die Autorin Mária Huber schildert darin die letzten sieben Jahre der Sowjetunion bis zu ihrer formellen Auflösung zum Jahreswechsel 1991/1992. Obwohl es die jüngste Vergangenheit ist, die sich hier auftut, und obwohl das erstaunte Publikum den Untergang des Riesenreiches im Fernsehen gewissermaßen live miterleben konnte, dürfte sich den meisten Lesern hier durchaus viel Unbekanntes darbieten.

Unbekannt nicht, weil es hier spektakuläre Enthüllungen zu bestaunen gäbe – auf Effekthascherei hat es die Autorin nicht abgesehen. Statt dessen bietet Huber Einblicke in die Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre: Sie kompiliert und konzentriert die in den 90er Jahren erschienene Literatur – wobei Strukturell-Analytisches und Biographisches wohltuend gleichberechtigt nebeneinander stehen – und ergänzt sie um eigene Recherchen sowie um die ihres Mannes Christian Schmidt-Häuer. Hier kann sie aus einer reichen Quelle schöpfen, denn die gebürtige Ungarin, die einen Lehrstuhl für Internationale Beziehungen an der Universität Leipzig inne hat, lebte von 1988 bis 1994 in Moskau, und die Berichte über den Umbruch im Sowjetstaat seit Mitte der 80er Jahre, die sie und Schmidt-Häuer vor allem für die ZEIT geschrieben haben, gehören zum Fundament ihrer Darstellung.

Hubers journalistische Erfahrungen kommen Sprache und Darstellungsweise zugute. Die mitunter sehr komplexen und schwer übersehbaren ökonomischen, sozialen und ethnischen Zusammenhänge erscheinen so zumindest im Ansatz transparent. An einigen Stellen kommen persönliche Erlebnisse zum Tragen, bei der Schilderung des Putschversuchs vom August 1991 – er zählt für Huber „zu den wichtigsten Wendepunkten in der Geschichte des 20. Jahrhunderts“ (S.252) – bedient sich die Autorin eines reportageartigen Stils. All dies trägt zur Lesbarkeit des Buches bei, so dass insgesamt eine Darstellung gelungen ist, die für ein breiteres Publikum verständlich bleibt und auch den vorinformierten Leser nicht langweilt.

Unbekannt dürfte dem deutschen Lesepublikum vor allem deshalb vieles sein, weil sich der Blick der Deutschen spätestens seit 1989 auf die DDR fokussierte und das Interesse am Wandel in der Sowjetunion weitgehend auf die Vorgänge im Kreml beschränkt blieb. Gewiss, die beginnenden Nationalitätenkonflikte rückten der westlichen Öffentlichkeit auch Städte und Regionen ins Bewusstsein, die sie zuvor kaum zur Kenntnis genommen hatte. Berg-Karabach, Abchasien, Tiflis, Usbekistan – diese Namen gerieten Ende der 80er Jahre in die Schlagzeilen und erinnerten daran, dass die Sowjetunion nicht nur ein vergrößertes Russland war, sondern ein Vielvölkerstaat mit unterschiedlichen regionalen und nationalen Interessen.

Doch so schnell diese Regionen die Aufmerksamkeit des Westens erlangt hatten, so schnell gerieten sie auch wieder in Vergessenheit. Die Zustände im Kaukasus und in Zentralasien erschienen nicht nur unerquicklich und undurchschaubar, sondern auch weit weg. Nur dem Baltikum und Russland brachte man weiterhin begrenzte Aufmerksamkeit entgegen. Zur Auflösung des sowjetischen Imperiums haben aber auch die Vorgänge etwa in Armenien und Aserbaidschan, in der Ukraine und Georgien maßgeblich beigetragen. Huber gibt ein paar Einblicke in die komplizierte Situation dieser Länder, ohne sich hoffnungslos in den endlosen Weiten des einstigen Sowjetreichs zu verlieren.

Doch der Blick des Westens auf die Sowjetunion war auch in anderer Hinsicht durch die osteuropäischen Staaten verstellt. Dort war der Umbruch zum einen durch revolutionäre Erhebungen erkämpft worden, zum anderen den Regimen unter Mitwirkung reformorientierter Kräfte innerhalb der herrschenden Parteien in mehrjährigen Wandlungsprozessen abgetrotzt. Gorbatschows „Revolution von oben“ und die Moskauer Bürgerproteste gegen den Putsch vom August 1991 suggerierten dem Westen, auch in der Sowjetunion hätten sich diese beiden Muster osteuropäischen Wandels wiedergefunden. Die Bilder der protestierenden Moskowiter glichen scheinbar denen aus Leipzig und Prag, die Vorgänge hatten aber, so Huber, nicht viel miteinander gemein.

Eine Zivilgesellschaft, die Gorbatschows Reformimpulse aufgegriffen und aus eigener Kraft vorangetrieben hätte, gab es in der Sowjetunion nicht. Der Generalsekretär betrieb seine Perestroika-Politik nicht mit, sondern gegen die Mehrheit der Sowjetbürger. Die waren zwar Mangelwirtschaft und Schlendrian leid, wollten aber deshalb keineswegs tiefgreifenden Veränderungen mit ungewissem Ausgang riskieren. Auch im August 1991 setzte sich nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Moskowiter gegen die Putschisten zur Wehr, die Mehrheit verhielt sich abwartend. Von einer landesweiten Protestbewegung könne erst recht keine Rede sein, so Huber.

Auch die Vorstellung, dass der Zusammenbruch des Ostblocks mit Ausnahme Rumäniens nahezu unblutig vonstatten gegangen sei, rührt von einem Blick, der sich allein auf die osteuropäischen Satelliten richtet. Er blendet nicht nur die brutalen Militäreinsätze in Wilna und Tiflis aus, sondern auch die blutigen ethnischen Konflikte etwa in Armenien, Aserbaidschan und Usbekistan. „Bürgerkriege und ethnische Konflikte“ resümiert Huber, „forderten in Zentralasien und im Kaukasus insgesamt mehr als 100 000 Todesopfer und trieben noch weit mehr Flüchtlinge ins Elend“ (S. 273).

Nicht nur wegen dieser erschreckende Bilanz beantwortet Huber die Frage, ob Gorbatschow nun ein großer Staatsmann oder ein miserabler Landesvater gewesen sei, eindeutig in letzterem Sinne. Der Mann, der durch seine Anstöße das weltpolitische Gefüge aus den Angeln hob, erscheint uns als Zauderer. Nicht durch seine revolutionäre Politik, so scheint es, hat Gorbatschow das System, das er eigentlich retten wollte, zum Einsturz gebracht, sondern durch seine Unentschlossenheit.

So habe sich Gorbatschow bei der Modernisierung der Wirtschaft zwar den Totalverweigerern widersetzt, sich aber auch nicht zu einer klar reformorientierten Politik durchringen können. Dass aber ein konzeptionsloser Mittelweg das ökonomische Gleichgewicht in Gefahr bringen würde, habe, so Huber, außerhalb des Horizonts des Generalsekretärs gelegen. Trotz der Perestroika habe er versucht, alle organisatorischen Strukturen der KPdSU in Armee, KGB und Betrieben zu konservieren und damit die Chance zur Transformation in eine Parlamentspartei verspielt. Nach dem verheerenden Erdbeben in Armenien hätte er hilflos gewirkt. Schließlich habe sich gezeigt, „wie kurzsichtig, ja inkompetent der Generalsekretär auf Konflikte reagierte, die das Land destabilisierten und viele Menschenleben forderten“ (S. 145).

Doch nicht nur Gorbatschow fällt solch harscher Kritik anheim, auch seine Kontrahenten kommen nicht gut weg. Für die orthodoxen Kommunisten, die die Stagnation der Breschnew-Ära in die zweite Hälfte der 80er Jahre hinüber retten wollten, hat die Autorin erwartungsgemäß nicht viel übrig. Aber auch die radikalen Wirtschaftsreformer, die in kürzester Zeit eine Marktwirtschaft errichten wollten und sich dabei „westorientiertem Wunschdenken“ hingaben, können nicht mit Beifall rechnen. Diese Distanz der Autorin zu allen maßgeblichen politischen Akteuren und Gruppen schützt sie vor einem tendenziösen Gesamturteil. Kaum einer der Handelnden und erst recht keine der diversen nationalistischen Volksbewegungen könnte sie als Kronzeugin in Anspruch nehmen.

Das ist zwar wohltuend, Hubers tadelnden Rundumschläge lassen aber doch gelegentlich etwas Ratlosigkeit aufkommen. Gerade ihre Urteile über einzelne Persönlichkeiten fallen mitunter recht grob aus. Der Eindruck muss Platz greifen, es bei den Sowjetführern der 80er Jahre allerorten nur mit Pfuschern und Halunken zu tun zu haben: Jelzin erweist sich als grobschlächtiger Karrierist, der ukrainische Präsident Krawtschuk als opportunistischer Wende-Kommunist und der litauische Parlamentspräsident Landsbergis als populistischer Scharfmacher an der Spitze einer Amateurtruppe. Die übelsten Dilettanten haben wir aber erst mit den Moskauer Putschisten vom August 1991 vor Augen – sie sind noch wankelmütiger und unentschlossener als Gorbatschow und präsentieren sich schon auf ihrer ersten Pressekonferenz mit zitternden Händen.

Im Vergleich dazu erscheinen die Akteure der US-Administration geradezu als politische Lichtgestalten. Zwar lässt die Autorin keinen Zweifel daran, dass auch die Protagonisten des „Kreuzzugs gegen den Kommunismus“ um Ronald Reagan nicht gerade nach ihrem Geschmack sind: „Der ehemalige Held zweitklassiger Western übertrug den Kampf des Guten gegen das Böse auf die Weltbühne.“ (S. 75) Aber eine gewisse Stringenz ihres Handelns tritt offen zutage. Seit den letzten Jahren Breschnews war es darauf gerichtet, die Sowjetunion im Rüstungswettlauf in den finanziellen Ruin zu treiben und ihr gleichzeitig den Weg auf den internationalen Kreditmarkt zu versperren. An dieser Strategie hielt die US-Administration auch noch fest, nachdem Gorbatschow erhebliche Vorleistungen erbracht und sogar ein Stillhalten der UdSSR beim Krieg der Amerikaner gegen Saddam Hussein zugesichert hatte. Der amerikanische Anteil am Scheitern Gorbatschows und am endgültigen Zusammenbruch des Sowjetstaates ist demnach nicht gering einzuschätzen.

Überhaupt räumt Huber wirtschaftlich-politischen Zusammenhängen einen hohen Stellenwert ein. Immer wieder verweist sie auf die ökonomischen Aspekte gerade bei den Unabhängigkeitsbestrebungen der einzelnen Republiken – freilich ohne zu übersehen, dass die nationalistisch aufgeputschten Volksbewegungen nicht selten auch entgegen aller ökonomischen Vernunft handelten. Große Bedeutung schreibt sie dem rasanten Verfall der Erdölpreise Anfang 1986 zu, der möglicherweise auf den amerikanischen Einfluss auf Saudi-Arabien zurückzuführen sei. Nicht zu unterschätzen sei schließlich auch die psychologische Wirkung der organisatorischen und technischen Überlegenheit des Westens, die den Sowjetbürgern erst in vollem Ausmaß bewusst geworden sei, als die UdSSR nach dem Erdbeben in Armenien erstmals westliche Hilfe ins Land rief und Gorbatschows Glasnost-Politik gestattete, dass über die Mängel der sowjetischen Hilfseinrichtungen in aller Offenheit berichtet wurde.

Hier drängt sich sogleich eine ganze Reihe von Fragen spekulativer Geschichtsbetrachtung auf: Was wäre geschehen, wenn der Ölpreis nicht in den Keller gegangen, es kein Erdbeben gegeben und Gorbatschow frühzeitig eine entschiedene Wirtschaftsreform eingeleitet hätte? Hätten dann die Perestroika gelingen, der Sowjetstaat marktwirtschaftlich und demokratisch umgestaltet und der Zerfall des Reiches verhindert werden können? Oder war es 1985 schon zu spät für eine erfolgreiche Reform? Ist es – nach all der Kritik an Blockierern, radikalen Reformern und Kompromisslern – überhaupt denkbar, dass irgendeine Gruppe all die mit der Perestroika verbundenen Probleme schon Mitte der 80er Jahre hätte voraussehen und ein realistisches und politisch durchsetzbares Konzept zu ihrer Bewältigung hätte entwerfen können? Auf diese Fragen gibt Huber keine Antworten. Mit ungeschehener Geschichte hält sie sich nicht auf.

Dabei hängt doch mit ihnen auch eine andere Frage zusammen, für die sie sich durchaus interessieren könnte, die Frage nämlich, ob sich der 11. März 1985 tatsächlich als das Schlüsseldatum für die Auflösung des sowjetischen Imperiums aufdrängt oder andere Termine sich ebenso gut dafür in Anspruch nehmen ließen – etwa der Einmarsch in Afghanistan 1979, der Zusammenbruch der osteuropäischen Satelliten-Regime 1989 oder die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine 1990. Das durchaus interessante Grundkonzept der Buchreihe, von einem einzigen Datum aus einen ganzen historischen Vorgang zu erklären, zeigt hier seine Grenzen. Auch Huber scheint damit nicht ganz glücklich zu sein: Auf jenen Tag, den sie den Regeln der Buchreihe gemäß in der Einleitung ausführlich schildert, geht sie später nicht mehr ein.

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