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Titel
Waldheim und die Folgen. Der parteipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich


Autor(en)
Lehnguth, Cornelius
Reihe
Studien zur historischen Sozialwissenschaft 35
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Campus Verlag
Anzahl Seiten
529 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ingrid Böhler, Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck

1986 fanden in Österreich Bundespräsidentschaftswahlen statt. Für die christlichsoziale ÖVP ging der frühere UN-Generalsekretär Kurt Waldheim ins Rennen. Im Wahlkampf gelangten Details über seinen Dienst als Wehrmachtsoffizier am Balkan in die Öffentlichkeit, die ihn in die Nähe von Kriegsverbrechen rückten. Die Art und Weise, wie Kurt Waldheim nun mit diesen Anschuldigungen umging – nämlich uneinsichtig und verlogen –, sagte wohl etwas über seine Persönlichkeit aus. Schwerer wog, dass seine Haltung repräsentativ für sein Land war. Bestand doch die Lebenslüge der Zweiten Republik darin, Österreich als das erste Opfer Hitler-Deutschlands anzusehen und sich daher nicht für die Verbrechen des Dritten Reichs verantwortlich zu fühlen. Auf mehr als 500 Seiten untersucht das vorliegende Werk nun die Haltungen der Parlamentsparteien zur NS-Vergangenheit Österreichs bzw. der Österreicher/innen seit Waldheim.

In gewisser Weise ist der Titel des Buchs von Cornelius Lehnguth – „Waldheim und die Folgen“ – ein wenig irreführend. Denn nicht nur Waldheims Wahlsieg, auch der Bundespräsident selbst muss als so etwas wie eine Folge, ein Resultat dieses entlastenden Geschichtsnarrativs gelten, das sich unmittelbar nach Kriegsende etablieren konnte und über dessen Genese und vielfältige Bedeutungszusammenhänge ein Einleitungskapitel Auskunft gibt. Erst die nach Waldheim benannte Affäre konnte ab Mitte der 1980er-Jahre dieses hegemoniale Deutungsmuster erschüttern. Allerdings wäre, wie Lehngut aufzeigt, die Opferthese zweifellos auch ohne Waldheim durch die Ende der 1970er-Jahre einsetzende Universalisierung des Holocaust-Gedenkens, durch internationalen Druck also, eher früher als später auf den Prüfstand gestanden.

Neben den sich häufenden Impulsen von außen baut die Arbeit auf der Annahme auf, dass der Generationenwechsel als zweite Wirkkraft für die geschichtspolitische Ausrichtung und allmähliche Transformation der Erinnerungskultur sorgte. Ein eigens für die Analyse dieses Prozesses entwickeltes Modell leitet sich von der Generationssoziologie Karl Mannheims her. Lehngut identifiziert für die Zweite Republik eine Abfolge von insgesamt sieben „Politischen Generationen“ mit jeweils spezifischen Bezugspunkten ihres kollektiven Gedächtnisses. Im Untersuchungszeitraum, der die Zeitspanne von 1986 bis 2009 umfasst, waren noch fünf der aufgeführten sieben Politischen Generationen geschichtspolitisch aktiv: die „Bürgerkriegsgeneration“, die „Kriegsgeneration“, die „45er-Generation“, eine sogenannte „Zwischengeneration“ und die „Wirtschaftswundergeneration“. Da als entscheidende Prägephase für die Generationsbildung die (Post-)Adoleszenz gilt, bildete für einen Teil der „Wirtschaftswundergeneration“ „1968“ ein Schlüsselerlebnis. Nach der „Wirtschaftswundergeneration“, stellt Lehnguth fest, entstand in Österreich mangels einschneidender gemeinsamer Erfahrungshorizonte keine weitere Politische Generation mehr. Alles, was danach kam, bezeichnet er als „hybride“ Formen der „Wirtschaftswundergeneration“.

Die Aussagekraft dieses generationstheoretischen Ansatzes zeigt sich in verschiedenen Konstellationen. Zwei Beispiele dafür: Die Grünen waren erst seit 1986 im Nationalrat und im Untersuchungszeitraum daher eine relativ junge „Ein-Generationen-Partei“ ohne Verstrickung in den Nationalsozialismus. Von Anfang an begegneten sie dem hegemonialen Opfernarrativ mit einer kritischen Mittäterthese, für die sie auch in der Folge am konsequentesten eintraten. Hingegen fand der von SPÖ-Kanzler Franz Vranitzky vollzogene geschichtspolitische Kurswechsel von der Opferthese zum offiziellen Bekenntnis einer Mitverantwortung bei Genoss/innen, die der „Bürgerkriegs-“, „Kriegs-“ oder „45er-Generation“ angehörten, nur bedingt Anklang. Es gab allerdings genauso Bedingungen, unter denen sich Generationenunterschiede einebneten: Innerhalb der ÖVP fanden in den Waldheim-Jahren deswegen keine Diskussionen über die NS-Zeit statt, weil der eigene Kandidat im Kreuzfeuer der Kritik stand. Für die FPÖ bzw. ihre 2005 erfolgte Abspaltung, das BZÖ, besaß der Generationenfaktor gar nie Relevanz. Hier herrschte geschichtsrevisionistische Konstanz. Der Fall FPÖ/BZÖ belegt, dass Geschichtsbilder nicht nur von der Geburtsjahrgangskohorte, sondern genauso von Aspekten wie Milieu oder der Tradierung durch Familie bzw. Partei dominiert sein können. Als Ergebnis seiner Untersuchung bewertet Lehngut den generationsbedingten Einfluss bei der SPÖ und den Grünen als sehr hoch, bei der ÖVP als hoch, bei der FPÖ bzw. dem BZÖ als gering.

Die beharrenden Kräfte, die von den ideologisch-historischen Prädispositionen der Parteien ausgingen, wurden nicht zuletzt von Taktik und machtpolitischem Kalkül unterspült. Die Leserschaft erfährt neben Parteigeschichte, Unterschieden zwischen und innerhalb der Parteien viel über die mit den jeweiligen Rollen als Koalitionspartner, Regierungs- oder Oppositionspartei zusammenhängenden Agenden, Abstimmungs- bzw. Abgrenzungsdynamiken. Im Blick ist dabei in erster Linie die bundespolitisch-staatliche Ebene – das parlamentarische Geschehen, die Stellungnahmen und Maßnahmen der Regierungen bzw. Spitzenpolitiker. Die Studie ist daher nicht nur ein Parteienvergleich, sie liefert ein Sittenbild und einen Überblick über die Geschichts- und Vergangenheitspolitik des „offiziellen“ Österreich.

Ein weiteres Merkmal der Darstellung ist die getrennte Behandlung geschichts- und vergangenheitspolitischer Positionierungen. Die semantische und symbolische Ebene der „Vergangenheitsbewältigung“, wozu die verschiedensten Formen des inszenierten Gedenkens sowie die damit verbundenen Konflikte zählten, und die „Wiedergutmachung“ als politisch-justiziellen Teil der Diktaturüberwindung werden genau auseinander gehalten. Lehngut kann dadurch zeigen, dass die geschichtspolitische Linie nicht immer mit dem vergangenheitspolitischen Handeln übereinstimmte, bei dem oft Realpolitik und/oder Staatsraison hineinspielten. Beispielsweise bildete Anfang 2000 die ÖVP mit der von Jörg Haider angeführten FPÖ eine Koalitionsregierung, worauf es zur Verhängung der sogenannten „EU-14-Sanktionen“ kam. Nach sehr kurzen Verhandlungen und ganz im Sinne des Bekenntnisses zur Mitverantwortung beschloss das Parlament unter anderem wenige Monate später, einen Entschädigungsfonds für ehemalige Zwangsarbeiter/innen einzurichten. Der negativen Kritik aus dem Ausland sollte damit Wind aus den Segeln genommen werden. Gegen die zivilgesellschaftliche Kritik, die der neuen Regierung im Inland entgegenschlug, immunisierte sich diese jedoch damit, dass sie den aus dem Erinnerungshaushalt der Bevölkerung noch lange nicht verschwundenen Mythos von Österreich als Opfernation reaktivierte.

Lehnguths Studie ist chronologisch-thematisch gegliedert. Gewissermaßen der Reihe nach werden Vorkommnisse und Entwicklungen, die Anlässe für Vergangenheitsdebatten lieferten, beleuchtet. Den Anfang macht die Waldheim-Affäre. Dank der international hohen Wellen, die sie schlug – man denke nur an die Entscheidung des US-amerikanischen Justizministeriums 1987, Waldheim auf die Watchlist zu setzen –, waren die Parteien gezwungen, sich mit Österreichs unbewältigter Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die viel beachtete nächste geschichtspolitische Schlüsseletappe, Kanzler Vranitzkys Parlamentsrede mit dem „Schuldbekenntnis“ vom Juli 1991, hatte nur mehr bedingt mit Waldheim zu tun. Innenpolitisch stand sie im direkten Zusammenhang mit Jörg Haider, der wenige Wochen vorher die „ordentliche Beschäftigungspolitik“ im Dritten Reich gelobt hatte. Außenpolitisch ging es um die bevorstehenden EU-Beitrittsverhandlungen; außerdem gab es keinen Kalten Krieg mehr, der die Erinnerung an den Holocaust blockiert hatte. Binnen kurzer Zeit wandelte sich die Verantwortung für den Holocaust zu einer europäischen, letztlich „kosmopolitischen“ Angelegenheit. Der Hinwendung zum negativen, selbstkritischen Gedenken konnte sich ein einzelnes Land wie Österreich in den 1990er-Jahren nicht mehr entziehen.

Die von Kanzler Vranitzky ausgesprochene Entschuldigung implizierte in einem zweiten Schritt praktische Konsequenzen. Auch hier ließ massiver internationaler Druck, unterlassene materielle Entschädigung und Restitutionen nachzuholen, kaum Spielräume für nationale Sonderwege. Die Furcht vor Imageverlusten und Sammelklagewellen vor US-amerikanischen Gerichten gegen österreichische Unternehmen, Banken und Versicherungen mündeten 1998 in die Einsetzung einer Historikerkommission, die im Jahr darauf zu arbeiten begann, und in ein erstes Kunstrückgabegesetz. Die weitreichenderen Entschädigungsmaßnahmen wurden aber von der ÖVP/FPÖ-Koalition auf dem Weg gebracht, von der auch ohne die „EU-14-Sanktionen“ die Problematik anzupacken gewesen wäre. Allerdings hätte sie dann wohl weniger auf Eile geachtet. Die Basis für die Korrektur vergangenheitspolitischer Mängel bildeten Gesetze. Lehnguth konzentriert sich daher vor allem auf die damit verbundenen parlamentarischen Debatten und die Begleit-Berichterstattung. Dabei fördert er beträchtliche Abweichungen in den inhaltlichen Zugängen und Begründungen zwischen den Parteien zu Tage. Darüber hinaus fanden Instrumentalisierungen statt: Ganz im Sinne ihrer bewährten Schuldabwehr-Strategie, bei der Holocaustopfer, Ausgebombte und vertriebene Volksdeutsche stets in einem Topf landeten, vermochte es die FPÖ bzw. das BZÖ als Regierungspartei von 2000 bis 2005 bzw. 2007, die Entschädigung und Rehabilitierung von NS-Opfern mit Zahlungen für „indirekte“ Opfer zu verknüpfen, etwa in Form einer Einmalzahlung an „Trümmerfrauen“.

Jubiläen lieferten ebenfalls Anlässe, die Statements zu Österreichs Verstrickung in den Nationalsozialismus erforderten. 1988 galt es fünfzig Jahren „Anschluss“ und Pogromnacht zu gedenken, 1995 dem Ende von Krieg und Nazi-Terror, aber auch dem vom Gros der Parteien betonten „Happy End“, der Gründung der Zweiten Republik. Um diese Ereignisse ging es auch im „Gedankenjahr“ 2005. Die ÖVP/FPÖ-Koalition ergänzte dieses Programm jedoch um zwei weitere Jubiläen – fünfzig Jahre Staatsvertrag und zehn Jahre EU-Mitgliedschaft. Im offiziellen Gedenken war dann viel von Opfern und vom Staatsvertrag als der eigentlichen Befreiung die Rede. Lehnguth bewertet das „Gedankenjahr“ als geschichtspolitischen Rollback in Richtung Opferthese.

Ein weiteres wichtiges Themenfeld, auf dem Lehnguth der Erinnerungskultur der Parteien im Spannungsfeld internationaler, nationaler, staatlicher und innerparteilicher Anforderungen nachspürt, sind Denkmal- bzw. Ausstellungskontroversen und ein Theaterskandal. Genauer behandelt werden die Kontroversen um das „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“ (Wien) 1983–1988, das Stalingrad-Denkmal (Pestschanka) 1992–1996, die Wehrmachtsausstellung(en) (Wien, Innsbruck, Klagenfurt, Linz, Graz, Salzburg) 1995–1999/2002, das Holocaust-Denkmal (Wien) 1994/95–2000, sowie um das „Haus der Toleranz“/„Haus der Geschichte“ (Wien) 1998/99 bis heute. Weil letzteres Projekt zwischen die parteipolitischen Fronten geriet, verliefen in den Nullerjahren gleich mehrere Anläufe zu einem Museum der neueren Geschichte Österreichs im Sand. Besonders interessant an dieser Kontroverse ist, dass zahlreiche Expert/innen vor allem aus der Zeitgeschichtsforschung und Politikwissenschaft, von denen sich manche nicht nur fachlich positionierten, involviert waren. Im Unterschied zu den hitzigen Debatten um das „Haus der Geschichte“ hatte die Kontroverse um die Burgtheater-Uraufführung von Thomas Bernhards Stück „Heldenplatz“ noch einem recht direkten Bezug zur Waldheim-Affäre. Was der Autor an diesem kulturpolitischen „Stellvertreterkrieg“ besonders deutlich nachzeichnet, ist der Einfluss, den einerseits die (konservative) Boulevardpresse auf die (Re)Aktionen der österreichischen Parteivertreter/innen auszuüben vermochte. Andererseits stand einer der längsten Applause in der Burgtheatergeschichte unübersehbar dafür, dass sich eine im Hinblick auf den Umgang mit dem Nationalsozialismus kritischer werdende Öffentlichkeit in Österreich formiert hatte.

Lehnguths Analysen beruhen auf vielfältigem gedrucktem Quellenmaterial, das von Geschäftsunterlagen des Parlaments, veröffentlichten Reden über die Parteipublizistik bis zur unabhängigen in- und ausländischen Presse reicht. Der Autor interviewte zudem fünfzehn Protagonist/innen der Parteien bzw. des Bürgerprotests, deren retrospektive Einschätzungen das Buch bereichern. Außerdem konnte er auf umfangreiche Sekundärliteratur zurückgreifen. Schließlich setzte der Strom der Publikationen zu unterschiedlichen Facetten des österreichischen Gedächtnisses in den 1990er-Jahren ein. Manches, worüber Lehnguth schreibt, kann daher auch anderswo nachgelesen werden. Allerdings fehlte bislang ein auf den konsequenten Vergleich der Parteien als wesentlichen Trägern des Vergangenheitsdiskurses angelegter Überblick.

Lehnguths umfangreiches Werk ist eine Tour de force durch ein wichtiges Kapitel jüngster österreichischer Politik. Die Gedächtniskultur war – wie so manches andere Politikfeld – in den letzten drei Jahrzehnten starken Globalisierungstendenzen ausgesetzt. Ob dies tatsächlich zu einer „Entaustrifizierung“ des Umgangs mit dem Nationalsozialismus im Sinne eines endgültigen Abschieds von der Opferthese geführt hat, wird vom Autor in seinem Resümee bezweifelt. Er geht eher von vordergründig-oberflächlicher Anpassung aus. Neben den großen Linien und Zusammenhängen, die nachgezeichnet werden, hat der Autor eine Fülle von Einzelheiten recherchiert, die das Buch zu einer Fundgrube für Hintergrundinformationen machen. (Geschichts-)Politik wird dabei als komplexes Zusammenwirken unterschiedlicher Interessen sichtbar. Das Buch ist zudem bevölkert von zahlreichen Akteuren und Akteurinnen aus Politik, Kultur, Medien und Wissenschaft, über deren Absichten, Hintergedanken, Parteilichkeiten und kleine Eitelkeiten das Lesepublikum allerhand erfährt. Dass es keine „gesichtslose“ Geschichte erzählt, ist einer der weiteren erwähnenswerten Vorzüge des Werks.

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