I. Noth (Hrsg.): Sigmund Freud – Oskar Pfister

Cover
Titel
Sigmund Freud – Oskar Pfister. Briefwechsel 1909–1939


Herausgeber
Noth, Isabelle
Erschienen
Anzahl Seiten
374 S.
Preis
€ 36,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Patrick Bühler, Pädagogische Hochschule, Fachhochschule Nordwestschweiz, Solothurn

Der Zürcher Pfarrer Oskar Pfister entdeckte dank C. G. Jung schon früh die Psychoanalyse. Seit seinem ersten Besuch in Wien 1909 stand Pfister mit Freud in Korrespondenz, und zwar bis zu dessen Tod 1939. Als es 1913 zum Bruch zwischen Freud und Jung kam, hielt er Freud die Treue. Trotzdem argwöhnte Freud zu Recht, dass der Pfarrer in seiner „Güte, die gerne alles Widerstrebende vereinigen möchte“, in „Jung’sche[] Verphrasung“ verfalle oder „der Armseligkeit von Adler immer noch zu viel Respekt“ zolle. Freud zweifelte, ob Pfister das „Schiboleth“ der Psychoanalyse meisterte, das sie von den Jungschen und Adlerschen Entwürfen schied: Er ärgerte sich „über den geringen Erfolg“ seiner „Bemühungen“, Pfister „in Sachen der Sexualtheorie zu bessern“ (S. 109, 121, 126, 191).1

Nur waren just Pfisters „Optimismus des guten Hirten“, sein „gütige[s] und schwärmerische[s] Wesen“, so Freud (S. 51, 54), die ihn technisch und theoretisch zu einem dubiosen Analytiker machten, gleichzeitig auch Teil seines Erfolgs: Der „Gottesmann“ – so Freuds Briefanrede (S. 54) – war ein ebenso begnadeter wie beseelter Werbefachmann. Mit der Zürcher psychiatrischen Klinik „Burghölzli“ unter der Leitung Bleulers und mit dem Genfer Institut Jean-Jacques Rousseau (Baudouin, Bovet, Claparède, Flournoy) war die Schweiz „Freuds erstes Land“ und Pfister einer seiner wichtigsten Missionare, auch zwischen den Landesteilen und darüber hinaus.2

Als Sendbote war Pfarrer Pfister vor allem in der Pädagogik außerordentlich erfolgreich. Unermüdlich meldete er Freud seine pädagogischen Publikationen, Referate, Triumphe. 1920 schreibt Pfister etwa: „In einer Stunde verreise ich nach Basel, um vor der Lehrerschaft im Bernoullianum einen Vortrag über Psychoanalyse und Schule zu halten. Es ist bereits der fünfte, den ich vor Lehrern dieses Jahr vom Stapel lasse“ (S. 146). Charmant attestierte Freud Pfister, dass er die „Anwendung der Analyse“ „auf die Pädagogik“ überhaupt erst „inauguriert“ habe (S. 223). „Die Pädagogen haben sehr vieles angenommen und von allen Seiten höre ich, wie die Analyse mehr und mehr ins Zentrum des Interesses einzieht“, so Pfisters eigene Einschätzung: „Die Theologen sind zu sehr in dummes Prinzipiengezänk verrannt, als dass sie sich um das seelische Wohl der Laien – und ihr eigenes! – viel kümmern wollten.“ (S. 221)

Die Korrespondenz zwischen Freud und Pfister wurde 1963 erstmals herausgegeben. Sie war neben den Briefen an Wilhelm Fließ und einer Auswahl von Briefen an verschiedene Empfänger die dritte Briefedition, die überhaupt unternommen wurde. Wie Freuds Sohn Ernst – einer der Herausgeber – en passant vermerkte, erschienen die Briefe „meist ungekürzt“ (die Auslassungen wurden immerhin gekennzeichnet), wobei es sich nur um eine „Auswahl“ handelte, die ohne weitere Kommentare vorgenommen worden war. Außerdem waren „Originale“ „verloren gegangen“, und Briefe teilweise „auf Pfisters Wunsch von Freud vernichtet“ worden.3 Vermutlich hieß Pfister Freud diese „Henkerarbeit“ verrichten, so Freud, weil in den Briefen von Pfisters „Libido- und Ehenot ein Wörtchen stand“ (S. 230). Isabelle Noth hat nun den Briefwechsel ein zweites Mal veröffentlicht. In der neuen Edition fallen nicht nur die von den ersten Herausgebern vorgenommenen Kürzungen weg, sondern die ausgewiesene Pfister-Expertin machte nach zweijähriger Suche zudem einen spektakulären Fund: Dank einer Fußnote in Peter Gays Freudbiographie entdeckte sie in einem englischen Archiv bisher unbekannte Briefe.4 Die neue Herausgabe ist daher sowohl für die Geschichte der Psychoanalyse als auch die der Psychoanalyse-Rezeption in Theologie und Pädagogik gleich doppelt von Belang. Die Edition erlaubt es nämlich, die ‚Verdrängung‘ der Herausgeber zu studieren, die 1963 gewisse anscheinend allzu alltägliche oder banale Mitteilungen strichen und vor allem lebende Personen schützen mussten, und gewährt neue aufschlussreiche Einblicke. So wusste man zwar von Pfisters Eheproblemen und auch die Querelen, die 1928 zu einer Spaltung der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse führten, waren in groben Umrissen bekannt. Die nun nicht mehr getilgten Stellen lassen jedoch sehr vieles genauer verstehen und bezaubern nicht zuletzt auch durch Freudsche Kraftausdrücke wie: „jenes Schwein, mit dem Sie in Ihrer Menschliebe viel zu gut waren“ (S. 72). Sensationell an der neuen Edition ist jedoch natürlich vor allem, dass 46 Briefe überhaupt erstmals publiziert werden, welche die ersten Herausgeber übergingen oder schlicht nicht kannten. Diese „neue Quellenlage“ verändert, wie Noth völlig zu Recht betont, auch „den Charakter der Korrespondenz inhaltlich“. Ob Pfisters Schwierigkeiten mit seinem Sohn, seine Einschätzung von Schweizer Kollegen (die er zum Teil analysierte), seine Diskussionen von zwei Fällen mit Freud oder die Streitereien, welche die Spaltung der Schweizerischen Gesellschaft begleiteten und deren Auslöser Pfisters unorthodoxe Analysen waren – die Edition hat viel Neues zu bieten und lässt insgesamt einen Pfister entdecken, der nun „viel mehr als ein aktiver Partner“ Freuds erscheint (S. 7f.).

Reizvoll am Austausch bleibt das überraschende Aufeinandertreffen zweier ziemlich ungleicher Briefpartner, über das vor allem Freud spottete: Der „heilige[] Mann“, der die Liebe beschwor, und der „böse[] Ketzer“ und „gottlose[] Jude[]“, dem es „vor der Mitwelt“ „graust[e]“ und seiner „Erfahrung“ zufolge nicht bestätigen konnte, dass die Liebe „auf dem Grund aller Dinge ruht“: Es „sei denn, man rechnete, was psychologisch richtig ist, den Haß dazu. Dann sieht aber die Welt gleich viel trübseliger aus.“ (S. 37, 62, 105, 155, 231) Grundlage der Korrespondenz war, in Freuds Worten, „daß wir einander Wahrheiten d. h. Grobheiten sagen und dabei gut mit einander bleiben“ (S. 154), was dreißig Jahre lang tatsächlich gelang. Freud und Pfister tauschten sich über Fälle aus, über Streitigkeiten innerhalb der psychoanalytischen Organisation – „die Politik verdirbt eben alles“, so Freud, „Charakter und Zentralblätter“ (S. 81) – und erörterten immer wieder auch theoretische Fragen. Während Freud etwa auf die Analyse der Übertragung drang (S. 64f.), wollte Pfister die „Uebertragung von allem Unechten reinige[n]“, eine Position, die Freud nur wenig goutierte: „[W]ie immer warmherzig sich der Analytiker auch gebärden mag, er kann es doch nicht übernehmen dem Analysanden Gott und die Vorsehung zu ersetzen“ (S. 241). Wenn Pfister meinte, dass Erziehung „sicher einen ethischen Sinn haben“ müsse, antwortete Freud, dass Analyse und Erziehung unterschiedliche Dinge seien: „Die zimperliche Sorge, ob nur dem Höheren im Menschen keinen Schaden geschieht, paßt nicht für den Analytiker.“ (S. 165, 167) Natürlich unterhielten sich die beiden auch über Religion, wobei Pfister hellsichtig kritisierte, dass Freuds „Religionsersatz im Wesentlichen der Aufklärungsgedanke des 18. Jahrh. in stolzer moderner Auffrischung“ sei (S. 238).

Die sorgfältige, klug annotierte Edition, die auch ein aufschlussreiches Vorwort, zusätzliches Material zur Spaltung der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse und Faksimiles von Briefen enthält und die nun endlich vermutlich sämtliche erhaltene Briefe ohne Kürzungen zugänglich macht, bietet also eine ebenso lehrreiche wie vergnügliche Lektüre.

Anmerkungen:
1 Vgl. Isabelle Noth, Freuds bleibende Aktualität. Psychoanalyserezeption in der Pastoral- und Religionspsychologie im deutschen Sprachraum und in den USA, Stuttgart 2010, S. 94–108.
2 Vgl. Anton M. Fischer, Sigmund Freuds erstes Land. Eine Kulturgeschichte der Psychotherapie in der Schweiz, Gießen 2013.
3 Ernst L. Freud / Heinrich Meng (Hrsg.), Sigmund Freud – Oskar Pfister. Briefe 1909 – 1939, Frankfurt am Main 1963, S. 5.
4 Sendung mit Isabelle Noth, „Hochgeehrter, lieber Herr Professor Freud“, Sonntag, 13. April 2014, Radio SRF 2, <http://www.srf.ch/sendungen/perspektiven/hochgeehrter-lieber-herr-professor-freud>, 14:50 (14.08.2014).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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