T. Nanz u.a. (Hrsg.): Das Undenkbare filmen

Cover
Titel
Das Undenkbare filmen. Atomkrieg im Kino


Herausgeber
Nanz, Tobias; Pause, Johannes
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
€ 26,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Baur, Philologisch-Historische Fakultät, Universität Augsburg

Der Titel des Sammelbandes „Das Undenkbare filmen“ ist angelehnt an das Diktum „Das Undenkbare denken“ („Thinking about the Unthinkable“) des US-amerikanischen Strategen und Politikberaters Herman Kahn, der in den 1960er-Jahren mit seinen Gedankenexperimenten über die Folgen eines globalen Atomkrieges für viel Furore sorgte. In Büchern wie „On Thermonuclear War“ (1960)1 argumentierte er, dass ein Atomkrieg nicht nur möglich sei, sondern auch gewonnen werden könne. Bis auf den heutigen Tag hat die Welt – abgesehen von den beiden Angriffen auf Hiroshima und Nagasaki und unzähligen Tests – auch die Krisenphasen des Kalten Krieges ohne einen atomaren Schlagabtausch überlebt. Der Ernstfall wurde aber in zahlreichen Filmen auf die Kinoleinwand projiziert.

Der vorliegende Band versammelt Fallstudien zu sechs Atomkriegsfilmen, die zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren erschienen sind. Das Auswahlkriterium, so schreiben die beiden Herausgeber Tobias Nanz und Johannes Pause in der Einleitung, sei nicht die Repräsentativität der Werke für das Genre des Atomkriegsfilms gewesen, sondern die „bemerkenswerte“ und „kreative“ Art und Weise, wie sich die Filmemacher mit den Problemfeldern Wissen, Macht und Medien im Kalten Krieg auseinandergesetzt hätten (S. 17). Mit diesen drei Aspekten ist das medien- und kulturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse des Buches umrissen. Unter Rückgriff auf Jacques Derridas provokanter Feststellung von 1984, der Atomkrieg sei als fiktionales bzw. virtuelles „Nicht-Ereignis“ zu analysieren, betrachten die Autoren den Kalten Krieg als diskursives Phänomen. Die untersuchten Filme werden nicht (in erster Linie) als Quellen für die zeitgenössischen Ängste und Hoffnungen im Kalten Krieg gelesen, sondern als Produzenten von Aussagen, denen eine für den Diskurs des Kalten Krieges konstituierende Rolle zugeschrieben wird. Im Zentrum der Analysen steht also nicht die Frage, wie authentisch bzw. realistisch die dargestellten Atomkriegsszenarien sind. Vielmehr wird beleuchtet, wie das Wissen vom atomaren Untergang instrumentalisiert wurde, welche gesellschaftlichen und politischen Ordnungsvorstellungen sich damit verbanden und wie die Medialität der Apokalypse in den Filmen (selbst-)kritisch reflektiert wird (S. 8f.).

Im ersten Beitrag untersucht Sascha Simons mit „The Atomic Café“ einen Film, der 1982 auf dem Höhepunkt der Debatte um den NATO-Doppelbeschluss für viel Aufmerksamkeit gesorgt hat. Der Found-Footage-Film ist eine Collage aus US-amerikanischen Propagandafilmen, Schlagern und Rundfunkberichten der 1950er- und 1960er-Jahre. Auf Basis einer ausführlichen und theorielastigen Kritik der Kritik kommt Simons zu dem Schluss, dass das kritische Potenzial des Films gerade in der sehr bewusst eingesetzten autoreflexiven Montagetechnik zum Ausdruck kommt. Zwar scheint die Erzählung sich zunächst an der Chronologie der historischen Ereignisse zu orientieren, die Montage erzeugt jedoch zunehmend Brüche im linearen Narrativ, wodurch die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Form gelenkt wird und die Rolle der Medien selbst in den Fokus rückt (S. 46).

Auch Pause weist in seiner Besprechung von Peter Watkins „The War Game“ auf die medienreflexiven Charakteristika hin. „The War Game“ ist in erster Linie als Zensurskandal in die Filmgeschichte eingegangen. Die Produktion der British Broadcasting Cooperation (BBC) war im Erscheinungsjahr 1965 als zu drastisch für eine Ausstrahlung im Fernsehen befunden worden und wurde erst 20 Jahre später gesendet. Dies konnte nicht verhindern, dass der Film trotzdem einen enormen Erfolg verbuchte und gerade für Abrüstungsbefürworter ein wichtiger Referenzpunkt war. Pause zeigt, dass der als Aufklärungswerk gefeierte Film gerade wegen seines Spiels mit den Sehgewohnheiten und den Konventionen des Fernsehens aufschlussreich für die Kultur- und Mediengeschichte des Kalten Krieges ist. „The War Game“ setzt sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formalästhetisch intensiv mit der britischen Zivilschutzrhetorik auseinander. Anstelle einer auktorialen Erzählweise, durch die Zivilschutzfilme Ordnung und Planbarkeit beschwören, wählte Watkins eine unmittelbare Kameraführung, die der Berichterstattung des Fernsehens gleicht und auf die Ereignishaftigkeit und Unkalkulierbarkeit eines Atomkrieges verweist (S. 71f.). „The War Game“ legt somit mit das Paradoxon offen, dass der atomare Weltuntergang in erster Linie medial existiert, jedoch im Ernstfall das Ende der Welt vom Fernsehen nicht mehr live (wie in „The War Game“) gezeigt werden würde.

Während „The War Game“ die Kamera konsequent auf den Ort der Katastrophe und die Opfer hält, richtet „Fail-Safe“ (1964) den Blick auf die Ohnmacht der Entscheidungsträger in Politik und Militär. Die symbolische Ordnung des Kalten Krieges und die Macht der Autoritäten gerät im Film außer Kontrolle, als ein Computerversagen zu einem automatischen Angriffsbefehl an die Atombomber-Flotte der US-amerikanischen Luftwaffe führt. Nach Überquerung eines vorher festgesetzten geografischen Koordinatenpunkts, eben jenes „Fail-Safe“ Points (wörtlich: Ausfallsicherung), setzt die Bomber-Staffel trotz Intervention des Präsidenten per Funk ihren Angriffskurs auf Moskau fort. Der Film stellt dadurch die sicher geglaubte, aber letztlich imaginäre Ordnung des Kalten Krieges infrage (S. 91f.). Der Präsident ist nicht mehr Oberbefehlshaber, an seiner Stelle übernimmt ein Computer die Macht. Anhand mehrerer Bespiele arbeitet Tobias Nanz diese Abhängigkeit von technischen Medien heraus. Selbst das sogenannte „Rote Telefon“, das den Staatschefs über den Eisernen Vorgang hinweg ermöglichen sollte, im Krisenfall Herr über die Situation zu bleiben, erfüllt im Film nur doch die Funktion, per Störsignal die Zerstörung Moskaus zu verkünden.

Barbara Wurm diskutiert mit „Briefe eines Toten“ ein sowjetisches Beispiel, das als Perestroika-Film 1987 auch international einen großen Erfolg feierte. Wurm skizziert den historischen Entstehungskontext und analysiert dann insbesondere die prägende Zeitstruktur des Films: Der briefeschreibende Hauptprotagonist Larsen hat den Atomkrieg in den Katakomben eines Museums überlebt, wird aber durch den Titel des Films als bereits toter Mann identifiziert. Regisseur Konstantin Lopuschanski inszeniert den atomaren Untergang nicht als Endzeit, sondern – in Anlehnung an Günther Anders und Giorgio Agamben – als „Zeit des Endes“ und somit als ein Gegenkonzept zur christlichen Eschatologie. Larsen ist im Film tot und lebendig zugleich und die Briefe sind ein Versuch, die Apokalypse zu widerlegen, die Endzeit endlos zu gestalten und somit Hoffnung auf ein Überleben zu generieren (S. 123f.).

Die letzten beiden Fallstudien beantworten die Frage, ob und wie ein Atomkrieg darstellbar ist, mit genau entgegengesetzten Lösungen. In Chris Markers Post-Apokalypse „La Jetée“ (1962) wird der Atomkrieg nur indirekt angesprochen. Mithilfe einer Zeitmaschine wird ein namenloser Protagonist in die Zukunft geschickt, um eine technische Lösung für die Vermeidung eines atomaren Weltuntergangs in der Vergangenheit zu finden. Überhaupt spielt das Vorher eine größere Rolle im Film als das Nachher – Lars Nowak dokumentiert die zahlreichen Verweise auf den Zweiten Weltkrieg und kommt zu dem Schluss, dass die pränukleare Welt in „La Jetée“ nicht das Gegen-, sondern Spiegelbild der postnuklearen Wüste darstellt (S. 141). Der Dritte Weltkrieg wird nur in Form von Umkreisungen und Erinnerungsfragmenten, letztlich aber als Leerstelle inszeniert, die mit spekulativem Wissen gefüllt wird (S. 152). Im Gegensatz dazu ist der zur Ikone des 20. Jahrhunderts avancierte Atompilz in „Crossroads“ allgegenwärtig. Der Film besteht komplett aus Archivmaterial der Operation Crossroad, einer Reihe von Atombombentests auf dem Bikini-Atoll im Juli 1946, die vom US-Militär als gigantisches Medienereignis organisiert worden waren. Eva Kernbauer argumentiert, dass Bruce Connors Film von 1976 die Inszenierung nicht kritisch seziert, sondern vielmehr die Faszination für die mushroom clouds durch visuelle und akustische Überhöhungen und Wiederholungen offen legt (S. 167). Gleichzeitig sieht Kernbauer darin einen kritischen Kommentar zu der massenhaften Verbreitung der Bilder von Atombombenexplosionen in der Konsumkultur der Nachkriegszeit.

Die Diskussion der Filme entlang der drei Problemfelder Wissen, Macht und Medien wird in den Beiträgen überzeugend verfolgt und detailliert belegt. Offen bleibt, warum zum Beispiel kein deutscher Film Eingang in die Auswahl gefunden hat. Das Buch leistet trotzdem einen wichtigen Beitrag für die (eher spärlich gesäte) deutschsprachige Forschungsliteratur zur Kulturgeschichte des Kalten Krieges. Es mag am geschichtswissenschaftlichen Blickwinkel des Rezensenten liegen, dass für ihn die Reduzierung des Kalten Krieges auf ein rein diskursives Problem doch etwas einseitig wirkt. Gerne hätte man noch mehr über die Produktionskontexte, die Historizität der einzelnen Werke, die zeitgenössische Rezeption und die Instrumentalisierung der Filme selbst, also die Folgen der „Fiktion des Krieges“ für die „Realität des Atomzeitalters“ (Derrida) gelesen. Insofern ist es dem Band als Verdienst anzurechnen, wenn sich am Ende der anregenden Lektüre viele neue Fragen und Perspektiven für einen interdisziplinären Austausch eröffnen.

Anmerkung:
1 Herman Kahn, On Thermonuclear War, Princeton 1960.

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